Zusammenfassung
Die dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegende Perspektive auf Migration, Stadt und Urbanität folgt einer kontrapunktischen Lesart, welche von Edward Said entwickelt und in seinen Schriften praktiziert wurde (1994). Diese bewirkt einen Bruch mit hegemonialen Interpretationen von Migration, der es uns ermöglicht, historische Kontinuitäten anders zu lesen, eine andere Genealogie der Gegenwart und damit eine „neue Topographie des Möglichen“ zu entwerfen. Aus dieser Lesart rücken ignorierte und marginalisierte Migrationserfahrungen, andere Erzählungen und Gegenentwürfe zur diskurshegemonialen Geschichtsschreibung über Migration in den Fokus des Denkens.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Gemeint sind damit das Denken und Forschen in ethnisierenden Kategorien, ein normalistisches Diktat von Ordnung und Abweichung mit einer Fixierung auf Mangel und Defizite, die es auszugleichen gilt. Es handelt sich um ein Denksystem, das Lebenswirklichkeiten und urbane Praktiken anhand historisch konstruierter Deutungen von Normalität beurteilt bzw. abwertet. Eine solche „migrantistische“ Denkart hat über lange Zeiträume eine Vorstellung von Normalität hervorgebracht, die Teilen der Migrations-, Integrations- und Segregationsforschung noch heute zugrunde liegt.
- 2.
Henri Lefebvre hat zwischen urbanistischer und urbaner Praxis unterschieden. Während erstere die dominanten Normalitätsvorstellungen umfasst, bezeichnet letztere die urbanen Alltagspraktiken und Lebenswirklichkeiten der Menschen vor Ort (vgl. Lefebvre 2016).
- 3.
Hier beziehe ich mich auf die Ideen, die ich in einem Beitrag über „Hinterhofmoscheen“ entwickelt habe (vgl. Yildiz 2022).
- 4.
Viele städtische bzw. urbane Orte sind ursprünglich synchrone Orte, die im Nachhinein vereindeutigt wurden, indem etwa monofunktionale Räume konzipiert wurden, wie bspw. reine Wohngebiete oder reine Gewerbegebiete bzw. Einkaufszentren außerhalb der Stadt. Eine nachhaltige und zukunftsorientierte Stadtentwicklung müsste synchrone Räume mit verschiedenen, gleichzeitig stattfindenden sozialen Aktivitäten konzipieren. In solchen Räumen sollten mehr und andere Praktiken stattfinden als nur solche, die auf bestimmte Interessengruppen beschränkt sind. Solche Räume können gleichzeitige Praktiken fördern und neue Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten bieten.
Literatur
Back, Les und Shamser Sinha. 2016. Multikulturelles Zusammenleben in den Ruinen des Rassismus. Das Argument 318(4):522–533.
Bahrdt, Hans Paul. 1961. Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen. Hamburg: Rowohlt.
Beck, Ulrich. 2003. Verwurzelter Kosmopolitismus: Entwicklung eines Konzeptes aus rivalisierenden Begriffsoptionen. In Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, Hrsg. Ulrich Beck, Natan Sznaider und Rainer Winter, 25–43. Bielefeld: transcript.
Beck, Ulrich. 2016. Die Metamorphose der Welt. Berlin: Suhrkamp.
Bhabha, Homi K. 2000. Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg.
Bukow, Wolf-Dietrich. 2018. Wandel der Urbanität. Die Wiederentdeckung des Quartiers als Raum glokal-gesellschaftlicher Wirklichkeit. In Die kompakte Stadt der Zukunft. Auf dem Weg zu einer inklusiven und nachhaltigen Stadtgesellschaft, Hrsg. Nina Berding, Wolf-Dietrich Bukow und Karin Cudak, 79–104. Wiesbaden: Springer.
Bukow, Wolf-Dietrich und Erol Yildiz. 2002. Der Wandel von Quartieren in der metropolitanen Gesellschaft am Beispiel Keupstraße in Köln oder: Eine verkannte Entwicklung? In Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ist die multikulturelle Stadt gescheitert oder wird sie zu einem Erfolgsmodell?, Hrsg. Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yildiz, 81–111. Opladen: Leske + Budrich.
Bukow, Wolf-Dietrich und Erol Yildiz. 2020. Von einer synchronen Quartierentwicklung zur Mobilitätswende. In Die Zukunft gehört dem urbanen Quartier. Das Quartier als eine alles umfassende kleinste Einheit von Stadtgesellschaft, Hrsg. Nina Berding und Wolf-Dietrich Bukow, 183–200. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Burke, Kenneth. 1954. Permanence & Change: An Anatomy of Purpose. Los Altos/Californien: Hermes Publications.
Ceylan, Rauf. 2006. Ethnische Kolonien. Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel türkischer Moscheen und Cafés. Wiesbaden: Springer.
Csáky, Moritz. 2010. Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien: Böhlau.
Deben, Leon und Jacques van de Ven. 2008. Fünfhundert Jahre Erfolg durch Immigration. Eine kurze Chronik Amsterdams. In Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource, Hrsg. Erol Yildiz und Birgit Mattausch, 42–51. Basel: Birkhäuser.
Eymold, Ursula und Andreas Heusler, Hrsg. 2018. Migration bewegt die Stadt. Perspektiven wechseln. München: Allitera.
Gilroy, Paul. 2004. After Empire. Melancholia or Convivial Culture? Oxfordshire: Routledge.
Illich, Ivan. 2014. Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. München: Beck.
