Die Etablierung kollektiv geteilter Deutungen und die Beurteilung von Wiedereingliederungsperspektiven im Betrieb sollen als sozialer Prozess analysiert werden, der sich innerhalb einer Situation im Sinne der EC vollzieht. Damit sind nicht einzelne Interaktionssituationen gemeint, sondern über den Zeithorizont einzelner Interaktionen hinausgehende „komplexe Konstellationen von Objekten, kognitiven Formaten, Koordinationserfordernissen (Problemen), institutionellen Arrangements (wie Organisationen), Personen und Konzepten“ (Diaz-Bone 2018, S. 375). Ziel ist es, die Konstellationen, unter denen das Arbeitsvermögen und die Wiedereingliederungsperspektiven beurteilt werden, „aus der Sicht der je in sie involvierten Akteure zu rekonstruieren“, um eine „pragmatische Innenansicht der Situation“ zu gewinnen (ebd., S. 377). Im Folgenden beschreibe ich die Probleme, die sich aus der Perspektive der beteiligten Personen (Betroffene, Vorgesetzte, BGM- und Personalverantwortliche) angesichts der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit von Beschäftigten sowie anschließender Wiedereingliederungsverfahren stellen. Ich gehe auf weitere Elemente der Situation ein, wie die Kategorien und kognitiven Formate, in denen Gesundheitsprobleme konzipiert werden, wie auch die institutionellen Arrangements, die für die Beurteilung von Wiedereingliederungsmöglichkeiten innerhalb der Unternehmen relevant sind.

Analytisch lassen sich drei zentrale Momente ausmachen: die Offenlegung der Erkrankung am Arbeitsplatz, die Entwicklung von Erklärungen der Problemsituation und die Aushandlung von Perspektiven der Wiedereingliederung. Am Beispiel von Simon Rohner (Abschn. 5.1) soll veranschaulicht werden, welche Fragen und Handlungsprobleme aus der Perspektive der verschiedenen Akteurinnen in diesem Prozess relevant sind und wie Deutungen und Wiedereingliederungsperspektiven zwischen den beteiligten Akteuren ausgehandelt werden. Die in Abschn. 5.1 präsentierte Rekonstruktion des kollektiven Deutungsprozesses ist ein Beispiel für eine Fallanalyse nach dem in Abschn. 4.6 beschriebenen Vorgehen. Zur Fallanalyse hinzugefügt habe ich analytische Hinweise auf die zentralen Momente des Deutungs- und Aushandlungsprozesses, auf die ich in den Abschn. 5.2 bis 5.4 anschließend separat eingehe.

1 Das Fallbeispiel Simon Rohners

Simon RohnerFootnote 1 ist Mitarbeiter einer IT-Abteilung und zum Interviewzeitpunkt 57 Jahre alt. Er beginnt seine Erzählung mit den folgenden Worten:

Also für mich liegt das eigentlich zurück, … ich bin ziemlich genau vor einem Jahr in eine härtere Depression hineingegangen. […] UND ja, dann ist bei mir wirklich ziemlich alles weggeknickt, eigentlich.Footnote 2

Mit der Formulierung, dass bei ihm „wirklich ziemlich alles weggeknickt“ ist, bringt Simon Rohner den in diesem Moment erlittenen Kontrollverlust über seinen Alltag zum Ausdruck. Simon Rohner leidet an Schlafstörungen, kann sich nicht mehr konzentrieren und stellt fest, dass er bei der Arbeit Fehler macht. Die Symptome fallen mit dem Jahresabschluss zusammen – eine Zeit, in der die Fehlertoleranz in seinem Tätigkeitsbereich gering ist. Rückblickend sieht er die vielen Fehler, die er in dieser Zeit bei sich feststellt, als Anlass, seinen Hausarzt aufzusuchen und sich krankschreiben zu lassen. Mit der Krankschreibung befreit er sich aus der ihm unerträglich scheinenden Situation, dass seine Leistungsfähigkeit den Maßstäben nicht genügt. Handlungsbedarf bezüglich Offenlegung und Problematisierung einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit entsteht also wie das Beispiel zeigt im Kontext spezifischer Arbeitsbedingungen.

Auf den direkten Vorgesetzten Yves Meier wirkt Simon Rohner während der Zeit vor der Krankschreibung abwesend und ausgelaugt. Er deutet dies als „normale“ Erschöpfung und nimmt sich vor, ihm Ferien vorzuschlagen. Die Nachricht, dass er für mehrere Wochen ausfällt, weil er in den Worten Yves Meiers „mit einem Burnout zu kämpfen hat“, trifft ihn unerwartet. Yves Meier befürchtet, dass die Erkrankung einen Zusammenhang mit der Arbeit hat:

ist es der Druck bei der Arbeit, der irgendwie den Hauptausschlag gegeben hat? Ja, einfach so eine gewisse Leere hat das gegeben und auch Ängste, dass man … auch Verursacher, oder mitschuldig ist, an dieser Situation

Wie sich an dieser Aussage zeigt, können psychische Erkrankungen von Beschäftigten aus der Perspektive von Vorgesetzten Unklarheiten, Verunsicherungen und sogar Schuldgefühle mit sich bringen.

Noch während seiner Abwesenheit wird Simon Rohner vom BGM-Verantwortlichen Felix Siegrist kontaktiert. Im Interview berichtet er, dass er zwar überlegt hat, das Angebot abzulehnen, weil er sich nicht auf die BGM-Unterstützung angewiesen sah. Zunächst ist er gegenüber dem BGM skeptisch eingestellt und mutmaßt, dass dieses primär die Arbeitgeberinteressen vertritt. Es ist zu vermuten, dass er eine Kategorisierung als „BGM-Fall“ zudem als stigmatisierend empfindet. Dennoch trifft er sich dann regelmäßig mit Felix Siegrist und erwähnt, dass er positiv durch dessen „einfühlsame Art“ überrascht war. Der Vorgesetzte Yves Meier empfindet die Involvierung des BGM als Entlastung. Das BGM sei „keine Kontrollabteilung“, argumentiert er. Felix Siegrist, der BGM-Verantwortliche, informiert ihn regelmäßig über den gesundheitlichen Zustand Simon Rohners und die nächsten Schritte der medizinischen Behandlung.

In Gesprächen mit Felix Siegrist und mit seinem Therapeuten spricht Simon Rohner über die Gründe für seine Depression:

wenn man jetzt schaut, wo sind die Ursachen, das ist jeweils noch schwierig, aber ich glaube mit der Zeit, (haben) wir jetzt eigentlich schon, wo die Ursachen sind. Also ich habe familiär SEHR eine schwierige Situation gehabt

Auch der BGM-Verantwortliche Felix Siegrist erinnert sich:

ich habe die Situation mit ihm angeschaut und gemerkt, es ist nicht so eindeutig, ... was los war. Von der Arbeit her, habe ich gemerkt, kann es fast nicht sein ... er hat einen Vorgesetzten, der sehr zuvorkommend ist und auch Rücksicht nimmt und das Möglichste getan hat, und so in den Gesprächen drinnen habe ich gemerkt, dass er eine GANZ schwierige, oder, das hat er klar gesagt gehabt, eine schwierige private Situation hat.

Beide unterscheiden zwischen privaten und beruflichen Ursachen und stellen fest, dass die Depression hauptsächlich durch eine schwierige Situation im Privatleben bedingt war. Felix Siegrist untermauert diese Interpretation mit den Qualitäten des Vorgesetzten. Er argumentiert, qua Ausschlussprinzip, bei einem so „zuvorkommenden“ Vorgesetzten könne die Depression nicht auf die Arbeit zurückzuführen sein. Simon Rohner zieht zwar in Zweifel, dass es eine einzige Ursache geben kann, doch wird die Erklärung durch eine „private Belastungssituation“ zur dominanten Auslegung, auf die später auch der Vorgesetzte Yves Meier verweist. Anlässlich seines Wiedereinstiegs nach ein paar Wochen klärt Simon Rohner seinen Vorgesetzten über die vermutete Hauptursache auf. Dieser empfindet die Erklärung über private Ursachen als eine „Erleichterung“, da sie ihn von potenzieller Mitschuld an der Erkrankung entlastet. Damit ist eine kollektive Deutung der Problemsituation etabliert, die auch für den weiteren Verlauf der Wiedereingliederung von Bedeutung ist.

Auf Anraten des behandelnden Arztes wird vereinbart, dass Simon Rohner mit einem Teilzeitpensum, das schrittweise erhöht wird, wieder in die Arbeit einsteigt. Felix Siegrist weist den Vorgesetzten Yves Meier darauf hin, man dürfe Simon Rohner auf keinen Fall „Druck machen“. Im Gespräch anlässlich seines Wiedereinstiegs informiert Simon Rohner seinen Vorgesetzten, dass er sein Teilzeitpensum flexibel handhaben will. Je nach seinem Schonbedürfnis und seiner psychischen Verfassung möchte er entscheiden, wie lange er arbeitet. Die beiden diskutieren zudem mögliche Anpassungen von Aufgaben, etwa ob er seine Funktion als stellvertretender Teamleiter abgeben soll. Yves Meier erinnert sich, Simon Rohner habe es für unnötig befunden, Verantwortungen abzugeben. Weitere Arbeitsanpassungen, die in seinem Bereich möglich wären, etwa die Reduktion von Komplexität der Aufgaben sowie von Stress, werden gar nicht diskutiert. Simon Rohner begründet den Verzicht auf solche Anpassungen rückblickend mit der Deutung, dass seine psychische Belastungssituation nicht durch die Arbeit verursacht gewesen sei, er nimmt also Bezug auf die kollektiv etablierte Deutung der Hauptursache seiner Erkrankung.

Im Gespräch informiert er seinen Vorgesetzten außerdem, dass er vor hat, sich „normal einzubringen“. Yves Meier erinnert sich, dass Simon Rohner ihm mitgeteilt habe, keine „Sonderbehandlungen“ zu wollen. Mit dem dezidierten Verzicht auf einen besonderen Status signalisiert Simon Rohner also, dass er bereit ist, sich wieder in die alte Ordnung einzufügen. Mit seinem Einverständnis hat der Vorgesetzte das Team über seine Krankheit und die geplante Wiedereingliederung informiert. Dieses zeigt sich durch die Situation verunsichert und fragte den Teamleiter, was es im Umgang mit dem wiederkehrenden Kollegen zu beachten gebe. Yves Meier kommuniziert Simon Rohners Verzicht auf einen Sonderstatus an das Team weiter und weist es an, so „weiterzumachen wie vorher“.

Als er wieder zurückgekommen ist, haben auch die Kollegen so gefragt, JA, wie können wir jetzt mit dem Simon umgehen, oder müssen wir auf irgendetwas achten und dort habe ich mit ihm schon vereinbart oder hat er schon gefunden, hey, nix Sonderbehandlung, ... wenn jemand wissen will, was passiert ist, kann man Auskunft geben, das war wichtig und denke ich, ist sehr zentral, dass man nicht die Person dann irgendwie auf Rosen bettet und immer schön durch chauffiert durch alle Problematiken, ist jetzt zum Glück auch vom Simon selber ausgekommen, da habe ich das gar nicht groß ansprechen müssen. Aber das ist schon auch ein wichtiger Punkt. Es ist okay, wenn man bei der Arbeit zurücksteckt, aber es ist dann nicht okay, wenn es ewige Sonderbehandlungen gibt oder spezielle Privilegien, die dann für die anderen wirklich nicht mehr nachvollziehbar sind.

Er geht ausführlich darauf ein, dass das Team das Wiedereingliederungsarrangement für Simon Rohner akzeptiert und als „win-win“-Situation angesehen habe. Auf der einen Seite konnte Simon Rohner demnach für seine berufliche Rehabilitation von seinem reduzierten Pensum profitieren, auf der anderen Seite stand dem Team zumindest ein Teil seiner Arbeitskraft wieder zur Verfügung. Die Notwendigkeit, die Akzeptanz des Teams für das Eingliederungsarrangement zu gewinnen, wird vor dem Hintergrund von Yves Meiers Schilderungen der konstanten Überlastung des Teams verständlich, in dem gleichzeitig noch weitere Mitarbeitende ausgefallen sind und das Pensum erkrankter Teammitglieder von den verbleibenden Kollegen abgedeckt werden muss. Insofern erscheint das Teilzeitpensum aus der Sicht von Yves Meier als rechtfertigungsbedürftig. Simon Rohners „Zurückstecken“ bei der Arbeit konfligiert außerdem mit der Arbeitskultur des IT-Bereichs, in der Leistung ein zentraler Wert ist, wie auch mit dem Prinzip der Gleichbehandlung. Yves Meier sagt retrospektiv, Simon Rohners expliziter Verzicht auf einen Sonderstatus sei für ihn eine Erleichterung gewesen. Hätte er einen solchen beansprucht, wäre der Konflikt zwischen dem Prinzip, Schutz zu gewähren und dem Erfordernis, im Team Akzeptanz für das Schutzbedürfnis zu schaffen, grösser geworden.

