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Kooperieren und entscheiden im Notfall. Zur Bedeutung hierarchischer Grenzsysteme und arrangierter Kontaktstrukturen für den interorganisationalen Rettungseinsatz

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Organisierte Grenzrollen

Zusammenfassung

Incident Command Systems regeln die Zusammenarbeit von verschiedener Organisationen bei Notfall- und Katastropheneinsätzen, indem sie diesen eine gemeinsame Führungsstruktur überstülpen. Sie etablieren damit den Sonderfall eines über formale Strukturen und eine Rangordnung verfügenden Grenzsystems. Ausgehend vom empirischen Beispiel eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses, an dem Notärzte und Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes während einer Notfallübung beteiligt sind, untersucht der Text die Potentiale, Fiktionen und Spannungen, die ein solches Organisationsgrenzen überspannendes System besitzt. Der Text zeigt dann, welche Kniffe und zusätzlichen Strukturen nötig sind, um ein Incident Command System tragfähig zu machen und die Differenzen zwischen technischer und medizinischer Rettung zu überbrücken. Führungskräfte betonen in diesem Zusammenhang vor allem die positive Bedeutung, die im Vorfeld etablierten Kontaktstrukturen für die interorganisationale Kooperation und Entscheidungsfindung zufällt. Dies ist nicht allein der Verständigung über die je eigene und fremde Perspektive und Interessenlage geschuldet und auch nicht ausschließlich auf den Aufbau und das Einrechnen von Sympathien und Antipathien zurückzuführen. Der von Kontaktnetzen ausgehende sanfte Zwang zur wechselseitigen Rücksichtnahme beruht maßgeblich auf dem Wissen um die wechselseitige Abhängigkeit.

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Notes

  1. 1.

    Notfälle besitzen ein Eigenrecht wie kaum eine andere Situation. Am deutlichsten zeigt sich dies neben der typischerweise erlaubten Inanspruchnahme von Ausnahmeregeln bzw. dem legitimen Regelübertritt daran, dass in ihnen ein umfassendes Modulationsverbot gilt. Im Notfall steht zu viel auf dem Spiel, als dass ein spielerischer, experimenteller oder ein anderer den Charakter der Situation verändernder Umgang mit ihnen gepflegt werden darf (Ellebrecht 2020, S. 30 f.). Baecker (2009, S. 83, Anm. 47) sieht die Besonderheit von Notfällen dadurch bestimmt, dass die in Notfällen gültige Zeitdimension des Handelns die Sach- und Sozialdimension dominiert. Verschiedene Autorinnen haben kritisiert, dass als Notfälle gerahmte Situationen einen Handlungsdruck generieren, der zur Einstellung jeglicher Gedankenarbeit verführe (Scarry 2011, S. 3–18). Mithin verhindert die für Notfälle typische Konzentration auf die Gegenwart eine kritische Aufarbeitung, wie es zu dem Ereignis gekommen ist (Calhoun 2010).

  2. 2.

    Das diesem Artikel zu Grunde liegende empirische Material wurde im Rahmen dreier Forschungsprojekte erhoben. Weitere Informationen zu den Projekten und den Erhebungen finden sich in Ellebrecht (2020, S. 6–9).

  3. 3.

    Es gibt natürlich Ausnahmen, etwa alle Entscheidungen, die die medizinische Behandlung eines Patienten betreffen. Die genauen Regelungen finden sich in den Feuerwehrgesetzen der Bundesländer.

  4. 4.

    Bei diesen handelt es sich ebenfalls um eine interessante Grenzrolle. Vgl. dazu bereits LaPorte (1996, S. 66).

  5. 5.

    Kristof Magnusson (2014) beschreibt dies gleich zu Beginn seines Romans anhand einer fiktiven Unfallszene anschaulich.

  6. 6.

    Auch das Notärztinnenteam verfügt über drei formale Hierarchiestufen, operiert aber teamförmiger.

  7. 7.

    Diese Fiktion, von der sich der überwiegende Teil der heutigen Medizin wohl bereits gelöst hat, zeichnet den Rettungsdienst noch aus (Kreß 2013). Dass es sich bei der Gleichbehandlung um eine Illusion handelt, wird v. a. in den beiden Arbeiten von (Sudnow 1967) und (Timmermans 1999) herausgearbeitet.

  8. 8.

    Für eine leicht differenziertere Sicht vgl. Vidal und Roberts (2014).

  9. 9.

    Vgl. zu solchen Fällen v. a. die in diesem Band enthaltenen Beiträge zu organisationalem Beschwerdemanagement von Charlotte Renda und zu journalistischen Kontaktsystemen von Teresa Griebau.

  10. 10.

    Vgl. neben dem hier diskutierten Fall den Beitrag von Ahrne und Brunsson (2005) zu Meta-Organisationen.

  11. 11.

    Vgl. Crespin (2007, 41 f.) für einen gegenüber der DIN 13050 (Deutsches Institut für Normung 2009) konkretisierten Vorschlag, dem wohl in den letzten Jahren viele Bezirke gefolgt sein werden.

  12. 12.

    Vgl. die Ausführung von Martin Weißmann (in diesem Band) zu dieser zentralen Herausforderung von Grenzstellen.

  13. 13.

    Kontaktstrukturen unter Führungskräften sind nicht mit den Bindungskräften einer gewachsenen Gruppe zu vergleichen, obgleich auch diese über den Erfolg eines Einsatzes maßgeblich mitbestimmen können. Weick (1993) betont dies in seiner Studie zum Unglück von Mann-Gulch, bei dem ein Einsatzteam desintegrierte und viele Teammitglieder in der Folge umkamen.

  14. 14.

    Vgl. zu Auftragstaktik und kooperativem Führungsstil Ellebrecht (2020, S. 205 f.).

  15. 15.

    Die Anfertigung des vorliegenden Texts wurde durch Fördermittel der Europäischen Union (Horizon 2020, Projekt NO-FEAR, Fördernummer 786670) sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Projekt SoSciBio, Förderkennzeichen 01GP1790) ermöglicht. Zur Datenerhebung vgl. Anm. 2.

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Ellebrecht, N. (2023). Kooperieren und entscheiden im Notfall. Zur Bedeutung hierarchischer Grenzsysteme und arrangierter Kontaktstrukturen für den interorganisationalen Rettungseinsatz. In: Kieserling, A., Weißmann, M. (eds) Organisierte Grenzrollen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40597-7_9

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