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Vernunft

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Zur Aktualität von Max Horkheimer

Zusammenfassung

In seinem Aufsatz „Philosophie und kritische Theorie“ spricht Horkheimer mehr oder weniger direkt aus, dass es sich bei dem Projektnamen kritische Theorie um ein Pseudonym für Marx’sche Theorie handelt. Er betont, dass „die kritische Theorie über das Erbe des deutschen Idealismus hinaus das der Philosophie schlechthin“ bewahre. Sie ist „nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist“, sondern „ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt“. Kritische Theorie prätendiert nicht, über den Einzelwissenschaften zu stehen. Das Programm des Frankfurter Instituts postulierte eine „Wechselwirkung zwischen der kritischen Theorie und den Fachwissenschaften, an deren Fortschritt sie sich ständig zu orientieren hat und auf die sie seit Jahrzehnten einen befreienden und anspornenden Einfluß ausübt“. Deren Ziel ist nicht Erkenntnis um ihrer selbst willen. Kritische Theorie sucht vielmehr Erkenntnisse im praktischen Interesse der Befreiung.

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Notes

  1. 1.

    So groß war der Unterschied zwischen den philosophischen Marx-Lektüren von Korsch und Horkheimer aber auch wieder nicht, wie er in der Darstellung von Alfred Schmidt (1970, S. 44) erscheint, wenn er Korsch eine „Theologisierung und ethische Glorifikation der Partei und ihrer Rolle“ unterstellt.

  2. 2.

    Platon, der bekanntlich selbst als Sklave verkauft worden ist, hätte es besser wissen sollen. Doch sogar in seiner Utopie einer im Ganzen gerecht eingerichteten Gesellschaft, der Politeia (469 b-c), ließ er Sokrates und Glaukon seelenruhig die Frage diskutieren, ob man denn wohl nur Barbaren als Sklaven verkaufen dürfe oder auch Griechen; als Ergebnis der besonnenen Abwägung ließ er sie verkünden, mit Griechen dürfe man dergleichen selbstredend nicht machen.

  3. 3.

    Horkheimer erwähnte es nicht, doch dieser philosophische Begriff von Dialektik war letztlich der Grund dafür, dass der Versuch scheiterte, im Exil mit dem wissenschaftsphilosophischen Kreis um den Sozialisten Otto Neurath zusammenzuarbeiten (Dahms 1990; Uebel und O’Neill 2004). Neurath (der nach dem Ersten Weltkrieg der Münchner Räteregierung unter Kurt Eisner angehört hatte) war im selben Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung, in dem Horkheimers Programmaufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie“ erschien, mit einem sozialwissenschaftlichen Beitrag vertreten, in dem er sein innovatives Konzept der „Lebenslagenphysiognomien“ einführte, das eine empiriegesättigte Darstellung der gesellschaftlichen Situation des Proletariats erlaubte (Neurath 1937, S. 151). Doch das Dialektik-Konzept von Horkheimer, das im Institut für Sozialforschung selbstverständlich paradigmatischen Rang hatte, erschloss sich dem Positivisten Neurath nicht.

  4. 4.

    „Die Wahrheitsemphase der kritischen Theorie entstammt der idealistischen Tradition – sie richtet sich bei Horkheimer aber auch gegen den idealistischen Anspruch eines Systems der Philosophie, in dem alle Rätsel der Natur gelöst und alle Probleme der Geschichte erledigt sind. Zur Wahrheit gehört auch das Eingeständnis der Grenzen menschlichen Erkennens in Bezug auf Naturvorgänge unter Verzicht auf abschließende Urteile über historische Prozesse, die noch gar nicht entschieden sind. […] Horkheimer […] hält an der objektiven Geltung der Wahrheit fest, relativiert sie jedoch in Bezug auf den Fortgang der Geschichte, den er […] trotz der gegenwärtigen Düsternis als prinzipiell offen ansieht.“ (Bolte 1995, S. 90 f.) „Wenn Horkheimer der Wahrheit neben ihrer objektiven Geltung auch ein subjektives Moment beimißt, so meint er nicht den privaten Glauben und Aberglauben der Individuen, sondern die Tatsache, daß sie die der Wahrheit korrespondierende Wirklichkeit als erkennende und handelnde Subjekte mitkonstituieren.“ (S. 93).