Seinen Vorsatz, auf „Sonderbehandlungen“ zu verzichten, setzt Simon Rohner im Verlauf der Wiedereingliederung auch um. So nutzt er sein Teilzeitpensum flexibel, wie es seinem Erholungsbedürfnis entspricht, was bedeutet, dass er auch mal mehr arbeitet, als mit dem Arzt vereinbart ist. Seine Abwesenheiten trägt er in den für alle zugänglichen Outlook-Kalender ein. Yves Meier lobt die darin zum Ausdruck kommende Leistungsbereitschaft und Arbeitsmotivation. Simon Rohner erklärt sich auch bereit Sondereinsätze (Piquet-Dienst) zu leisten, was er mit einem Pflichtgefühl gegenüber dem Team begründet. Durch diese Haltung sichert er sich nicht nur die – von seinem Vorgesetzten hervorgehobene – Akzeptanz des Teams für sein Teilzeitpensum, sondern er wirkt auch der durch die Krankheit verursachten Erschütterung seiner Identität entgegen, indem er sich weiterhin als leistungsfähig und belastbar präsentiert. Mit seinem durch eine Depression bedingten Ausfall bricht sein leistungsstarkes Selbstbild zusammen, was er in einer Metaphorik der Gewalt als „brutal“ und als „Schlag“ beschreibt. Zudem spürt er, dass sein sozialer Status beschädigt wurde. Dies zeigt sich unter anderem darin, wie er die Reaktion mancher Kollegen wahrnimmt, die ihm nicht mehr dieselbe Leistungsfähigkeit zutrauen wie zuvor:

Also es hat LEUTE hier drin, wo ich heute spüre, ich kann mit denen nicht mehr ((haut auf den Tisch)) so umgehen, dass sie sich sagen, ich bin früher so ein bisschen ein Typ gewesen, wo man gefunden hat, der Rohner ((haut auf den Tisch)), wenn der sagt, der macht es, dann läuft es. Du kannst es gleich vergessen. Das LÄUFT mit gewissen Leuten nicht mehr.

Zum Zeitpunkt der Interviews liegt die ärztlich festgeschriebene Teilarbeitsfähigkeit Simon Rohners bei 80 %. Yves Meier hält im Interview fest, seine Leistungsfähigkeit liege aktuell bei 80 %. Er spezifiziert, dass dies auf dessen Selbsteinschätzung beruhe, die er ihm vor Kurzem im jährlichen Mitarbeitergespräch mitgeteilt habe. Nach Yves Meiers Einschätzung wäre sie leicht höher anzusetzen. Begründet habe Simon Rohner diese 80 % damit, dass er sich nicht einbringt, wenn es Diskussionen oder Streitpunkte im Team gibt. Yves Meier argumentiert, dass auch andere das nicht tun. Die geringere Leistung Simon Rohners falle für ihn kaum noch ins Gewicht, denn auch andere leisteten nur 90 %, trotz eines Vollzeitpensums. Simon Rohner habe eben früher 110 % geleistet. In diesen Aussagen zeigt sich die geringe Rolle, die das ärztlich definierte Teilzeitpensum in der Wiedereingliederung von Simon Rohner zu spielen scheint. Für den Vorgesetzten scheint es nicht ins Gewicht zu fallen, dass er offiziell 20 % krankgeschrieben ist, weil seine Leistung nach seiner Einschätzung ähnlich ist wie diejenige von Vollzeitangestellten. Simon Rohner spürt aber die Erwartung von Seiten der Firma, wieder Vollzeit zu arbeiten. Er dagegen möchte sich das Teilzeitpensum noch weiter erhalten, um seine zeitliche Anwesenheit am Arbeitsplatz bei Bedarf „zurückfahren“ zu können. Angesichts eines möglicherweise bevorstehenden Vorgesetztenwechsels im Zusammenhang mit einer Umstrukturierung erscheint es aber aus Yves Meiers Sicht nötig, dass Simon Rohner wieder Vollzeit arbeitet, damit von der Problematik zumindest äußerlich nichts mehr wahrnehmbar ist. Die Aufrechterhaltung von Simon Rohners bescheidenem Schonraum erscheint also durch die Reorganisation gefährdet.

2 Problematisierung von Symptomen und Diagnosen

Simon Rohner aus dem Fallbeispiel 5.1 lässt sich krankschreiben und legt seine Diagnose gegenüber seinem Teamleiter und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement offen. Damit es im Betrieb zu einer Thematisierung der psychischen Belastungssituation oder Erkrankung eines Beschäftigten kommt, muss diese zunächst als solche wahrgenommen und offengelegt werden. Die Wahrnehmung, Offenlegung und Problematisierung psychischer Krankheitssymptome am Arbeitsplatz ist ein komplexer sozialer Vorgang, der durch verschiedene Akteure und Bedingungen beeinflusst wird. Primär hängt dieser Prozess von den betroffenen Beschäftigten ab: Inwiefern erfahren sie sich als gesundheitlich angeschlagen? Unter welchen Bedingungen thematisieren sie ihre Situation am Arbeitsplatz oder lassen sich krankschreiben? Wenn sich Beschwerden in der Wahrnehmung der Betroffenen zu einer Krise oder zur Vermutung, an einer Erkrankung zu leiden, verdichten, stellt sich ihnen die Frage, wie sie weiter damit umgehen, ob und bei wem sie Hilfe suchen, ob sie ihre Beschwerden am Arbeitsplatz offenlegen oder ob sie sie so lange wie möglich ignorieren. Wenn Beschäftigte ihre Symptome verdrängen, dann kann eine Problematisierung im Betrieb auch durch das Umfeld initiiert werden. Im folgenden Abschnitt gehe ich auf die Wahrnehmung von Symptomen durch die Betroffenen selbst ein.

2.1 Psychische Erkrankungen als leibliche Erfahrung

Entgegen einem verbreiteten Laienverständnis äußern sich psychische Erkrankungen nicht als rein „mentale“ Phänomene, sondern auch in starken Emotionen, Affekten und körperlichen Reaktionen (Busfield 2000, S. 546 f.). Stefanie Graefe (2015, S. 17) stellt ihm Rahmen von Interviews mit Personen, die eine Erschöpfungsdepression erlitten, fest, dass es sich dabei um eine „eminent leibliche Erfahrung“ handelt, die für die Betroffenen erst durch nachträgliche Deutungsarbeit zur sinnhaften Erfahrung wird. In der Erschöpfung manifestieren sich ihr zufolge Dimensionen der Subjektivität, die den Betroffenen auf rationaler Ebene nicht vollständig zugänglich sind und von deren körperlicher oder emotionaler Äußerung sie sich überrumpelt fühlen. Diese „leibliche“ Dimension der Erschöpfung zeigt sich auch in den Erfahrungen der für die vorliegende Studie interviewten Beschäftigten:

Es ist ein Morgen gewesen, es ist eigentlich eine interessante Szene gewesen. Ich bin im Büro gehockt, wir haben bei uns automatische Fensterlädensysteme, also wenn die Sonne kommt, gehen die Läden runter. Und das ist so der Moment gewesen, das vergesse ich nie mehr, an diesem Freitagmorgen gehen diese Läden runter, und dann ... da hat es mir gerade abgelöscht. (Lars Flury, IT -Mitarbeiter)

Der Betroffene bringt das Wahrnehmen der ersten Symptome seiner psychischen Erkrankung mit dem Bild automatisch herunterfahrender Fensterläden in Verbindung: schlagartig ist er vom Sonnenlicht abgeschnitten und gleichzeitig erlischt sein Antrieb. Ein anderer Betroffener erlebt zunächst ausschließlich körperliche Symptome:

Ich bin aufgewacht an dem Tag und dann ging es mir wirklich, also mir gings körperlich wirklich beschissen, ich habe mega Bauchweh gehabt, und habe eigentlich im ersten Moment gedacht, ja, vielleicht etwas Falsches gegessen, so Magendarm und eben, ich habe mich dann auch zu übergeben angefangen, also typische Übelkeitssyndrome. (Ugo Mantovani, Sachbearbeiter)Footnote 3

Die Symptome körperlichen Unwohlseins gleichen denjenigen einer Magendarmgrippe und werden vom Betroffenen zunächst so eingeordnet: er meldet sich mit dieser Begründung von der Arbeit ab. Eine andere Interviewte leidet unter starken Ängsten, die sich auch auf körperlicher Ebene, in Sehstörungen und Anfällen von Schwäche äußern. Wegen dieser starken körperlichen Symptome meldet sie sich von der Arbeit ab:

[…] mit der Mutter bin ich [zur Firma] gelaufen, ich laufe jeden Morgen mit ihr, also ich bin am Laufen gewesen und auf halbem Weg habe ich ihr gesagt, ich kann NICHT.... sie, WARUM? Ich habe, ich, NEIN, … mir ist so, mir ist SCHWARZ vor den Augen gewesen und ich habe wieder gezittert und mir war schlecht und alles, da hat sie mich halt wieder nach Hause geschickt. (Irina Cerny, Produktionsmitarbeiterin)

Die Interviewte, die in derselben Firma wie ihre Mutter arbeitet und auch mit ihr zusammenlebt, verliert durch ihre Beschwerden im körperlichen Sinn ihre Handlungs- und damit auch ihre Arbeitsfähigkeit: sie kann nicht mehr sehen, weil ihr schwarz vor den Augen wird, sie kann sich nicht fortbewegen, weil sie zittert und ihr schlecht ist.

Einige Interviewte nehmen ihre Erkrankung zunächst anhand starker Emotionen, Affekte und körperlicher Beschwerden wahr, die im doppelten Sinn als „negativ“ gelten: Zum einen sind sie für diejenigen, die sie erleben, unangenehm bis schwer auszuhalten, zum anderen sind sie hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bewertung negativ besetzt. Depressionen, die Diagnose, die die Mehrheit der Interviewten erhält, wird in der internationalen Klassifikation der Krankheiten der Gruppe der „affektiven Störungen“ zugeordnetFootnote 4. Als gestörte Affekt- und Empfindungslage nehmen auch einige Betroffene ihre Situation wahr. Sie erwähnen ihre Irritation darüber, nicht über die gewohnten Energien zu verfügen und ihre Emotionen nicht wie üblich unter Kontrolle zu haben. Die erlebten emotional-affektiven Zustände entsprechen nicht den Gefühlsnormen, die in ihrem Arbeitsbereich oder für ihre Stellung im Betrieb gelten und können ihrerseits weitere negativ besetzte Emotionen wie z. B. Scham auslösen (Thoits 2004). Die in den Zitaten geäußerten affektiven und körperlichen Erfahrungen – Antriebslosigkeit, Handlungsunfähigkeit und Übelkeit – werden mit fehlender Motivation oder Ablehnung verbunden, also mit Haltungen, die gegenüber Arbeitgebern nicht als wünschenswert gelten.

Nach Alain Ehrenbergs Analyse im Werk „Das erschöpfte Selbst“ ist die Depression eine Pathologie der Unzulänglichkeit angesichts der gesellschaftlichen Erwartung an die Autonomie und Eigeninitiative der Einzelnen:

Die Depression zeigt uns die aktuelle Erfahrung der Person, denn sie ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten. Die Depression ist eher eine Krankheit der Unzulänglichkeit als ein schuldhaftes Fehlverhalten, sie gehört mehr ins Reich der Dysfunktion als in das des Gesetzes: Der Depressive ist ein Mensch mit einem Defekt. (Ehrenberg 2004, S. 31)

An diese Überlegungen anschließend lässt sich argumentieren, dass der Verlust der Handlungsfähigkeit auch von den Betroffenen des Samples als irritierender und erklärungsbedürftiger „Defekt“ ihres Selbst erlebt wird. Gerade am Arbeitsplatz gehört die Bekräftigung einer positiven Einstellung zum Arbeitsumfeld und der Arbeit zu den erwarteten Emotionen. Das Erleben der eigenen Handlungsunfähigkeit ist für die Betroffenen mit Unbehagen und Unsicherheit verbunden, wie die folgende Aussage von Ugo Mantovani zeigt:

Da habe ich mich dann irgendwie auch in so ein Loch selber rein manövriert, ... wo ich mir das dann auch irgendwie teilweise ... glaub auch selber eingere- ja, also weißt du so ... ja wie sagt man so schön? Man kann sich eben auch Schmerzen einreden, so, irgendwie, ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll, aber so ... das ist jetzt, eben dass es mir jetzt wirklich too much ist, also ... ja, ... weil eben, man sagt dann immer so, ja, es ist ja nichts passiert bei dir, also ich habe auch hier oftmals so, ja, es ist ja nichts passiert, und ich so, ja, schon, ich kann jetzt hier nicht sagen, meine Eltern sind gestorben oder sonst irgendetwas, das man ... es ist einfach so, also ich weiß auch nicht genau, warum.