Jansen, Stephan A. 2017. Magnetische Metropolen. Über die Anziehungskraft von beweglichen Städten. In Kursbuch 190: Stadt. Ansichten, Hrsg. Peter Felixberger und Armin Nassehi, 52–74. Hamburg: Murmann.
Jáuregui, Jorgo Mario. 2006. Rio ist so etwas wie ein Zukunftslaboratorium. Ein Gespräch mit Jorgo Mario Jáuregui über die Urbanisierung von Favelas. In FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und Sao Paulo, Hrsg. Elisabeth Blum und Peter Neitzke, 75–102. Basel: Birkhäuser.
Jonuz, Elizabeta und Erika Schulze. 2011. Vielfalt als Motor städtischer Entwicklung. Das Beispiel der Keupstraße in Köln. In Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, Hrsg. Wolf-Dietrich Bukow, Gerda Heck, Erika Schulze und Erol Yildiz, 33–48. Wiesbaden: Springer.
Krämer-Badoni, Thomas. 2002. Urbanität und gesellschaftliche Integration. In Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ist die multikulturelle Stadt gescheitert oder wird sie zu einem Erfolgsmodell?, Hrsg. Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yildiz, 47–62. Opladen: Leske + Budrich.
Krämer, Stefan und Chantal Munsch. 2019. Vorwort. In Gemeindezentren türkischstämmiger Muslime als baukulturelle Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte, Hrsg. Wüstenrot Stiftung, Kathrin Herz, Chantal Munsch und Marko Perels, 4–7. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung.
Kron, Stefanie. 2014. Migration ist die Stadt. Jungle World vom 18. September (Nr. 38).
Le Goff, Jacques. 1992. Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt: Campus.
Lefebvre, Henri. 2016. Das Recht auf Stadt. Hamburg: Edition Nautius.
Mitterer, Josef. 2011. Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Weilerswist: Velbrück.
Museen der Stadt Wien, Hrsg. 1996. Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien.
Nassehi, Armin. 2017. Kein Editorial. Urbanität als Anerkennungsmedium. In Kursbuch 190: Stadt. Ansichten, Hrsg. Peter Felixberger und Armin Nassehi, 3–9. Hamburg: Murmann.
Orywal, Erwin. 2007. Kölner Stammbaum. Zeitreise durch 2000 Jahre Migrationsgeschichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Rancière, Jacques. 2018. Das Unvernehmen: Politik und Philosophie, 7. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp (Original 2002).
Reder, Christian. 2020. Mediterrane Urbanität. Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas. Wien: Mandelbaum.
Römhild, Regina. 2018. Konvivialität – Momente von Post-Otherness. In Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Hrsg. Marc Hill und Erol Yildiz, 63–72. Bielefeld: transcript.
Rolshoven, Johanna. 2021. Stadtforschung als Gesellschaftsforschung. Eine Einführung in die Kulturanalyse der Stadt. Bielefeld: transcript.
Said, Edward W. 1994. Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt: Suhrkamp.
Sennett, Richard. 2018. Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens. Berlin: Hanser.
Sottong, Hermann. 2017. Stadt. Bürger. Sinn. Glanz und Elend von Stadtpolitik – der Fall Regensburg. In Kursbuch 190: Stadt. Ansichten, Hrsg. Peter Felixberger und Armin Nassehi, 81–104. Hamburg: Murmann.
Wildner, Kathrin. 2012. Transnationale Urbanität. In Handbuch Stadtsoziologie, Hrsg. Frank Eckardt, 213–229. Wiesbaden: Springer.
Wüstenrot Stiftung, Kathrin Herz, Kathrin, Chantal Munsch und Marko Perels, Hrsg. 2019. Gemeindezentren türkischstämmiger Muslime als baukulturelle Zeugnisse deutscher Migrationsgeschichte. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung.
Yildiz, Erol. 2017. Stadt, Migration und Vielheit: Vom hegemonialen Diskurs zur Alltagspraxis. In Die ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums, Hrsg. Jürgen Krusche, 62–78. Berlin: jovis.
Yildiz, Erol. 2018. Vom methodologischen Nationalismus zu postmigrantischen Visionen. In Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Hrsg. Marc Hill und Erol Yildiz, 43–62. Bielefeld: transcript.
Yildiz, Erol. 2022. ‚Hinterhofmoscheen‘ als Transtopien. In Moscheen in Bewegung. Interdisziplinäre Perspektiven auf muslimische Kultstätten der Migration, Hrsg. Ömer Alkin, Mehmet Bayrak und Rauf Ceylan, 41–56. Berlin: Walter de Gruyter.
Yildiz, Erol und Marc Hill. 2012. Migration ist Normalität. Ihr Beitrag zur Urbanisierung am Beispiel des Griesviertels in Graz. In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich, Hrsg. Julia Dahlvik, Heinz Fassmann und Wiebke Sievers, 231–247. Wien: Vienna University Press.
Yildiz, Erol und Birgit Mattausch, Hrsg. 2009. Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource. Basel: Birkhäuser.
Zeppenfeld, Stefan. 2021. Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin. Berlin: Wallerstein.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Yildiz, E. (2023). Bausteine zu einer Ethik urbaner Konvivialität. In: Bukow, WD., Rolshoven, J., Yildiz, E. (eds) (Re-) Konstruktion von lokaler Urbanität. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39635-0_7
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-39635-0_7
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-39634-3
Online ISBN: 978-3-658-39635-0
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)