  5. 5.

    Hegel habe dies übersehen, weil er „sich selbst beim Philosophieren als der absolute Geist vorkommt“ (Horkheimer 1935a, S. 289).

  6. 6.

    Die Debatten um das Genome Editing, das Zerschneiden und Verändern der DNA, mögen dies heute belegen; Ähnliches gilt für die Debatten über pharmazeutisch und chirurgisch induzierte Geschlechtsumwandlungen, insbesondere bei Heranwachsenden.

  7. 7.

    Gunzelin Schmid Noerr hat gewisse Ungereimtheiten, die Horkheimers Überlegungen zu Sprache aus dieser Zeit im Detail aufweisen, sehr gründlich untersucht. Er kommt gleichwohl im Ganzen zu einer anerkennenden Einschätzung der „Fruchtbarkeit“ von Horkheimers „Antagonismustheorie der Sprache“ (Schmid Noerr 1986, S. 359). Deren Kernargument sei die Kritik „der fortdauernden Reduktion der Sprache auf das prädikative Urteil“ (ebd.). „Sprache […] ist ein Werkzeug der Macht, das jedoch von Anfang an auch mit der Intention eines wahren Lebens in Beziehung steht.“ (Ebd.).

  8. 8.

    So argumentierte Horkheimer auch später, z. B. Mitte der 1960er Jahre im Gespräch mit Friedrich Pollock. „Ohne Sprache, die Ausdruck ist, gibt es kein Denken im produktiven, auf Erkenntnis gerichteten Sinn. Heute aber ist die Sprache nicht mehr ‚Ausdruck‘, sondern lediglich Kommunikation. Damit wird das Denken auf eine rein funktionale Tätigkeit beschränkt.“ (Horkheimer 1950–1970, S. 373).

  9. 9.

    „Ohne das Licht des Allgemeinen, den Konsens stiftenden Begriff keine verbindliche Erkenntnis – aber auch keine Verbindlichkeit, kein Zwang der Logik ohne die Logik des Zwangs in der historischen Realität. […] Sprachliche Rationalität ist in diesem Sinn Ausdruck der Habitualität als Form der Vergesellschaftung selber. Und diese ist Resultat im Gang der äußeren und inneren Naturbeherrschung und ihrer wachsenden Organisation.“ (Schweppenhäuser 2019, S. 141 f.) In Horkheimers Aphorismus „Klassifikation“ aus der Dialektik der Aufklärung finden sich dazu folgende Formulierungen: „Allgemeine Begriffe, von den einzelnen Wissenschaften auf Grund von Abstraktion oder axiomatisch geprägt, bilden das Material der Darstellung so gut wie Namen für einzelnes. Der Kampf gegen Allgemeinbegriffe ist sinnlos. Wie es mit der Dignität des Allgemeinen steht, ist damit aber nicht ausgemacht. […] Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 250).

  10. 10.

    Horkheimer hat sich mit „Vertrauen auf Geschichte“ auf ein Gebiet begeben, auf das sich die marxistische Sprachphilosophie erst eine Generation später wagte (ohne doch vergleichbar radikale Folgerungen zu ziehen). So stand Adam Schaff 1960 noch weitgehend allein mit seinem Plädoyer, dass die materialistische Philosophie den Diskussionsstand der semantischen Philosophie nicht weiterhin ignorieren dürfe und endlich „konkrete Untersuchungen über die Verbindung […] zwischen dem Denkprozeß und der Sprache“ anzustellen hätte (Schaff 1968, S. 18; im Orig. z. T. kursiv). Schaff betonte, es gelte dabei vor allem, „das Problem der spezifischen Abstraktion auf der Ebene des sprachlichen Zeichens“ (ebd.) zu erforschen. Dieses Untersuchungsfeld dürfe man nicht der neopositivistischen Sprachphilosophie überlassen, die entlang der „Linie Peirce-Bridgeman-Schlick“ (ebd., S. 10) unterwegs sei.