Seinen negativen Gefühlszustand beschreibt Ugo Mantovani über die Formulierung, er sei in einem „Loch“. Dass er sich in diesem Gefühlszustand befand, schreibt er mit den Ausdrücken „rein manövrieren“ und „einreden“ seinem eigenen Verschulden zu. Im zweiten Teil des Zitats nimmt er die Perspektive von zweifelnden Außenstehenden ein, die ihm vorhalten, bei ihm sei schließlich „nichts passiert“. Aus der Perspektive des sozialen Umfelds, so mutmaßt Ugo Mantovani, existiert kein triftiger Grund, der seine Niedergeschlagenheit erklären würde. Er fügt an, dass es einen eindeutigen Grund tatsächlich nicht gegeben habe – als Beispiel nennt er den Tod der Eltern. Implizit geht er von der Erwartung aus, dass es seine Pflicht gewesen wäre, seine negativen Emotionen entweder über einen allgemein nachvollziehbaren und akzeptierten Grund zu erklären oder sie zurückzuhalten, also entsprechende Emotionsarbeit zu leisten.

Wenn es nicht gelingt, negative Emotionen zu verbergen, kann sich dies in der Tat als nachteilig für die Betroffenen erweisen. Erwartungen an Emotionsarbeit sind mit sozialen Hierarchien verknüpft und gerade von hierarchisch Untergeordneten wird erwartet, negative Emotionen zu unterdrücken (Langner et al. 2012). Wer als Angestellter negative Affekte und Emotionen zeigt, kommt demnach unter Zugzwang, sich erklären zu müssen und allenfalls seine trotz allem bestehende positive Haltung zur Firma zu bekräftigen.Footnote 5 Auch wenn Ugo Mantovani seine Emotionen in retrospektiver Sicht beschreibt und sich im Rückblick mit dem Unverständnis des sozialen Umfelds konfrontiert, ist zu vermuten, dass die Antizipation eines fehlenden Verständnisses des Umfelds auch im Moment der ersten Wahrnehmung und Einordnung seiner Emotionen bereits eine Rolle spielte.

Depressionen gelten als affektive Störungen. Für die Interviewten stehen jedoch reale Erfahrungen hinter ihren negativen Emotionen und Affekten. In der Emotionssoziologie werden negative Emotionen als affektive Dimension von sozialen Prozessen der Abwertung bzw. hierarchischen Unterordnung verstanden. Negative Emotionen können durch eine Infragestellung des Selbstbilds einer Person ausgelöst werden (Bericat 2016, S. 499 ff.), sie lassen sich aber auch als Ausdruck einer niedrigen sozialen Position und somit als konstitutiver Bestandteil gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse interpretieren. Sandra Matthäus (2017) versteht im Anschluss an Pierre Bourdieu Affekte und Emotionen als praktische, im Zuge der Primärsozialisation inkorporierte Formen der Selbstevaluation. Die negativen emotional-affektiven Zustände der Interviewten stehen z. T. im Zusammenhang mit der Erfahrung, dass die eigene Identität oder soziale Position infrage gestellt wird, oder auch mit direkten Erfahrungen von Ohnmacht oder Minderwertigkeit. Die oben bereits zitierte Irina Cerny erwähnt die Beziehung zu ihrem Ex-Freund, in der sie sich selbst „vernachlässigt“ und nicht „an die erste Stelle“ gestellt habe. Lars Flury deutet seine Erkrankung ebenfalls im Kontext einer zerbrochenen Liebesbeziehung, er erwähnt aber auch „Treiber“ am Arbeitsplatz, darunter einen „Machtkampf“ mit einem Kollegen, den er als bedrohlich erlebte. Noch gravierender war es für ihn, mitzuerleben, wie seinem Chef aufgrund eines Konflikts mit einem neuen Vorgesetzten gekündigt wurde. Die Kündigung war nach seinem Empfinden unfair und offenbarte den Charakter der „Großfirma“ als „Haifischbecken“. „Ich will NICHT mit 40 an so einem Punkt stehen müssen, weil DANN fällst du dann wirklich tief, tiefer ins Loch.“ Die seinem Chef zugefügte Herabsetzung führte ihm die Unsicherheit eines in der Firma errungenen Status vor Augen und stellte seine eigenen Aspirationen infrage: „Das regt einen als junger … und ambitionierter Mensch … auf … und BREMST einen auch.“ Die von den Betroffenen erlebten negativen Emotionen und Affekte lassen sich zwar nicht als primärsozialisatorisch internalisierte Formen der Selbstevaluation interpretieren, sondern treten für sie eher unerwartet auf und entsprechen nicht der habitualisierten Weise wie sie sich zu fühlen gewohnt sind. Nichtsdestotrotz können diese Erfahrungen der Abwertung, Ohnmacht und des Ausgeliefertseins zu psychischen Leiden beitragen und durch biografische wie auch betriebliche Konstellationen Dauerhaftigkeit erlangen.

2.2 Medizinische Problematisierung und Zugzwänge der Offenlegung

Das Erleiden von Symptomen stellt Betroffene vor die Frage, ob sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Ebenso kann die Wahrnehmung solcher Symptome für das Umfeld ein Anlass sein, den Betroffenen eine ärztliche Abklärung nahezulegen. Für die Art und Weise, wie es im Betrieb zu einer Problematisierung der Krankheitssymptome kommt, spielt zunächst die Wahrnehmung und Selbsteinschätzung der Betroffenen eine entscheidende Rolle: Gehen sie von körperlichen Beschwerden aus oder antizipieren sie die Diagnose einer psychischen Erkrankung? Sehen sie sich überhaupt als gesundheitlich eingeschränkt an? Die Entscheidung, sich krankschreiben zu lassen, ist nach Voswinkel (2017b, S. 97) „das Ergebnis eines Aushandlungs- und Abwägungsprozesses des Patienten zwischen sich selbst, dem Arzt und dem betrieblichen und privaten Kontext.“ Für den Vorgang der Problematisierung spielen die Reaktionen des Umfelds eine Rolle: Inwiefern geben Akteurinnen aus dem Umfeld den Betroffenen das Gefühl, dass ihre Niedergeschlagenheit einer legitimen Grundlage entbehrt und als anormal anzusehen ist? Inwiefern forcieren sie eine (medizinische) Abklärung der Symptome?

Linienvorgesetze befinden sich bezüglich der Thematisierung von Krankheitssymptomen in einem Dilemma zwischen der Wahrnehmung ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Betroffenen und der Aufrechterhaltung des Alltagsbetriebs. Eine Problematisierung und damit verbundene Eskalation läuft ihrem Interesse zuwider, die Arbeitsabläufe nicht zu unterbrechen. Umgekehrt haben sie das Bedürfnis, sich abzusichern, Verantwortung abzugeben und das Problem an Professionelle, BGM-Verantwortliche oder Ärztinnen zu delegieren. Damit sie die Symptome ihrer Mitarbeitenden von sich aus problematisieren, muss ein gewisser Handlungsdruck bestehen. Je indirekter und subtiler sie die Symptome von Beschäftigten wahrnehmen, desto mehr Spielraum haben sie, diese zumindest für eine gewisse Zeit zu ignorieren. In einigen Fällen haben Vorgesetzte kein Interesse, die Symptome psychischen Leidens anzusprechen, weil sie den Ausfall einer Arbeitskraft nicht vorsätzlich herbeiführen oder weil sie eine Thematisierung psychischer Überlastungen vermeiden wollen. In anderen Fällen ziehen sie die Interpretationsfolie der psychischen Erkrankung in der Deutung des Verhaltens ihrer Mitarbeitenden schlicht nicht in Betracht (Baer et al. 2011).

Mit einer ärztlichen Diagnose und Krankschreibung geht eine Problematisierung des Gesundheitszustands der Betroffenen im Betrieb einher. Einige Interviewte berücksichtigen dies in ihrer Entscheidung, ob bzw. wann sie zum Arzt gehen. Simon Rohner aus dem Fallbeispiel 5.1 ist sich über einen längeren Zeitraum bewusst, dass es ihm psychisch nicht gut geht. Dennoch zögert er, sich krankschreiben zu lassen. Da psychische Erkrankungen gesellschaftlich nach wie vor negativ besetzt sind, werden die Betroffenen im Fall, dass eine Diagnose gestellt wird, zu potenziell „Diskreditierbaren“, die die Information ihrer Diagnose mittels „Techniken der Informationskontrolle“ managen müssen (Goffman 2012[1967]). Unter „Stigma“ versteht Erving Goffman eine Eigenschaft, die für eine bestimmte Kategorie von Personen „zutiefst diskreditierend“ ist (ebd., S. 11). Ist eine solche Eigenschaft nicht direkt ersichtlich, so handelt es sich bei den Betroffenen um „diskreditierbare“ Personen. Für sie stellt sich im Rahmen sozialer Interaktionen das Problem der Informationskontrolle und des Stigma-Managements: „Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; rauslassen oder nicht rauslassen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo.“ (ebd., S. 56). Die Offenlegung von Krankheiten am Arbeitsplatz kann besonders dann riskant sein, wenn es sich – wie bei psychischen Erkrankungen – um Diagnosen mit mehrdeutigen oder unsichtbaren Symptomen handelt: es besteht die Gefahr eines Simulationsverdachts und der Verweigerung unterstützender Maßnahmen (Charmaz 2010; Voswinkel 2017b, S. 102 ff.). Wird eine psychische Erkrankung diagnostiziert, müssen die Betroffenen dieses für Außenstehende unsichtbare Stigma managen. Entscheidungen über die Zurückhaltung oder Offenlegung einer Diagnose betreffen nach Irvine (2011a, S. 183) die Frage, ob man am Arbeitsplatz erstens überhaupt etwas offenlegen soll, zweitens wann und wie, drittens was und wie viel und viertens gegenüber wem (vgl. Abschn. 2.3.4).

Wie sich im Datenmaterial zeigt, bleibt für die Betroffenen gegenüber bestimmten betrieblichen Akteurinnen nur ein eingeschränkter Spielraum der Informationskontrolle. In anderen Worten sehen sie sich unter starkem Druck, gegenüber bestimmten Akteuren, sowie relativ bald, nachdem die Arbeitgeberin die Mitteilung ihrer Krankschreibung erhalten hat, ihre Diagnose offenzulegen. Eigentlich haben Arbeitgeberinnen gesetzlich kein Anrecht, die Diagnose zu erfahren. Aus einer mehrwöchigen Krankschreibung ergeben sich für die Betroffenen jedoch Erklärungszwänge: aufgrund der längeren Dauer fallen Bagatellerkrankungen wie eine Grippe oder Erkältung als mögliche Ursachen weg. Über einen Unfall oder einen Routineeingriff, so eine verbreitete Annahme, würden Angestellte ihren Arbeitgeber vorbehaltslos informieren. Zudem ist die Dauer psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit oft schlecht absehbar, was zu wiederholter mehrwöchiger Krankschreibung führt und für die Firma Planungsunsicherheit verursacht. Allein um in dieser Situation das Wohlwollen von BGM-Verantwortlichen und Vorgesetzten nicht zu verlieren, fühlen sich die interviewten Beschäftigten veranlasst, diesen ihre Diagnose mitzuteilen. Darüber hinaus wird die Offenlegung von Seiten der Betriebe teilweise auch eingefordert: Vorgesetzte und BGM-Verantwortliche nehmen mit Langzeitkrankgeschriebenen Kontakt auf und versuchen, möglichst viel über deren Situation in Erfahrung zu bringen (vgl. Abschn. 5.3). Simon Rohner ist sich dessen bewusst und zögert möglicherweise aus diesem Grund seine Krankschreibung so lange hinaus, wie es für ihn erträglich ist.

