Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel befasst sich mit Aspekten von Radikalisierungs- und Co-Radikalisierungsprozessen in islamistischen Kontexten. Zunächst werden wir verschiedene Prozessmodelle darstellen und ausgewählte Wirkfaktoren beschreiben. Ausgehend von diesen grundlegenden Bestimmungen befassen wir uns anschließend mit Prozessen der Co-Radikalisierung. Der Begriff der Co-Radikalisierung ist relativ neu und weist in der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der Radikalisierungsforschung einige Unschärfen auf, die zu Missverständnissen führen können. Daher diskutieren wir drei unterschiedliche Begriffsverständnisse und stellen diese in einer Systematik vor. Die Systematik verfolgt das Ziel unterschiedliche Verständnisse von Co-Radikalisierung mit größerer analytischer Trennschärfe in den Blick nehmen zu können. Damit beabsichtigt der Artikel die wissenschaftliche Diskussion um Phänomene der Co-Radikalisierung in der Radikalisierungsforschung voranzutreiben.
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Notes
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Der vorliegende Text entstand im Rahmen und unter Finanzierung des BMBF-Projektverbundes „Radikaler Islam versus Radikaler Anti-Islam“ (RIRA, FKZ 01UG2032A). Dem BMBF ist für die finanzielle Unterstützung zu danken.
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Wir nehmen hier Bezug auf Erfahrungen aus der Fallarbeit im Projekt „Clearing Verfahren gegen Radikalisierung“, das in Berlin und Nordrhein-Westfalen von 2016–2019 an sechs großen Schulen der Sekundarstufe II erprobt wurde. Im gesamten Projektzeitraum wurden insgesamt 30 Fälle bearbeitet. 11 Fälle waren im Phänomenbereich Rechtsextremismus angesiedelt und 16 Fälle im Bereich Neosalafismus. Aktion Gemeinwesen und Beratung e. V. (Hrsg.): Clearing Verfahren gegen Radikalisierung. 2019. https://www.clearing-schule.de/wp-content/uploads/2019/11/clear_handreichungpdf.pdf (Zugegriffen: 16. Februar 2022).
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Eine ausschließliche Betrachtung der Dynamik zwischen extremistischen und gesellschaftlichen Gruppen zur Erklärung von gesellschaftlicher Abwertung von Muslim:innen in Europa würde jedoch zu kurz greifen. Gerade für den Kontext des Islams in Europa ist auch eine historische Betrachtung der Entstehung und Entwicklung von Islambildern in europäischen Gesellschaften notwendig, um die Entstehung „der Muslime“ als Fremdgruppe nachvollziehen zu können (vgl. Attia 2009). Kurz gesagt gelten Muslim:innen nicht erst seit dem Aufkommen des Islamismus als „Fremde“ in europäischen Gesellschaften.
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Englisches Original “the way in which one form of extremism can feed off and magnify other forms of extremism” (Eatwell 2006, S. 205). Übersetzung durch die Autoren.
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In ihrem Versuch das Konzepts des „cumulative extremism“ zu präzisieren schlagen auch Busher und Macklin (2015) analog zum hier vorgetragenen Argument vor, Eskalationsspiralen zwischen extremistischen Gruppen und breiter gefasste Prozesse von „community polarization“ analytisch zu trennen (S. 888).
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Kiefer, M., Mücke, M. (2023). Radikalisierung und Co-Radikalisierung in islamistischen Kontexten. In: Pickel, S., et al. Gesellschaftliche Ausgangsbedingungen für Radikalisierung und Co-Radikalisierung. Politik und Religion. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40559-5_3
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