  11. 11.

    „Das begrifflich Allgemeine, die Qualitäten, die physikalischen, biologischen, psychologischen Formen sind jeweils das Gesetz, nach dem das Besondere zugrunde geht, sie drücken die Endlichkeit des Besonderen aus: weil das Subjekt ein Tier, ein Mensch, ein Mann ist, muß es zunichte werden. Das Urteil faßt das Lebendige bloß als Natur, auch wo es das Besondere nicht in physikalischen, sondern sozialen Kategorien denkt, als Nation oder Staat.“ (Horkheimer 1946, S. 124).

  12. 12.

    So auch der Argumentationsgang von Horkheimers Schüler Karl Heinz Haag: Metaphysik versuche, das formierende Prinzip zu bestimmen, in dem die Entstehung konkreter Einzeldinge gründet (Haag 1983, S. 32). Sie könne es aber nicht finden, weil sie Natur zur Gänze auf das reduziere, was an ihr begrifflich fassbar ist. Zum Wesen der Einzeldinge werde dasjenige, was nach Abzug ihrer je veränderlichen, akzidentellen Eigenschaften übrigbleibt. Dabei werde von der Stofflichkeit und der Singularität des Einzeldings abstrahiert; übrig blieben jene allgemeinen Merkmale, die es mit allen anderen seiner Art gemeinsam hat (S. 37). Das Allgemeine wird als Universalie hypostasiert; eine logische Subsumtion verwandele sich unter der Hand in eine ontologische Konstitution. Das auf diesem Wege bestimmte Wesen sei in Wahrheit ein „Scheinwesen“ (S. 44). Marx hingegen habe einen Begriff vom „‚immanente[n] Gesetz‘ der Genesis von Naturstoffen“ (S. 103) gehabt. Das zeige sich, wenn er in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie auf die „‚immanente Form‘ stofflicher Entitäten“ (ebd.) verweise. Auf deren positive Bestimmung habe Marx mit gutem Grund verzichtet. So habe er den idealistischen Fehler der „Ernennung von ‚Abstraktionen von Naturbestimmungen‘ zu metaphysischen Wesenheiten“ (ebd.) vermieden und sich zugleich von einem mechanischen Materialismus abgesetzt.

  13. 13.

    Zumindest in Gestaltungen der Metaphysik wie der Leibniz’schen, die Hegel für spekulativ anspruchsvoll hielt. Deren Systematisierung durch Christian Wolff habe die akademische Philosophie dann zu einem „Dogmatismus der Verstandesmetaphysik“ absteigen lassen, welche „das Absolute und Vernünftige“ nicht in seiner spekulativen Einheit erfassen würde, sondern „durch sich ausschließende Verstandesbestimmungen und Verhältnisse, z. B. Eins und Vieles oder Einfachheit und Zusammensetzung, Endliches und Unendliches, Kausalverhältnis usf. bestimmt“ habe (Hegel 1971, S. 260).

  14. 14.