Nach Kate Toth und Carolyn Dewa (2014) entscheiden sich Beschäftigte nur dann zur Offenlegung ihrer psychischen Probleme am Arbeitsplatz, wenn sie aufgrund eines Anlasses dazu gezwungen sind. Die Entscheidung zur Offenlegung bzw. die Entscheidung, sich krankschreiben zu lassen, ist, wie Kathy Charmaz (2010, S. 13) zeigt, durch die Möglichkeiten beeinflusst, den Arbeitsalltag trotz Krankheitssymptomen zu bewältigen: „The ability to control timing, flow, and amount of work influence whether someone’s condition is disabling and whether he or she needs to disclose.“ Entscheidungen über die Offenlegung sind ihr zufolge oft durch den Wunsch motiviert, dass Arbeitsabläufe und -aufgaben an die gesundheitliche Situation angepasst werden. Sie erfolgen damit unter dem Druck betrieblicher und ökonomischer Eigenlogiken, wie etwa eines steigenden Arbeitsvolumens. Besteht hingegen genug Spielraum, Krankheitssymptome zu managen, sehen die Betroffenen keine Notwendigkeit, ihre Krankheit am Arbeitsplatz offenzulegen. Simon Rohner und andere Interviewte treffen die Entscheidung zur Offenlegung der Erkrankung zwar weniger aufgrund von rationalen Kosten-Nutzen-Abwägungen, doch scheinen die Arbeitsbedingungen eine zentrale Rolle für die Entscheidung zu spielen, sich krankschreiben zu lassen. Simon Rohner arbeitet trotz wochenlanger Erschöpfungssymptome normal weiter. Eine Krankschreibung wird für ihn erst dann unumgänglich, als kurz vor Jahresabschluss die letzten Systemänderungen schnell und fehlerfrei umgesetzt werden müssen. In dieser Zeit wird seine Erschöpfung durch Schlafprobleme verschärft:

dann ist für mich auch der Moment gekommen, wo ich gefunden habe, ich kann nicht mehr arbeiten. […] ich habe dann Anfang Dezember noch viele Changes gemacht, und da ist mir richtig bewusst worden, also ich bin hier [am Arbeitsplatz] gewesen, […] und dann habe ich mich einfach selber ein bisschen beobachtet und gemerkt, hey Junge, jetzt machst du, jetzt machst du einfach FEHLER. JETZT MACHST DU FEHLER. Und dann generell eigentlich schon gespürt, jaa, ja. Ich bin einfach, ich bin überhaupt nicht mehr leistungsfähig, ich bin nicht mehr konzentrationsfähig, und dann habe ich gemerkt, jetzt kannst du zu Hause bleiben. Und dann habe ich via Hausarzt auch mit einem Psychiater zu arbeiten angefangen und dann haben wir auch klar gefunden, MACHT keinen Sinn.

Simon Rohner beschreibt den Moment, in dem er sich seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit bewusst wurde, szenisch ausgeschmückt. Er war am Arbeitsplatz und hat angefangen „sich selbst zu beobachten“. Dabei hat er festgestellt, dass er Fehler macht. Das Wort Fehler betont er durch seine Stimmlage und durch die Wiederholung in einem zweiten Satz. Den Umstand, in diesem Moment Fehler zu machen, lässt er damit als gravierend erscheinen. Der letzte Ausweg, in dieser Situation noch verantwortungsbewusst zu handeln, liegt für ihn darin, sich krankschreiben zu lassen, um sich gewissermaßen selbst unschädlich zu machen. Simon Rohners Arbeitsrealität ist geprägt von Perfektionismus, hohem Zeit- und Leistungsdruck, langen Arbeitstagen und gelegentlich Arbeit auf Abruf sowie Nachtarbeit. Diese Arbeitsbedingungen sind in der Phase vor dem Jahresabschluss zusätzlich verschärft. Konnte er bis anhin trotz seiner Konzentrationsschwierigkeiten die Leistungserwartungen erfüllen, misslingt ihm nun das Management der Erschöpfungssymptome. Gegenüber der Aussicht, Fehler zu begehen, zieht er es vor, sich durch eine Krankschreibung vom Handlungsdruck entlasten zu lassen, auch wenn er damit das Stigma einer psychischen Diagnose in Kauf nehmen muss. Sein Hausarzt und der Psychiater, mit denen er, in einer ungewöhnlichen Formulierung, „zu arbeiten“ begonnen hat, bestätigen seine Einschätzung („macht keinen Sinn“) und liefern eine medizinische Objektivierung seiner Unzulänglichkeit.

Ärztliche Zeugnisse führen zwar zu einer Objektivierung der krankheitsbedingten Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Zugleich objektivieren sie aber auch die Hilfsbedürftigkeit und bringen das Stigma einer psychischen Diagnose mit sich, die wie oben ausgeführt, zumindest gegenüber Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen in der Regel offengelegt wird. Für Simon Rohner fällt die durch eine Krankschreibung legitimierte Entlastung vom Handlungsdruck stärker ins Gewicht. Es gibt aber auch Betroffene, die trotz heftiger Symptome auf eine Krankschreibung verzichten. Zwei Interviewte legten gegenüber ihren Vorgesetzten offen, dass es ihnen psychisch nicht gut ging, als sie von diesen bezüglich des Verfehlens von Leistungszielen kritisiert wurden. Die Vorgesetzten verzichteten daraufhin auf unmittelbare sanktionierende Maßnahmen. Gegenüber dem Status, den eine ärztliche Krankschreibung verleiht, sind diese Betroffenen jedoch stärker der Willkür und dem Wohlwollen ihrer Vorgesetzten ausgeliefert, die nicht verpflichtet sind, auf ihre Situation Rücksicht zu nehmen (Kap. 8 und 9).

Beschäftigte, die zunächst vor allem akute körperliche Symptome wahrnehmen (vgl. Abschn. 5.2.1), haben dagegen weniger Spielraum abzuwägen, ob und wann sie sich krankschreiben lassen wollen. Im Sample werden vier der neun interviewten Betroffenen von ihren Krankheitssymptomen gewissermaßen überwältigt. Für sie geht das Auftreten der Symptome mit einem schlagartigen Verlust der Handlungsfähigkeit einher und veranlasst sie bzw. ihr Umfeld, sofort ärztliche Hilfe zu suchen. Der IT-Mitarbeiter Lars Flury erinnert sich: „ich habe das gar nicht richtig gecheckt, was mit mir passiert, ich habe einfach gefunden, macht irgendetwas, es ist nicht mehr gut. Aber mir war bewusst, dass ich Hilfe brauche.“ Dass ihre Beschwerden Symptome einer psychischen Erkrankung sein könnten, ist diesen Betroffenen zunächst nicht bewusst, weil sie unter akuten körperlichen Beschwerden leiden. Die Produktionsmitarbeiterin Irina Cerny ist zunächst überzeugt, dass sie eine körperliche Krankheit hat und wird von der psychischen Diagnose, die am Ende einer langen medizinischen Abklärungskette steht, überrascht:

Dann bin ich von einem Arzt zum anderen, ich musste in die Röhre, den Kopf haben sie mir angeschaut. Also bevor ich in die Röhre bin, bin ich zu einer Neurologin, in [A-Stadt], ich bin sogar zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, wegen dem Gleichgewicht, vielleicht stimmt da etwas nicht. Ist ALLES gut gewesen, dann zum Herz-Spezialisten […] aber nein, von A bis Z ist bei mir ALLES gut gewesen. Also ORGANISCH jetzt. Und der Hausarzt wusste langsam auch nicht mehr weiter, und das ist, (1) vier Monate ist das so gegangen. Nein, zwei oder drei. Und dann hat mir der Hausarzt gesagt, also er hat mir ein Schächtelchen gegeben mit Antidepressiva. Und ich, NEIN, ich nehme das NICHT, also, ich bin nicht, habe keine DEPRESSIONEN. Und er hat gesagt, wenn organisch alles gut ist, dann ... ja. Tue es ihm leid, dass er das sagen muss, aber wahrscheinlich PSYCHISCH dann.

Das Zitat veranschaulicht den stigmabehafteten Charakter der Diagnose einer psychischen Erkrankung. Die Interviewte unterzieht sich einer langwierigen Reihe aufwändiger und mühsamer medizinischer Abklärungen. Eine psychische Erkrankung wird erst in Erwägung gezogen, nachdem sich auf organischer Ebene keine Auffälligkeiten gezeigt haben und der Hausarzt quasi im Ausschlussverfahren auf eine psychische Ursache schließt. Den Moment der Mitteilung der Diagnose schildert die Interviewte szenisch: der Hausarzt überreicht ihr wortlos eine Schachtel mit Antidepressiva. Die Wortlosigkeit unterstreicht den Tabucharakter der Diagnose, ebenso wie die darauffolgende Abwehrreaktion der Interviewten, sie habe keine Depressionen. Dann spricht der Arzt den vermuteten Diagnosetyp aus, begleitet von einer Bekundung seines Bedauerns.

In anderen Fällen geht die Problematisierung von Krankheitssymptomen nicht von den Betroffenen, sondern von deren Umfeld aus. Zwei Interviewte vermeiden es über längere Zeit, ihre Symptome als Anzeichen einer Erkrankung wahrzunehmen. Zu einer Problematisierung ihres Zustandes kommt es auf Initiative ihres Arbeitsumfelds und die Betroffenen wehren sich anfänglich dagegen. Der Kundenberater Erich Müller erkennt im Rückblick über den Zeitraum von fast einem Jahr Symptome, die auf seine psychische Erkrankung hindeuteten: Freudlosigkeit, plötzlich auftretende Weinkrämpfe, Ess- und Schlafstörungen und mehrere kleine Autounfälle. Trotz des Leidensdrucks nimmt er sich nicht als krank wahr. Er hat den Eindruck, etwas „stimme nicht“ mit ihm, aber er sucht keine Hilfe. Bei der Arbeit habe er einerseits „alles sauber erledigt“, andererseits erinnert er sich an verlegte Akten und vergessene Termine. Dieser vermeintliche Widerspruch wird vor dem Hintergrund des Jobprofils eines Kundenberaters verständlich. Diese haben zwar einen Arbeitsplatz in der Firma, erledigen ihre Arbeit aber weitestgehend individuell und selbständig. Kundinnen treffen sie oft außerhalb der Firma. Die Leistungskontrolle erfolgt nicht primär prozess-, sondern ergebnisorientiert, d. h. anhand der erzielten Verkaufszahlen. Erich Müllers Konzentrationsschwierigkeiten wirken sich in dieser Zeit nicht gravierend auf seine Verkaufserfolge aus und aufgrund der selbständigen Arbeitsweise fällt sein verschlechterter Zustand dem Arbeitsumfeld nicht auf. Zudem bietet seine Tätigkeit mit der Möglichkeit zur freien Zeiteinteilung viel Spielraum für das Management der Krankheitssymptome. Der im Beruf des Kundenberaters gepflegte Erfolgskult trägt außerdem dazu bei, dass Leistungsfähigkeit eine identitätsstiftende Funktion erhält (Voswinkel 2017b, S. 99 f.) und Krankheit als individuelle Schwäche erscheint, woraus sich eine Neigung zu „Krankheitsverleugnung“ (Kocyba und Voswinkel 2007) ergibt. Erst als sich sein Zustand drastisch verschlechtert und er in den Worten der Personalverantwortlichen am Arbeitsplatz „ausrastet“, wird sein Vorgesetzter auf das Problem aufmerksam. Auf Drängen des betrieblichen Gesundheitsmanagements lässt er sich ärztlich untersuchen und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die Krankheitsdefinition wird somit an ihn herangetragen.

Während Vorgesetzte sich bezüglich Wahrnehmung und Problematisierung der Symptome von Mitarbeitenden in einem Dilemma zwischen Aufrechterhaltung des Alltagsbetriebs und rechtzeitigem Ergreifen von Maßnahmen befinden, forcieren die Verantwortlichen des Gesundheitsmanagements eine fachärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, sobald sie in einen Fall involviert werden. Wichtig ist es aus ihrer Sicht, dass sich Beschäftigte mit psychischen Problemen behandeln lassen, um optimal auf ihre Genesung und den Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit hinzuarbeiten. Das „Aufbieten zum Arzt“ sei eine Führungsaufgabe, hält eine BGM-Verantwortliche des Industriebetriebs fest. Im Bemühen, die aus ihrer Sicht angemessene medizinische Versorgung für die Beschäftigten sicherzustellen, geht die Komfortia am weitesten: Infolge des gehäuften Auftretens von Burnouts und Depressionen in der Belegschaft hat das Unternehmen mit einer psychiatrischen Klinik in der Hauptsitzregion ein Abkommen geschlossen, das seinen Beschäftigten innerhalb von wenigen Tagen einen Termin für eine psychotherapeutische Sitzung garantiert. Die medizinische Problematisierung von psychischen Symptomen ist damit auf der institutionellen Ebene verankert. Im Industriebetrieb ist die Problematisierung der psychischen Beschwerden von Beschäftigten auf informeller Ebene etabliert. Laut der Erzählung des Personalchefs gehört es zu den inoffiziellen Aufgaben der betriebsinternen Physiotherapeutin, sich als „eine Art Vertrauensperson“ mit den Beschäftigten über deren Gesundheitszustand auszutauschen. Sie wahre dabei das „Arztgeheimnis“ und „coache“ die Betroffenen zugleich, sich gegenüber ihren Vorgesetzten zu „outen“. Damit zielt der Betrieb auf eine systematischere Problematisierung psychischer Krankheitssymptome ab.