    Ohne diese Unterscheidung kann es, Marx zufolge, keine Kritik der politischen Ökonomie geben. Am Beispiel der Lehre vom Mehrwert demonstrierte er dies, mit einem aristotelisch-thomistischen Begriff der Form, folgendermaßen: „Aus der Verwandlung der Mehrwertsrate in Profitrate ist die Verwandlung des Mehrwerts in Profit abzuleiten, nicht umgekehrt. Und in der Tat ist die Profitrate das, wovon historisch ausgegangen wird. Mehrwert und Rate des Mehrwerts sind, relativ, das Unsichtbare und das zu erforschende Wesentliche, während Profitrate und daher die Form des Mehrwerts als Profit sich auf der Oberfläche der Erscheinungen zeigen.“ (Marx 1894, S. 53) Und erst recht gelte für die wirtschaftlichen Akteurinnen und Akteure selbst prinzipiell, dass „der im Konkurrenzkampf befangne, seine Erscheinungen in keiner Art durchdringende praktische Kapitalist durchaus unfähig sein muß, durch den Schein hindurch das innere Wesen und die innere Gestalt dieses Prozesses zu erkennen“ (Marx 1894, S. 178).

  15. 15.

    Mit den Worten von Günther Mensching (1975, S. 175): „Der Wesensbegriff, der die moderne Gesellschaft als Totalität konstituiert und doch nicht als erscheinendes Einzelfaktum dingfest gemacht werden kann, ist das Kapital, daseiende Abstraktion, die sich durch die Einzelmomente des Prozesses der neueren Geschichte hindurch reproduziert“.

  16. 16.

    Georg Lukács hatte in seiner legendären Essaysammlung Geschichte und Klassenbewußtsein, die für die Theorieformation des Horkheimer-Kreises von grundlegender Bedeutung war, den Begriff des Wesens gleichfalls ohne Verweis auf dessen Herkunft aus der Tradition der Metaphysik verwendet. „Das Wesen der Warenstruktur […] beruht darauf, daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit […] erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur Ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt.“ (Lukács 1923, S. 94).

  17. 17.

    Explizit geschieht dies im Hauptwerk von Karl Heinz Haag, aus dem oben zitiert wurde – allerdings nicht mehr im neomarxistischen Rahmen der kritischen Theorie.

  18. 18.

    Wenn in der kritischen Theorie der 1930er Jahre von „Totalität“ die Rede ist, knüpfte das nicht an den affirmativen Totalitätsbegriff der idealistischen Philosophie an. Dieser wurde in eine heuristische Kategorie transformiert (siehe oben, Einleitung, S. 5). Sie verweist darauf, dass partikulare Erscheinungen und Bestimmungen in der philosophischen Betrachtung niemals isoliert stehenbleiben dürfen. Kritische Theorie destruiert den falschen Schein jener vermeintlichen Unabhängigkeit, ohne den Möglichkeitsraum abzusperren, den das Konzept der Transzendenz eröffnet.

  19. 19.

    Das wird u. a. deutlich, wenn Horkheimer Karl Mannheims Ideologietheorie kritisiert und seine Kritik in dem Vorwurf kulminieren lässt, dass Mannheim die grundlegende Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Bewusstsein fallenlasse. An deren Stelle nehme er eine Gleichrangigkeit allerlei gleichermaßen ‚seinsgebundener‘ Ansichten an, deren Summe womöglich als Ausdruck der ganzen Wahrheit gelten könne. Damit, so fasst Martin Jay (1973, S. 88) Horkheimers Kritik bündig zusammen, „habe Mannheim auf verschleierte Weise die metaphysische Suche nach reinem Wissen wiederaufgenommen“.

  20. 20.

    So kritisierte Horkheimer (1933, S. 97) Auguste Comte, John Stuart Mill und Ernst Mach, weil sie „stolz darauf“ seien, dass sie „sich nicht um das ‚Wesen‘ der Dinge, sondern nur um die Erscheinungen, also darum, was uns tatsächlich von ihnen gegeben sei“, kümmerten. „Durch diese Lehre von der notwendigen Beschränkung der Wissenschaft auf Erscheinungen oder vielmehr dadurch, daß die erkannte Welt zu einem nur Äußeren herabgesetzt wird, schließt der Positivismus grundsätzlich seinen Frieden mit jeder Art von Aberglauben.“ (Ebd.).

  21. 21.

    Henricus Regius (Hendrik de Roy, 1598–1679) war ein niederländischer Arzt und Gelehrter. Er korrespondierte mit René Descartes, trat mit Publikationen über Naturphilosophie hervor und wurde als Rektor der Universität von Utrecht berufen (Stanford Encyclopedia of Philosophy). Anfangs ein getreuer Schüler Descartes’, wandte er sich, sehr zu dessen Unwillen, in späteren Schriften gegen die Lehre vom Substanzendualismus. Regius, so der zuverlässige Philosophiehistoriker Kuno Fischer (1912, S. 257), sei „bestrebt“ gewesen, die cartesianische „Fundamentallehre […], nämlich den Dualismus zwischen Geist und Körper, in Materialismus zu verwandeln“; er habe damit Condillac und Lamettrie antizipiert. – In seiner späten Korrespondenz hat Horkheimer (1949–1973, S. 814) erläutert: „Den Namen Heinrich Regius hatte ich gewählt, weil einer der beiden Philosophen dieses Namens aus dem 17. Jahrhundert in den meisten Geschichtsbüchern der Philosophie meiner Ansicht nach zu kurz gekommen oder gar verwechselt worden war.“ Bei dieser Bemerkung bezieht sich Horkheimer wahrscheinlich auf Johann Eduard Erdmanns Grundriß der Geschichte der Philosophie (Bd. 2, Berlin 1896, S. 32 f.), wo dieser selbst eine eigene frühere Verwechslung der beiden Philosophen korrigiert: Er hatte die Schrift Cartesius Verus Spinozismi Architectus (Franequerae: Halma, 1719) des Mediziners und Philosophen Johannes Regius (1656–1738), in der dieser die Grundlagen des Spinozismus auf Descartes zurückführte, früher irrtümlich Heinrich Regius zugeschrieben. – Horkheimers Bemerkung bliebe rätselhaft, wenn der Umstand, dass der so gut wie vergessene Johannes Regius mit Heinrich Regius verwechselt wurde, mit als Grund für die Wahl des Pseudonyms gemeint wäre. Abgesehen von den verschiedenen Vornamen erscheint es im Licht des Materialismusvorwurfs gegen Heinrich Regius nicht plausibel, dass der frühe Horkheimer bei der Wahl seines Pseudonyms an den Cartesianer Johannes Regius gedacht haben sollte. Eine andere Lesart von Horkheimers späterer Erklärung wäre die, auf die Gunzelin Schmid Noerr mich hingewiesen hat: Das Motiv zur Wahl des Pseudonyms könnte gewesen sein, dass Heinrich Regius in der Geschichtsschreibung zu kurz kam, was sich darüber hinaus auch noch an der gelegentlichen Verwechslung mit einem anderen Philosophen gleichen Nachnamens zeigte.

  22. 22.

    Siehe dazu auch Türcke 1995. Nagl-Docekal (2020, S. 680) weist darauf hin, dass Horkheimers späte Überlegungen zur Religion „offenkundig in zentralen Weichenstellungen von Anknüpfungen an Kants Religionsphilosophie geprägt sind“. – Sehr in Horkheimers Sinn schrieb Günther Mensching (1969, S. 737) in einem Brief an ihn, dass Materialismus und Religion „dieselbe Hoffnung gemein“ hätten, nämlich „daß die Welt sich nicht in ihrem hic et nunc erschöpfe; unwiderruflich zerstört ist nur der Dogmatismus, dass dem mit apodiktischer Gewißheit so sei. Materialismus kann deshalb nur heißen, gegen jeden Dogmatismus zu philosophieren, ohne die Interessen der großen Philosophie preiszugeben. – Wenn ich Sie recht verstanden habe, ist dies von Anbeginn Ihre Intention gewesen, weshalb mir jener Bruch zwischen Ihren früheren Schriften und denen nach dem Kriege, von dem man in jüngster Zeit so oft hat hören können, gar nicht existiert.“ – Eine Akzentverschiebung ist in Horkheimers kritischer Religionsphilosophie gleichwohl nicht zu leugnen. Sie hängt mit historischer Erfahrung zusammen, vermutet Schmid Noerr (1985, S. 464): „Religiös-konservative Gruppen erwiesen sich […] im nationalsozialistischen Deutschland, wie Erhebungen des Instituts ergaben, dem modernen, politischen Antisemitismus gegenüber als besonders resistent. Diese Erfahrung mag Horkheimers Relativierung seiner frühen Religionskritik wesentlich beeinflußt haben. Hatte er dem Christentum etwa noch 1935 das Potential, von Staat und Gesellschaft abweichende moralische Maßstäbe auszudrücken, weitgehend abgesprochen […], so sieht er später die Religion, die sich der Verquickung ins kollektive Machtstreben verweigert, als einen der letzten Statthalter des Ausstehenden an, des Gedankens an ein Anderes als die empirische Wirklichkeit.“