3 Plausibilisierung und die Entwicklung von Interpretationen

Die Offenlegung einer psychischen Erkrankung wirft für die Betroffenen und andere betriebliche Akteurinnen Unklarheiten und Fragen nach Verantwortlichkeiten auf. Anhand der medizinischen Problemdefinition, die in der Form einer Diagnose und der Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit vorliegt, lassen sich diese Unklarheiten und Fragen nicht vollständig klären. Beispielsweise ist unklar, wie lange mit einem Ausfall der Betroffenen zu rechnen ist und ob sie an ihrem Arbeitsplatz wieder einsatzfähig sein werden. Gerade Linienvorgesetzte sind deshalb an genaueren Erklärungen zu den Umständen der Erkrankung interessiert, aus denen sich Perspektiven der weiteren Beschäftigung ableiten lassen. Je nach Situation hegen Vorgesetzte oder HR-Verantwortliche Zweifel, inwiefern die Dauer einer Krankschreibung tatsächlich medizinisch gerechtfertigt ist und den Betroffenen ihre Arbeitsaufgaben nicht doch wieder zumutbar wären. Sie verlangen nach weiteren Informationen, die die Legitimität des Leistungsausfalls „plausibilisieren“: In den Worten eines Personalverantwortlichen geht es um eine „Plausibilisierung, dass das realistisch ist. […] oder ja, vielleicht auch die Chancen, dass das wieder gut kommt“. Das Ausmaß und die Dauer des Leistungsausfalls müssen angesichts der gestellten Diagnose und der sichtbaren bzw. dem Arbeitgeber kommunizierten Symptome überzeugen. An der Ausarbeitung, Kommunikation und Verfestigung solcher Plausibilisierungen und Erklärungen sind neben den Betroffenen und Vorgesetzten die BGM-Verantwortlichen der drei Unternehmen wesentlich beteiligt. Durch die Beratung von Betroffenen tragen sie aktiv zur Entwicklung und Verbreitung von Deutungen bei (Gonon 2019).

3.1 Die Frage der Legitimität des Leistungsausfalls

Obwohl eine Arbeitsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest den Status von Objektivität und Legalität erhält, wird sie nicht in allen Fällen als legitim angesehen. Dem Arbeitsplatz fernzubleiben und gleichzeitig zur Verrichtung gewisser Aktivitäten in der Lage zu sein, ist für die Betroffenen mit einer „moralischen Arbeit“ der Legitimierung verbunden (Flinkfeldt 2011; Hanisch und Solvang 2019). Die Betroffenen des Samples zweifeln zuweilen selbst daran, inwiefern die ärztliche Einschätzung ihre tatsächliche Arbeitsfähigkeit widerspiegelt. Da sich das ärztliche Urteil bei psychischen Erkrankungen oft auf die Aussagen und Selbstwahrnehmungen der Betroffenen stützt, mag die ärztlich festgelegte Arbeitsunfähigkeit nicht als objektive Tatsache, sondern als subjektiv und damit durch eine Willensanstrengung theoretisch überwindbar erscheinen. Um den Eindruck einer rein subjektiven Arbeitsunfähigkeit abzuwenden, berichtet Simon Rohner im Interview, dass sein Arzt sich in der Festlegung seiner Teilarbeitsfähigkeit zwar am Bedürfnis nach Schonung orientiert, das er selbst äußert. Er betont aber, dass der Arzt trotzdem unabhängig von ihm entscheide. Die Vorstellung, dass der Arzt seiner subjektiven Selbstwahrnehmung den Status von Objektivität und rechtlicher Verbindlichkeit verleiht, ist Simon Rohner sichtlich unangenehm.

Die hier erkennbare Rechtfertigungshaltung ist verständlich vor dem Hintergrund, dass einige interviewte Führungskräfte die Angemessenheit ärztlich definierter Arbeitsunfähigkeiten anzweifeln. Bei psychischen Erkrankungen, die für Außenstehende weniger deutlich erkennbar sind als körperliche Krankheiten, wird Arztzeugnissen von Seiten der HR- oder BGM-Verantwortlichen besondere Skepsis entgegengebracht. Mehrere Personalverantwortliche beklagen sich darüber, dass Ärztinnen zu stark für die erkrankten Beschäftigten Partei nehmen oder werfen ihnen vor, so genannte „Gefälligkeitszeugnisse“ auszustellen.

Wie Nicolas Dodier (1994) herausgearbeitet hat, greifen Ärzte in der Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit auf unterschiedliche Deutungsrahmen (bzw. lokale Konventionen) zurück. Einen „clinical frame“ einnehmend suchen sie nach objektiven Symptomen, über die sich eine Arbeitsunfähigkeit begründen lässt. Symptome reichen aber, so Dodier (1994, S. 492), oft nicht aus, um eine Arbeitsunfähigkeit zu rechtfertigen. Deshalb versuchen Ärztinnen anhand des Verhaltens ihrer Patienten, herauszufinden, was deren „Strategie“ ist, d. h. inwiefern sie darauf abzielen, durch eine Krankschreibung Privilegien zu erhalten. Ärzte können ihre Patientinnen aber auch auf eine andere Weise in den Blick nehmen: im „solicitude frame“ betrachten sie die Äußerung gesundheitlicher Beschwerden als vorbehaltsloses Problemsymptom, dessen Legitimität außer Frage steht.

Aus der Perspektive der Arbeitgeber stellt eine ärztliche Krankschreibung einen gesetzlich legalen Weg dar, das vertraglich vereinbarte Tauschverhältnis von Lohn gegen Arbeitskraft temporär zu unterlaufen. Als „Gatekeeper“ zu einer arbeitsrechtlich bindenden Arbeitsfähigkeit verfügen Ärzte somit über die Macht, dieses Tauschverhältnis vorübergehend außer Kraft zu setzen. Dementsprechend sind Arztzeugnisse Gegenstand von Zweifeln und expliziter Kritik von Arbeitgeberinnen. Besonders bei psychischen Erkrankungen kommt leicht der Verdacht auf, eine Krankschreibung erfolge allein auf der Grundlage subjektiver Beschwerden. Betriebliche Akteurinnen unterstellen also zuweilen, dass eine Krankschreibung nach dem von Dodier beschriebenen ‚solicitude frame‘ erfolgt ist.

HR- und BGM-Verantwortliche versuchen auf verschiedene Weisen, die ärztliche Definition von Arbeitsunfähigkeit zu beeinflussen. Zum einen weisen sie Arztzeugnisse zurück, die in formaler Hinsicht nicht ihren Erwartungen entsprechen. So akzeptieren sie keine Krankschreibungen auf unbestimmte Zeit, sondern verlangen, dass die gesundheitliche Situation der Betroffenen regelmäßig neu beurteilt wird. Zudem versuchen sie, den Ärztinnen im persönlichen Kontakt die Tätigkeit der betroffenen Beschäftigten näher zu beschreiben und ersuchen sie darum, die Beschäftigten zumindest teilarbeitsfähig zu schreiben (vgl. Irvine 2011b), damit sie in Teilzeit an den Arbeitsplatz zurückkehren können.

Auch wenn die Überprüfung der Legitimität von Leistungsausfällen in der Selbstwahrnehmung der meisten interviewten BGM-Verantwortlichen nicht an erster Stelle kommt, gehört es zu ihrer Rolle abzuklären, inwiefern die Betroffenen tatsächlich arbeitsunfähig sind. Die interviewten BGM-Verantwortlichen berichten, dass sie einerseits darauf achten, dass die Betroffenen lange genug krankgeschrieben sind, um sich auszukurieren. Andererseits stellen sie sicher, dass sie ihrem Arbeitsplatz nicht länger als nötig fernbleiben. Verhindert werden soll, dass Beschäftigte die Leistungen des Unternehmens wie Krankentaggelder und Wiedereingliederungsaktivitäten ausnutzen könnten.

Die Prüfung der Legitimität von Leistungsausfällen ist über das so genannte Absenzenmanagement in der institutionellen Struktur des BGM verankert. Dieses dient der zentralen und systematischen Erfassung und Analyse der Dauer und Gründe der Abwesenheiten von Beschäftigten. Im Absenzenmanagement ist eine kritische Anzahl Abwesenheitstage pro Zeitraum definiert, ab denen Beschäftigte kontaktiert werden müssen.Footnote 6 Neben Langzeitabwesenheiten werden zudem auffällige Muster im Abwesenheitsverhalten verfolgt, wie die Häufung von kürzeren Absenzen, die als Warnzeichen in Bezug auf die psychische Gesundheit gelten. Das Absenzenmanagement lässt sich mit den Begriffen der Soziologie der Konventionen als kognitives Format beschreiben, über das Krankheitsfälle im Unternehmen als problematisch erkannt und sichtbar gemacht werden (Nadai et al. 2019, S. 145; Gonon 2022) und aus dem Handlungsbedarf für das BGM abgeleitet wird. Mit der systematischen Erzeugung von Handlungsbedarf für alle Absenzen ab einer bestimmten Dauer wird aber zugleich die Überprüfung der Legitimität dieser Leistungsausfälle institutionalisiert und systematisiert.

3.2 Kontaktpraktiken des BGM: Unterstützung und Informationsbeschaffung

Durch den direkten Austausch, den sie mit erkrankten Beschäftigten pflegen, haben die BGM-Verantwortlichen ausgiebig Gelegenheit, sich ein Bild von deren Zustand zu machen. Wenn Beschäftigte für längere Zeit krankgeschrieben werden, nimmt das BGM persönlichen Kontakt mit ihnen auf und bietet ihnen Beratung und Begleitung an. BGM-Verantwortliche erkundigen sich regelmäßig bei den Krankgeschriebenen nach ihrem Befinden und dem Stand der medizinischen Behandlungen. Manche verlangen sogar Vollmachten, die sie berechtigen, bei den behandelnden Ärztinnen Auskünfte über die gesundheitliche Situation der Beschäftigten einzuholen. Einige bieten den Beschäftigten an, sie zur Psychotherapie zu begleiten oder gehen so weit, sie in der psychiatrischen Klinik oder zu Hause zu besuchen. Sie überschreiten damit die traditionelle Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben, weshalb Voswinkel (2017b, S. 101) diese Praktiken als problematische Form der „Entgrenzung“ bezeichnet.

Die Beschäftigten haben zwar offiziell das Recht, den engeren Kontakt während der Zeit ihrer Krankschreibung abzulehnen. Ein paar interviewte Betroffene weisen die Versuche von BGM-Verantwortlichen, mit ihren Therapeuten Kontakt aufzunehmen oder sie in der Klinik zu besuchen, denn auch erfolgreich zurück. Wenn man jedoch gar nicht auf die Kontaktversuche des Betriebs eingeht, kann dies einen negativen Eindruck hinterlassen, der sich auf die Bereitschaft der Beteiligten, eine Wiedereingliederung zu unterstützen, auswirkt. Ähnlich verhält es sich mit dem Angebot der BGM-Beratung: während einige Betroffene dieses Angebot an sich schätzen, erwähnen zwei Interviewte, darunter Simon Rohner (Fallbeispiel 5.1), dass sie das Angebot zunächst ablehnen wollten, sich aber dann umentschieden haben.