  23. 23.

    Was er unter einer Vernunft versteht, die sich selbst durchsichtig wäre, hatte Horkheimer anfangs noch als „Rationalität“ beschrieben, sprich: als „Durchsichtigkeit und Angemessenheit der Beziehung zwischen dem Handeln des Einzelnen und dem Leben der Gesellschaft“ (Horkheimer 1935b, S. 253), die sich in gemeinsamer, planvoller Arbeit manifestiert. „Wenn sie verwirklicht ist und an die Stelle einer Mannigfaltigkeit scheinbar freier Handlungen der Individuen eine Gesellschaft tritt, die bewußt ihr Leben gegen die drohende Naturgewalt zu beschützen und zu entfalten sucht, wird diese Tätigkeit freier Menschen nicht wiederum tiefer begründet werden können“ (ebd.). Das heißt, dann bedürfte es keiner philosophisch-anthropologischen oder metaphysischen Sinngebung mehr. In diesem Zusammenhang skizzierte er die Umrisse seiner materialistischen Fundierung eines kosmologischen Pessimismus: „Die Menschen befriedigen ihre wechselnden Bedürfnisse und Wünsche und wehren sich gegen den Tod, nicht weil sie glaubten, dadurch einer absoluten Forderung zu gehorchen, sondern weil die Sehnsucht nach Glück und der Schrecken des Todes andauern. Die Vorstellung einer bergenden Macht außerhalb der Menschheit wird in der Zukunft verschwinden. Indem nicht mehr der Glaube an diesen Trost, sondern das Bewußtsein von ihrer Verlassenheit die Beziehungen der Menschen vermittelt, werden sie unmittelbar werden. Wenn das Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen Arbeit als ihr eigenes Verhältnis zueinander erkannt und gestaltet ist, sind die moralischen Gebote ‚aufgehoben‘. Ihre Voraussetzung war die Spaltung der Interessen in der bisherigen Gesellschaft.“ (S. 253 f.).

  24. 24.

    In den 1940er Jahren „zeigte sich […], daß sich die Theorie gegenüber den Entwürfen der Zeitschrift verändert hatte. An die Stelle einer an der Kritik der politischen Ökonomie orientierten und zugleich interdisziplinär ausgeführten Gesellschaftstheorie trat die universalisierende Konzipierung einer Kritik der instrumentellen Vernunft. Die Zeitschrift wurde eingestellt nicht nur, weil sich die äußeren Bedingungen während der Kriegszeit gravierend verschlechterten, sondern auch aufgrund innerer Probleme des ursprünglichen Programms.“ Die „ursprünglich intendierte Interdisziplinarität“ ließ sich nicht mehr, wie geplant, als „Transformation des wissenschaftlichen Wissens in den esprit systématique der Sozialphilosophie“ umsetzen. „Die Einzelwissenschaften wurden statt als Lebenselement der Sozialphilosophie nun zunehmend eher als deren Hemmung empfunden. Geschichtsphilosophie und wissenschaftliche Empirie entfernten sich voneinander.“ (Schmid Noerr 1996, S. 834) – „Der Zweifel, ob mit der Entfesselung der Produktivkräfte eo ipso die Emanzipation der Menschheit notwendig gesetzt sei, dieser Zweifel leitete Horkheimer bei der Entdeckung der Dialektik im Verhältnis von Technik, Herrschaft und Emanzipation. Die kapitalistische Durchdringung der Gesellschaft reflektiert sich in der Instrumentalisierung der Ideen und bewirkt letztlich die innere Instrumentalisierung des Subjekts.“ (Ruschig 2016a, S. 182).

  25. 25.

    „Bürgerliche Philosophie – es gibt keine andere, denn das Denken kommt in den Städten auf – ist ihrem Wesen nach rationalistisch.“ (Horkheimer 1942, S. 320).

  26. 26.

    Horkheimer nannte in diesem Zusammenhang keine Namen oder Schriften; er beließ es beim allgemeinen Hinweis. Als Belege könnte man einschlägige Abschnitte aus Ludwig Wittgenseins Zetteln heranziehen, die zwischen 1929 und 1948 entstanden, oder auch die Aufsätze „Systematically Misleading Expressions“ von Gilbert Ryle aus dem Jahre 1932 und „Categories“ von 1938 (siehe dazu Stemmer 1996, S. 405 ff.).

  27. 27.

    Den Subtext zu diesen Überlegungen findet man bei Johann Gottlieb Fichte: „[D]as Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Tätigkeit desselben. – Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und Tat sind Eins und ebendasselbe, und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Tathandlung“ (Fichte 1794/1795, S. 290). Der Produktivismus schlägt um in reine Immanenz, wenn das Ich (das Subjekt) das Nicht-Ich (das Objekt) konstituiert (Fichte 1794/1795, S. 300 f.). Das Setzen des Nicht-Ichs durchs Ich, aus dem wiederum das Setzen des Ichs durch das vom Ich gesetzte Nicht-Ich hervorgehen soll, modelliert als Identitätsphilosophie, in der die Differenz als solche gleichsam verschluckt wird – wenn man so will – das Bei-sich-selbst-Bleiben des Werts in der industriekapitalistischen Produktionsweise. Im Durchgang durch die Investition von Kapital zur Warenproduktion und Realisierung des Mehrwerts bei deren Verkauf muss sich der Wert zwar ständig quantitativ vermehren, doch dabei spielen qualitative Kriterien keine wesentliche Rolle.

  28. 28.

    In diesem Licht sprach Horkheimer (1942, S. 332) die gesellschaftliche Funktion des Protestantismus an: Luthers Vernunftkritik und die protestantische Ethik griffen ineinander, wenn Werk, Profit und Herrschaft zu Selbstzwecken werden und die „[i]ndustrielle Revolution an Leib und Seele“ vorbereiten, zu deren Vorgeschichte auch Calvins „Irrationalismus“ als „List der technokratischen Vernunft“ gehöre. Auf dieser Bahn verkehre sich die Idee der „Autonomie des Individuums“ zu „dessen Heteronomie“ (ebd.). Diese Sichtweise folgte der Darstellung Marcuses (1936) aus dessen Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie.

  29. 29.

    Ernst Machs berühmte Erledigung der Ich-Kategorie entbehre insofern nicht der Folgerichtigkeit, denn Selbsterhaltung verliere ihr Subjekt.

  30. 30.

    Die faschistische Ordnung erweise sich paradox als „die Vernunft, in der Vernunft selber als Unvernunft sich enthüllt“ (Horkheimer 1942, S. 348).

  31. 31.

    Siehe dazu Mensching (1992, S. 93 ff.).

  32. 32.

    Siehe dazu Taylor (1986, 1994, 1995) sowie Schweppenhäuser (2005, S. 143–154).

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Schweppenhäuser, G. (2023). Vernunft. In: Zur Aktualität von Max Horkheimer. Aktuelle und klassische Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40774-2_4

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