Das folgende Zitat des BGM-Verantwortlichen Felix Siegrist ist beispielhaft für das Vorgehen des BGM in der Begleitung kranker Beschäftigter, das diese nicht nur als Beschäftigte, sondern „ganzheitlich“ in den Blick nimmt. Felix Siegrist erzählt vom Fall des Kundenberaters Bruno Ramseier, der ohne Erklärung für ein paar Wochen an seinem Arbeitsplatz ausfiel:

Als ich ihn kennen gelernt habe, respektive mir der Vorgesetzte gesagt hat, ... ich solle doch mal mit ihm Kontakt aufnehmen, habe ich Herrn Ramseier daheim angetroffen in desolatem Zustand so ein bisschen, ein bisschen versifft, Kühlschrank leer, total leer, mit, mit Magenbeschwerden, mit Angst, es könne irgendwo ein Darmkrebs da sein

Die Beschreibung des BGM-Verantwortlichen lenkt den Blick auf Bruno Ramseiers Überforderung mit der Bewältigung der basalsten Anforderungen der alltäglichen Lebensführung. Er ist in „desolatem Zustand“ und „versifft“, scheint also Minimalstandards der Körperpflege nicht zu erfüllen. Der leere Kühlschrank, in den Felix Siegrist offensichtlich hineingeschaut hat, deutet darauf hin, dass Bruno Ramseier seine Ernährung vernachlässigt. Zudem wird Bruno Ramseier von Beschwerden und Ängsten geplagt, die nach der Einschätzung von Felix Siegrist übertrieben sind oder gar von Paranoia zeugen. Felix Siegrist stellt zudem Alkoholprobleme fest: Bruno Ramseier habe sich zwar „vorgenommen, irgendetwas zu machen, aber dann hat er sich wieder auf der Couch gefunden und die Flasche neben sich.“ Damit beschreibt Felix Siegrist eine Reihe von Beobachtungen und Problemen, die nicht in den traditionellen Zuständigkeitsbereich von Arbeitgebern fallen. In der Begleitung Bruno Ramseiers greift das BGM in Bereiche der privaten Lebensführung ein und vermittelt ihm darüber hinaus einen Therapieplatz bei einem Psychologen in einer Klinik.

Felix Siegrist gelingt es, Bruno Ramseier in der Bewältigung bestimmter akuter Probleme seines Lebensalltags zu unterstützten, darunter auch, seine Aufgaben als Kundenberater wieder wahrzunehmen (vgl. Abschn. 9.1.2). Gleichzeitig erlaubt der Einblick in die Privatsphäre der Beschäftigten, ein differenziertes Bild über deren Problemlage zu gewinnen und die gewonnen Informationen in die betriebliche Beurteilung ihres Falls und ihrer Wiedereingliederungsperspektiven einfließen zu lassen. Dies kann für die Betroffenen sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich bringen. Im Fall von Bruno Ramseier setzt sich der BGM-Verantwortliche bei den Vorgesetzten und dem Personalmanagement für eine milde Beurteilung des erfolgten Leistungseinbruchs ein und argumentiert, dass dessen private Probleme von vorübergehender Natur seien.

Ein Informationsaustausch zwischen der Vorgesetzten und der BGM-Verantwortlichen findet auch im Fall des Sachbearbeiters Ugo Mantovani statt. Nach einer längeren Krankschreibung und einem Wiedereinstieg in die Arbeit kommt es wiederholt zu kürzeren Absenzen. Seine Vorgesetzte Gerda Rensch wendet sich jeweils an die BGM-Verantwortliche Nicole Schreiber, die Ugo Mantovanis Wiedereingliederung begleitet hat und weiterhin ein vertrauliches Verhältnis mit ihm pflegt. Die Vorgesetzte berichtet:

Beim Ugo ist es klar gewesen, dort ist sie immer dabei gewesen, dort hat sie immer begleitet, dort hat sie einen auch zwischendrin mal gefragt, und wie geht es? Dort habe ich dann jeweils auch zurückgespiegelt, du, jetzt hat er wieder zwei Tage gefehlt oder jetzt hat er wieder drei Tage gefehlt und dann hat sie gesagt, komm, ich gehe mal wieder rauchen mit ihm, oder, dann ist sie, hat sie wieder Pause gemacht mit ihm, aber ich glaube, sie hat auch nichts herausgefunden, sonst hätte sie mich wahrscheinlich informiert. Ja. Also die Gespräche mit der Nicole sind auch vertraulich, aber wenn natürlich eine Person dann einwilligt und sagt, doch ... sie sei einverstanden, dass man mit mir redet, dann macht die Nicole das in der Regel auch und gibt mir in der Regel auch ein Feedback dann, oder. Aber sie hat eigentlich gesagt, du, es ist nichts Spezielles.

Die Vorgesetzte rechtfertigt in diesem Interviewauszug die Weitergabe von Informationen durch das BGM mit dem Einverständnis des Betroffenen. Inwieweit man im Kontext des hierarchischen Verhältnisses zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten von einer freien Einwilligung sprechen kann, lässt sich bezweifeln. Das Zitat belegt deutlich, dass die BGM-Verantwortliche gezielt auf die Anfrage der Vorgesetzten Kontakt mit Beschäftigten aufnimmt und sie über die Resultate ihrer Erkundigungen über mögliche Probleme und Ursachen des Abwesenheitsverhaltens informiert. Auch wenn sie mit der Aussage, es sei „nichts Spezielles“, keine persönlichen Informationen über den Betroffenen preisgibt, beeinflusst dies das Bild, das sich die Vorgesetzte von ihm macht. Wenn es für das Fehlen am Arbeitsplatz keine „speziellen“ Gründe gibt, wirkt sich das nicht unbedingt vorteilhaft auf die Beurteilung eines Beschäftigten aus (mehr zum Fallbeispiel in 9.1.4).

3.3 Fallgeschichten und Klärung von „Ursachen“

Ernsthafte Krankheiten bringen nach Arthur W. Frank (1995, S. 53 ff.) einen „call for stories“ mit sich. Die eigene Krankheitsgeschichte zu erzählen, hilft den Betroffenen, sich angesichts der Veränderung, die die Krankheit für ihr Leben bedeutet, neu zu orientieren und ihre Identität, die durch die Krankheit erschüttert wurde, zu reparieren. Krankheitsdeutung geht für sie mit Identitätsarbeit einher. Ein paar interviewte Betroffene erwähnen, dass ihr Umfeld angesichts ihrer Depression sehr überrascht war, weil sie als Personen mit viel Energie und einer positiven Einstellung galten. Die Krankheit bietet Anlass, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen.

Zum anderen entspringt der „Ruf nach Geschichten“ dem praktischen Erfordernis, die eigene Krankheitsgeschichte wieder und wieder gegenüber Akteurinnen aus dem medizinischen, beruflichen und privaten Umfeld darzulegen. Durch das wiederholte Erzählen entwickeln die Betroffenen mit der Zeit eine verfestigte Version ihrer Fallgeschichte (vgl. Hassler 2021, S. 100 ff.). Die Erzählung der Krankheitsgeschichte kann für die Betroffenen ein Instrument in der Bewältigung des Stigmas einer psychischen Diagnose sein. Insofern ist die Identitätsarbeit der Betroffenen für das Gelingen der Eingliederung von großer Relevanz (van Hal et al. 2012). An der Entwicklung einer Krankheitsgeschichte haben auch Ärzte, Therapeutinnen und BGM-Verantwortliche Anteil. Die BGM-Verantwortlichen kommunizieren gewisse Elemente der Fallgeschichte im Betrieb weiter (vgl. oben) und spielen so für die Etablierung kollektiv geteilter Interpretationen eine zentrale Rolle. Krankheitsgeschichten sind nicht nur für die Identitätsarbeit der Betroffenen relevant, sondern auch für die BGM-Verantwortlichen und Vorgesetzten, wenn es darum geht, die Arbeitsunfähigkeit zu „plausibilisieren“ und Entscheidungen sowie konkrete Maßnahmen für die Wiedereingliederung zu begründen.

In diesem Zusammenhang regen die BGM-Verantwortlichen insbesondere eine Reflexion über die „Ursachen“ der Erkrankung an: So erinnert sich Simon Rohner (Fallbeispiel 5.1) daran, dass er gemeinsam mit seinem Therapeuten und dem BGM-Verantwortlichen „herausgefunden“ hat, wo die Hauptursachen seiner Depression lagen, nämlich in einer Belastungssituation im Privatleben. Nicht allen Betroffenen gelingt es, eine klare Ursache für ihre Erkrankung zu benennen. Dies kann sich unter Umständen nachteilig für sie auswirken, weil sie den willkürlichen Interpretationen ihres Umfelds dadurch stärker ausgeliefert sind. Bleibt eine Erklärung ganz aus, kann es auch vorkommen, dass die Legitimität der Arbeitsunfähigkeit gänzlich in Frage gestellt wird. Eine Hauptursache für eine psychische Erkrankung zu benennen, ist in den meisten Fällen nicht möglich. Dennoch gibt es betriebliche Logiken, die nach der Festlegung einer solchen verlangen. Entsprechend versuchen die BGM-Verantwortlichen, die betroffenen Beschäftigten in ihren Reflexionsprozessen bezüglich der Benennung von „Ursachen“ der Erkrankung zu lenken.

In manchen Fällen wünschen die Vorgesetzten explizit, von den Betroffenen oder den zuständigen BGM-Verantwortlichen zu erfahren, wo sie die Ursachen der Erkrankung verorten, so auch der Vorgesetzte von Simon Rohner: er fühlte sich durch dessen Krankschreibung verunsichert und fragt sich, ob der „Verursacher“ hauptsächlich in der Arbeit lag. Wie Stephan Voswinkel (2017a, S. 61) festhält, wird die „Frage, welche Lebensbereiche welchen Anteil am Krankheitsgeschehen tragen, […] vor allem dann aufgeworfen, wenn Verantwortung zu- oder abgewiesen werden soll“. Dies scheint auch in den untersuchten Unternehmen zuzutreffen. Aufgrund des hohen Zeit- und Leistungsdrucks in der IT-Abteilung hält der Vorgesetzte von Simon Rohner es nicht für ausgeschlossen, dass die Erkrankung durch die Arbeit mitbedingt ist und fürchtet deswegen, mitverantwortlich zu sein. Als er erfährt, dass der „Verursacher“ privater Natur war, fällt eine „Last“ von ihm ab. Die Erklärung über „private“ Ursachen kommt im Datenmaterial auffällig oft vor. Eine solche Erklärung entlastet Führungskräfte und den Betrieb von einer potenziellen Mitschuld an der psychischen Erkrankung (vgl. dazu Abschn. 6.2.3). Zudem kann sie dem Wunsch der Betroffenen entgegenkommen, ihre Identität als verlässliche und leistungsstarke Mitglieder des Betriebs wiederherzustellen.

Die entwickelten Erklärungen spielen eine Rolle für das weitere Vorgehen bezüglich der Wiedereingliederung der betroffenen Mitarbeitenden. Sie werden von Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen nötigenfalls auch gegenüber Kolleginnen und höheren Vorgesetzten ins Feld geführt, um zu begründen, dass die gewählten Maßnahmen der Eingliederung sinnvoll sind. Mit den Erklärungen sind moralische Wertungen und Identitätskonstruktionen, etwa als weiterhin leistungsbereite Arbeitskraft, verbunden. BGM-Verantwortliche und Vorgesetzte untermauern diese Erklärungen mit Hinweisen auf frühere Verhaltensweisen der Betroffenen, wie ihre Arbeitsmotivation, ihr Abwesenheitsverhalten, sowie mit Wissen über ihre Biografie und ihr Privatleben, frühere Erfahrungen, die sie in ihrem Arbeitsbereich gemacht haben, etc. Felix Siegrist, der BGM-Verantwortliche aus dem Fallbeispiel 5.1, leitet aus der „zuvorkommenden“ Haltung von Simon Rohners Vorgesetzten her, dass dessen psychische Probleme nicht arbeitsbedingt sein können. Auch für andere BGM-Verantwortliche ist das Verhältnis der Betroffenen zu ihren Linienvorgesetzten ein Anhaltspunkt in der Beurteilung des Falls. Nehmen sie die Vorgesetzten als unterstützend und entgegenkommend wahr, fällt ein Konflikt als Hauptursache für die Erkrankung weg. Mit dem Hinweis, dass eine Mitarbeiterin schon früher nicht besonders leistungsstark war, lässt sich umgekehrt eine Erklärung der Erkrankung über berufliche Belastungen stützen.

In einigen Deutungsprozessen bestehen parallel zur dominanten Fallgeschichte divergierende Erklärungen der psychischen Problemsituation: Es gibt Betroffene, die ihre persönlichen Erklärungen im Unternehmen nicht kommunizieren, weil sie befürchten, dass sie als illegitim erscheinen und somit nachteilige Konsequenzen nach sich ziehen könnten. In anderen Fällen haben BGM-Verantwortliche Erklärungen für die Problemsituation, die von derjenigen der anderen Akteure abweichen und die sie nicht weiterkommunizieren, weil sie für Irritation sorgen könnten, wie z. B., dass eigentlich nicht die Mitarbeiterin ein Problem habe, sondern ein schwieriger Vorgesetzter „das Problem“ sei.

4 Aushandlung der Bedingungen des Wiedereinstiegs

Die kollektive Deutung des Krankheitsfalls dient den Akteurinnen in der Aushandlung der Vorkehrungen und Maßnahmen zur Wiedereingliederung als Orientierungs- und Argumentationsgrundlage. Sie kann sich im weiteren Verlauf jedoch auch wandeln. Ein zentraler Gegenstand im Wiedereingliederungsvorgang ist die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen. Sie unterliegt fortwährenden Neubestimmungen, die zwischen den Betroffenen, ihren Ärztinnen, Vorgesetzten und BGM-Verantwortlichen ausgehandelt werden. Da Arbeitsfähigkeit immer relativ ist zu einem konkreten Arbeitsplatz, stellt ihre Verhandlung zumindest implizit auch die Arbeitsbedingungen zur Diskussion. Eine explizite Thematisierung von Arbeitsbedingungen kommt aber nur in wenigen der analysierten Fälle vor.

4.1 Arbeitsfähigkeit und Arbeitsplatzanpassungen

Simon Rohner (Fallbeispiel 5.1) zeigt sich darum bemüht, die Unannehmlichkeiten, die durch den Ausfall seiner Arbeitskraft entstehen, so gering wie möglich zu halten. Wenn eine Krankschreibung länger andauert, kann dies für das Team zu einer Belastung werden, vor allem dann, wenn das Arbeitsvolumen nicht an den Personalbestand angepasst wird. Inwiefern die Krankschreibung zu Mehrarbeit für die Kollegen führt, hängt davon ab, ob finanzielle Mittel für eine Ersatzarbeitskraft eingesetzt werden können oder nicht (Nadai et al. 2019, S. 153; vgl. Abschn. 7.2.2). Während in gewissen Abteilungen des Industriebetriebs bei personeller Unterbesetzung weniger Aufträge angenommen werden, bestehen die Vorgesetzten der IT-Abteilung Simon Rohners darauf, dass das Team trotz des Langzeitausfalls die gleiche Leistung erbringt wie sonst. Für Simon Rohner, der sich dessen bewusst ist, erhöht sich dadurch der Druck, schnell an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.

Auch im Industriebetrieb ist man an einer möglichst schnellen Rückkehr erkrankter Beschäftigter interessiert. Die Dauer, bis wann Erkrankte wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren können, ist eine umstrittene Angelegenheit und aus Arbeitgeberperspektive mit finanziellen Verlusten verbunden. Eine BGM-Verantwortliche erklärt: „jeder Mitarbeiter, der fehlt, da zahlen wir aus unserer Tasche diesen Krankenlohn.“ In den beiden Versicherungen ist der Leistungsausfall zwar über die Zahlungen der Krankentaggeldversicherung gedeckt.Footnote 7 Dennoch achten die BGM-Verantwortlichen darauf, dass diese Leistungen nicht länger als nötig beansprucht werden (vgl. Abschn. 5.4.2). Nach einer gewissen Dauer klären BGM-Verantwortliche ab, ob die erkrankten Beschäftigten wieder teilarbeitsfähig geschrieben werden können. Der Vorschlag eines schrittweise zu steigernden Teilzeitpensum entspricht auch aus ärztlicher Sicht dem gängigen Vorgehen zur Wiedereingliederung psychisch erkrankter Beschäftigter. In den Versicherungsunternehmen wird überdies abgeklärt, ob die Betroffenen bereit sind, gewisse Arbeiten von zu Hause aus zu erledigen.

Während für den schrittweisen Wiedereinstieg über ein Teilzeitpensum das Urteil von Ärztinnen maßgebend ist, findet die Aushandlung etwaiger Anpassungen der Arbeitsaufgaben an die gesundheitliche Situation zwischen den betroffenen Beschäftigten, den Vorgesetzten und den BGM-Verantwortlichen statt. Im Fallbeispiel 5.1 diskutieren Simon Rohner und sein Teamleiter mögliche Anpassungen, wie die Abgabe von Verantwortungen und die Fokussierung auf weniger komplexe Aufgaben, sie entscheiden sich aber dagegen. Simon Rohner begründet den Verzicht mit dem Verweis, dass die „Ursachen“ seiner Erkrankung im „Privatleben“ gelegen haben. Dies entspricht einem häufigen Muster im Datenmaterial (vgl. Abschn. 7.2.4). Es ist davon auszugehen, dass weder die Vorgesetzten noch die Betroffenen ein großes Interesse an Anpassungen von Arbeitsaufgaben haben, weil sie zum einen organisatorischen Mehraufwand verursachen und zum anderen von den Betroffenen als stigmatisierend empfunden werden können, da sie so als weniger leistungsfähig erscheinen. Auch die BGM-Verantwortlichen schlagen in den untersuchten Fallbeispielen nur selten Anpassungen vor.

Wenn vereinbart wurde, welche Maßnahmen zur Wiedereingliederung getroffen werden, müssen diese von den Beteiligten umgesetzt werden. Auflagen, sich zu schonen und weniger zu arbeiten, können je nach Arbeitsbereich mit der Realität der vorherrschenden Leistungskultur konfligieren und sich als schwierig umsetzbar entpuppen. Dies trifft im diskutierten Fallbeispiel (5.1) zu. Bereits ein Teilzeitpensum ist für diesen Arbeitsbereich nicht selbstverständlich und erzeugt Rechtfertigungsbedarf. Rechtfertigungsbedarf besteht zum einen gegenüber den Teams, die Verständnis für die Anpassung von Leistungsstandards und Aufgaben an die eingeschränkte Leistungsfähigkeit von Betroffenen aufbringen müssen. Die Vorgesetzten befinden sich nach Charmaz (2010) diesbezüglich in einem Dilemma zwischen der Gewährleistung von sinnvollen Anpassungen und der Vermeidung einer Bevorzugung der Betroffenen. Simon Rohners Wunsch, sein Pensum flexibel zu handhaben, also für bestimmte Aufgaben auch länger zur Verfügung zu stehen, sein Verzicht auf Arbeitsplatzanpassungen und auf „Sonderbehandlungen“ lassen sich als Strategien zur Herstellung von Akzeptanz im Team deuten – gleichsam als Ausrichtung an (antizipierten) moralischen Ansprüchen, die an ihn gestellt werden. Zum anderen kann Rechtfertigungsbedarf gegenüber der höheren Leitungsebene bestehen, vor der Vorgesetzte das Erreichen von Leistungszielen verantworten müssen. Wenn Vorgesetzte unter Druck stehen, erhöht sich für die Betroffenen wiederum der Druck, ihre Erkrankung plausibel erscheinen zu lassen und keine als unnötig oder ungerecht kritisierbaren „Privilegien“ zu beanspruchen, wie es der Vorgesetzte von Simon Rohner ausdrückt.

Es hängt von den Arbeitsbedingungen ab, inwiefern die mit dem BGM ausgehandelten Eingliederungsmaßnahmen tatsächlich umsetzbar sind. Darüber hinaus spielt die Unterstützung der Vorgesetzten eine wichtige Rolle. Wie lange Simon Rohner sein Teilzeitpensum, das er zum Interviewzeitpunkt weiterhin beibehalten möchte, aufrechterhalten kann, ist durch die bevorstehende Reorganisation in Frage gestellt. An seinem Fallbeispiel zeigt sich exemplarisch die Tendenz, dass eine Diskussion problematischer Arbeitsbedingungen im Zuge der Eingliederung gesundheitlich eingeschränkter Beschäftigter wenig Raum erhält (Voswinkel 2017c; Nadai et al. 2019). Der Vorgesetzte problematisiert den Personalmangel und das hohe Arbeitsvolumen zwar gegenüber der nächsthöheren Managementebene, bleibt damit aber erfolglos.

4.2 Krankheit als „Verhaltensmuster“ – Übergänge zu Disziplinarmaßnahmen

Nicht alle Beschäftigten bemühen sich im selben Maß wie Simon Rohner darum, den durch ihren Arbeitsausfall und die durchgeführten Wiedereingliederungsmaßnahmen verursachten Mehraufwand und die Unterbrechungen betrieblicher Abläufe so gering wie möglich zu halten. Wenn betriebliche Akteure zum Eindruck gelangen, dass sich erkrankte Beschäftigte nicht genug um ihre Genesung und Wiedereingliederung bemühen und damit die Erwartungen der legitimen Krankenrolle nicht erfüllen (Parsons 1952; vgl. auch Abschn. 6.1.1), kann es dazu kommen, dass sie nicht mehr die Krankheit, sondern deren Verhalten in den Vordergrund ihres Handelns stellen. Nach Rita Schlegl, BGM-Mitarbeiterin bei der Celestia, gilt es für die Betriebe, den „guten Menschenverstand“ spielen zu lassen, um das richtige Maß zu finden zwischen ausreichender Zeit für die Genesung und der legitimen Nutzung der wiederkehrenden Ressourcen der Arbeitskraft. Die Situation, dass sich erkrankte Beschäftigte mehr Zeit für den Wiedereinstieg nehmen als aufgrund ihrer Krankheitssymptome angebracht scheint, beschreibt sie folgendermaßen:

Und handkehrum aber auch ... mal sagen, ... es geht nicht vorwärts. Ich muss glaub mal mit deinem Arzt schauen. Oder kann ich mal mit deinem Arzt reden, darf ich mal vorbeikommen, ich habe das Gefühl, irgendetwas bremst euch, WAS bremst euch. Also ... und dann ist es aber immer noch Krankheit, aber es hat auch ein Verhaltensmuster drin.

Das Zitat bringt den Auftrag des BGM zum Ausdruck, sicherzustellen, dass die Beschäftigten sich nicht länger krankschreiben lassen als medizinisch nötig ist und die Lohnfortzahlungen des Unternehmens nicht ungebührlich beanspruchen. Rita Schlegl spricht für diesen Fall metaphorisch von etwas, das den Wiedereingliederungsvorgang „bremse“. In solchen Situationen schlägt sie vor, Kontakt zum behandelnden Arzt aufzunehmen und die tatsächliche Arbeitsfähigkeit der Betroffenen direkt mit diesem zu verhandeln. „Gebremst“ scheint ihr dann nicht nur die Krankgeschriebene, sondern auch die Ärztin, der sie unterstellt, den Prozess des Wiedereinstiegs langsamer anzugehen als nötig. In einem solchen Fall steht aus der BGM-Perspektive die „Krankheit“ zwar noch im Vordergrund, es zeichnet sich darin aber ein problematisches „Verhaltensmuster“ ab. Sie beschreibt damit die Situation einer Krankenrolle, die ungerechtfertigt in Anspruch genommen wird. Aufgrund der Verbindlichkeit des ärztlichen Attests ist sie als Vertreterin des Arbeitgebers daran gebunden, das Problem unter dem Vorzeichen der Krankheit zu behandeln.Footnote 8 Zugleich ist absehbar, dass sie das Register der Problembehandlung ändern wird, sobald die Arbeitsunfähigkeit aufgehoben wird.

Die BGM-Leiterin Gabriela Esslinger hält klare Verhaltenserwartungen fest, die kranke Beschäftigte erfüllen müssen:

wenn du bei der Celestia bist und du krank bist, heißt das nicht, dass du zwei Jahre versorgt bist und dass du nichts machen musst. Sondern ... wir haben eine Fürsorgepflicht, als Arbeitgeber, aber der Mitarbeiter hat eine Mitwirkungspflicht. Und wenn er diese Mitwirkungspflicht mit Füssen tritt, dann gehen wir auch in eine Kündigungsrunde hinein. [...] wenn wir den Psychiater nicht an den Tisch bringen, der Mitarbeiter auch nicht will, wir vielleicht schriftlich noch Danke sagen müssen, dass wir jeden Monat einmal ein Arztzeugnis haben und sonst aus den Augen aus dem Sinn, dann muss ich sagen, SORRY, dann hören wir aber AUCH auf. Auch wenn wir vielleicht ein gewisses Risiko hätten, dass wir unter Gerichtssituationen dann halt drei Monate nachzahlen müssen

Wie die Zitate zeigen, können sich insbesondere Fälle von Beschäftigten, die aufgrund einer psychischen Erkrankung ausfallen, in den Augen der BGM-Verantwortliche in Fälle verwandeln, in denen nicht mehr die Krankheit, sondern das unkooperative Verhalten im Vordergrund steht. Zwar erhalten Langzeiterkrankte in der Celestia und der Komfortia Lohnfortzahlungen über zwei Jahre, während derer versucht wird, eine Wiedereingliederung zu erreichen. Ob dies gewährt wird, hängt jedoch von der Kooperationsbereitschaft der Betroffenen ab. In der Formulierung, dass man den Psychiater „nicht an den Tisch bringt“, klingt die Klage an, Ärzte seien unkooperativ und behandelten die Arbeitgeber als die „Bösen“. Wenn es um den Vorwurf unkooperativen Verhaltens von Beschäftigten geht, sowie um die Frage, ob eine Kündigung möglich ist, kommt das BGM mit Bereichen des Personalmanagements in Berührung, die explizit auf Kontrolle und Sanktionierung ausgerichtet sind. Dabei handelt es sich um einen aus der Sicht des Personalmanagements heiklen Bereich, weil man, wie Gabriela Esslinger andeutet, Gerichtsfälle vermeiden und so gut wie möglich verhindern will, dass man als Arbeitgeber rechtlich belangt werden kann (vgl. Kap. 9).

5 Zusammenfassung und Überblick über die folgenden Kapitel

Der Prozess der Wiedereingliederung ist durch zwei zentrale Koordinationserfordernisse charakterisiert: erstens die fortwährende Aushandlung und Neubestimmung des eingeschränkten Arbeitsvermögens und zweitens die Entscheidung über Maßnahmen der Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung bzw. Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Die Akteurinnen beteiligen sich daran auf unterschiedliche Weise – entsprechend ihren institutionellen Handlungsspielräumen, sowie ihrer unterschiedlichen Definitionsmacht. Sie verfolgen akteurspezifische Anliegen, die wiederum von organisationalen Bedingungen, Leistungsnormen und Wertkriterien mitgeprägt sind.

Ausgangspunkt für die betriebliche Problematisierung gesundheitlicher Beschwerden kann eine medizinische Krankheitsdiagnose sein oder die Feststellung einer Abweichung von den geltenden Leistungsnormen (Hassler 2021, S. 117 ff.). In der vorliegenden Studie sind diese beiden Momente oftmals verknüpft: So kann eine subjektiv wahrgenommene Leistungseinschränkung zum Anlass werden, ein Gesundheitsproblem medizinisch objektivieren zu lassen. Ob und wie rasch es zur Krankschreibung kommt hängt von der Wahrnehmung und Selbsteinschätzung der Betroffenen ab, sowie davon, in welchem Ausmaß sie ihre Symptome als einschränkend erleben. Dies wird wiederum dadurch beeinflusst, welche Möglichkeiten zur Bewältigung von Krankheitssymptomen die Arbeitsorganisation bietet. Die Arbeitsbedingungen und der durch sie gewährte Spielraum, die Effekte von Krankheitssymptomen unter Kontrolle zu behalten, spielen insofern eine entscheidende Rolle für den Prozess der Offenlegung und Problematisierung gesundheitlicher Beschwerden im Betrieb. Kommt es zu einer Krankschreibung, wirken die Zugzwänge der Offenlegung: trotz fehlender gesetzlicher Verpflichtung besteht von Seiten der Arbeitgeberinnen die moralische Erwartung, über die Diagnose informiert zu werden, die hinter dem Arbeitsausfall steht. Dadurch wird der Spielraum zum Stigma-Management (Goffman 2012[1967]) für die Betroffenen eingeschränkt. Manche Betroffene antizipieren diese Zugzwänge zur Offenlegung bereits vor der Krankschreibung und zögern diese deshalb so lange wie möglich hinaus.

Die Definitionshoheit über Arbeitsunfähigkeit ist gesetzlich geregelt: sie liegt bei den Ärztinnen. An den Status der Arbeitsunfähigkeit sind gesetzliche Bestimmungen, wie ein verlängerter Kündigungsschutz und Lohnfortzahlungen gekoppelt, sowie der betrieblich geregelte Anspruch auf Wiedereingliederungsmaßnahmen. Durch die Festlegung einer Arbeitsunfähigkeit wird für eine begrenzte Zeit ein Rahmen aufgespannt, in dem die betroffenen Beschäftigten nicht an den üblichen Kriterien der Leistungserbringung gemessen werden. Die Arbeitsunfähigkeit bleibt aber trotz der ärztlichen Objektivierung Gegenstand einer kontinuierlichen Überprüfung und Aushandlung. Damit sie den Arbeitsausfall als legitim akzeptieren, braucht es aus der Sicht von Vorgesetzten und HR-Verantwortlichen weitere Indizien, die darauf hindeuten, dass der Arbeitsausfall auf berechtigte Ursachen zurückzuführen ist. Gerade bei Depressionen, die für das Umfeld nicht an eindeutigen Symptomen erkennbar sind und die aufgrund der subjektiven Selbstwahrnehmung der Betroffenen diagnostiziert werden, hegen betriebliche Akteurinnen eine gewisse Skepsis. Zur Rolle der BGM-Verantwortlichen gehört das Einholen von Informationen über die Diagnosen und den Zustand der Erkrankten. In manchen Fällen nehmen sie mit den behandelnden Ärzten Kontakt auf, um zu prüfen, ob die Teilarbeitsfähigkeit für bestimmte Tätigkeiten nicht erhöht werden kann.

Zum Prozess der „Plausibilisierung“ des eingeschränkten Arbeitsvermögens gehört die Ausarbeitung von Erklärungen, wie es zur Erkrankung kam. Die Entwicklung einer Geschichte, die ihre Erkrankung für andere nachvollziehbar werden lässt, ist für die Betroffenen Teil ihrer Identitätsarbeit infolge der Verunsicherung durch die Erkrankung. Erklärungen über die vermuteten Ursachen der Erkrankung spielen darüber hinaus für die Begründung, dass bestimmte Wiedereingliederungsmaßnahmen nötig und aussichtsreich sind, eine wichtige Rolle. Ihre Ausarbeitung ist deshalb auch aus der Sicht von BGM-Verantwortlichen und Vorgesetzten ein zentraler Aspekt der Eingliederungsarbeit – der alltäglichen Operationen also, die Akteurinnen vollziehen, damit eine Wiedereingliederung erfolgen kann. BGM-Verantwortliche regen Beschäftigte im Prozess der Begleitung aktiv dazu an, über die „Ursachen“ ihrer Erkrankung und Leistungseinschränkung nachzudenken.

Die Hinterfragung der Legitimität eines Leistungsausfalls ist darüber hinaus in der institutionellen Struktur der betrieblichen Bearbeitung von Krankheitsfällen verankert: Das Format des Absenzenmanagements hält die Dauer eines Arbeitsausfalles fest und erzeugt ab einer kritischen Abwesenheitsdauer systematischen Handlungsbedarf, die Gründe einer Abwesenheit zu überprüfen. Die Hinterfragung von Arbeitsunfähigkeit wird darüber hinaus durch die Formate der Arbeitsplanung mitgeprägt: Wenn keine Möglichkeit besteht, für die ausgefallenen Beschäftigten vorübergehend einen Ersatz zu rekrutieren oder die laufenden Arbeiten an den verringerten Personalbestand anzupassen, führt dies für die verbleibenden Arbeitskräfte zu erhöhtem Arbeitsdruck. Dadurch steigt der implizite oder explizite Druck auf die Betroffenen, so rasch wie möglich an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Darüber hinaus kommt es darauf an, wie sehr der Ausfall von den Betroffenen selbst als ein persönliches Versagen erlebt wird, das es schnellstmöglich zu korrigieren gilt. Für diese Wahrnehmung spielen wiederum die an einem Arbeitsplatz geltenden Leistungsmaßstäbe und Bewertungskriterien eine Rolle.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Definition einer Einschränkung des Arbeitsvermögens im Betrieb Fragen nach der Echtheit der Erkrankung, sowie nach der Angemessenheit der Krankschreibung und der getroffenen Maßnahmen zur weiteren Beschäftigung aufwirft. Damit verbunden sind Fragen der Gerechtigkeit, deren Bearbeitung, so die These der vorliegenden Studie, ein wesentliches Handlungsproblem im Prozess der Wiedereingliederung darstellt. Einschränkungen des Arbeitsvermögens und Maßnahmen der Wiedereingliederung werden zum Teil explizit begründet und gerechtfertigt. Kap. 6 widmet sich der im Rahmen der Eingliederung zu leistenden Rechtfertigungsarbeit und geht vertieft auf die Kriterien und Rechtfertigungsmuster ein, nach denen die betrieblichen Akteure das eingeschränkte Arbeitsvermögen sowie die Notwendigkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen begründen. Von Belang für die Wiedereingliederung ist auch, dass Akteurinnen den Rechtfertigungsbedarf gewisser Maßnahmen antizipieren und versuchen, diesen so gering wie möglich zu halten. Es lassen sich im Datenmaterial Handlungsstrategien ausmachen, die auf die Minimierung des Rechtfertigungsbedarfs abzielen.

Der Rechtfertigungsbedarf, den Wiedereingliederungsmaßnahmen erzeugen, hängt von den betriebs- bzw. bereichsüblichen Bedingungen der Leistungserbringung und den Regeln der Anerkennung von Arbeitsleistung ab. Dafür spielt die Arbeitsorganisation eine entscheidende Rolle. Je nach dem vorherrschenden Arbeitsdruck, den üblichen Arbeitsweisen, -verhältnissen und Leistungsstandards werden unterschiedliche Erwartungen an die nach einer Krankheit zurückkehrenden Mitarbeitenden gerichtet. Maßnahmen zur Reintegration stellen in der Regel Abweichungen von den üblichen Leistungsvorgaben und Arbeitsweisen dar und können je nach Perspektive eine Störung der geltenden Vorstellungen von Gerechtigkeit bedeuten. Diese Problematik gilt es Hinblick auf die Wiedereingliederung zu berücksichtigen. Die Formen der Arbeitsorganisation wirken sich darüber hinaus auf die organisatorische Umsetzbarkeit von Wiedereingliederungsmaßnahmen aus. Auf die Bedeutung der Arbeitsorganisation für die Eingliederung geht Kap. 7 vertieft ein.

Eine Zuschreibung psychischer Gesundheitsprobleme kann auch jenseits einer ärztlichen Krankschreibung erfolgen, wie ein paar Fälle im Datenmaterial belegen. Kap. 8 befasst sich mit der Zuschreibung einer Krankheit ohne Krankschreibung und geht der Frage nach, wie diese mit gesellschaftlichen und betrieblichen Diskursen zu psychischen Erkrankungen zusammenhängt.

Auch aus Arbeitgebersicht sind die Entscheidungen über Wiedereingliederung und Weiterbeschäftigung rechtfertigungsbedürftig. Sie sind mit dem Dilemma behaftet, moralischen und gesellschaftlichen Bewertungen einer fairen Behandlung zu genügen und gleichzeitig durch Krankheit entstehende betriebliche Kosten geringzuhalten. In diesem Zwiespalt befinden sich die BGM-Verantwortlichen, die sich in dem Maß für die Betroffenen einsetzen können, in dem dies mit den Interessen von deren Linienvorgesetzten vereinbar ist. Die Devise lautet in allen drei Unternehmen, dass eine Wiedereingliederung in jedem Fall versucht wird, aber vom Verhalten der Betroffenen abhängig gemacht wird. Die organisatorische Nähe des BGM zu anderen Personalmanagementverfahren mit sanktionierendem Charakter erleichtert den Wechsel des Registers der Beurteilung. Moralische Gesichtspunkte werden über die durch das Personalmanagement festgelegten normativen Standards für arbeitgeberseitige Kündigungen in Rechnung gestellt: sie stellen ein Raster von Gesprächen und durchzuführenden Bewährungsproben dar, zu dessen Berücksichtigung Vorgesetzte bei einer Kündigung angehalten werden. Wenn Krankheit als benachteiligender Faktor berücksichtigt ist und bewiesen werden kann, das von der Seite des Unternehmens Bemühungen unternommen wurden, dann wird eine Kündigung als vertretbar angesehen. Auf die betrieblichen Strategien zur Herstellung „fairer“ Personalmaßnahmen geht Kap. 9 detaillierter ein.

In der Mehrheit der Fälle des Samples entsprach es dem Wunsch der Betroffenen, zu den gleichen Bedingungen an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Nur in wenigen Fällen nahmen sie ihre psychischen Leiden als Anlass, Kritik an der Arbeitsorganisation zu üben. Kap. 10 beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Formen, wie eine psychische Krankheit zum Ausgangspunkt von Kritik am Unternehmen werden kann.