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1 Kriminalisierung als Ausschließungsmechanismus

Mit dem Begriff der crimmigration wird aktuell die Verknüpfung von Migration und Kriminalisierung beschrieben.Footnote 1 Migration wird hiernach in erster Linie als Sicherheitsproblem gerahmt, zumindest insoweit es sich nicht um ‚nützliche‘ Fremde handelt, die sich in die ökonomische Strukturlogik einfügen. Über die Verhandlung eines Teils der Migration als Problem Innerer Sicherheit wird Fremdheit und Nichtzugehörigkeit signalisiert. Crimmigration bezeichnet so ein ethnisierendes und kriminalisierendes Verfahren zugleich, das den Fremden in zweifacher Weise als Anderen exkludiert: Er gehört weder in die nationale noch in die moralische Gemeinschaft. Der Krimmigrant ist in erster Linie als Eindringling charakterisiert, den es loszuwerden gilt, was seine Not und Geschichte vor der Migration wie auch die Bedingungen der Migration weitgehend überlagert. Erst recht gilt dies, wenn Migration mit einem Terrorrisiko und mit anderen schwerwiegenden, v. a. auch sexuellen Straftaten verknüpft wird. Diese Rahmung vermag Empathie und Mitverantwortung zu neutralisieren, die etwa die Bilder von ertrinkenden Flüchtenden zunächst auslösten. Daher wirkt diese Risikorahmung als „Erleichterung, von der Verantwortung für das Schicksal der Notleidenden und der Last einer moralischen Verpflichtung befreit zu sein“Footnote 2.

Die internationale Forschung zu crimmigration konzentriert sich vornehmlich auf das Polizieren der Landesgrenzen, die – zunehmend entmilitarisiert – mit Mitteln der Kriminalisierung geschützt werden. Die europäische Forschung „zielt auf die Grenzen im Inneren, die Allgegenwart der Grenze über Polizeikontrollen, der bestimmte Personengruppen beständig ausgesetzt sind, auch ohne eine physische Staatsgrenze zu überschreiten“Footnote 3. Einen Eindruck von dem Ausmaß, dem Vorgehen und der Wirkung polizeilicher Kontrollen von Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund vermittelt das Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“. Die gehäuften Kontrollen im öffentlichen Raum erzeugen bei den Betroffenen ein Schamgefühl und den Eindruck, „nicht zur Gesellschaft dazuzugehören“Footnote 4. Das Publikum und möglicherweise auch die polizeilichen Akteure selbst mögen mit den Kontrollen in ihrer Überzeugung gestärkt werden, dieser Personenkreis werde nicht ohne Grund überprüft. Nicht allein die Wahrscheinlichkeit steigt mit jeder Kontrolle, den Kriminalitätsverdacht irgendwann auch bestätigt zu finden. Selbst wenn dieser polizeiliche Erfolg ausbliebe, bedürfte es einer grundlegenden Infragestellung tiefsitzender Überzeugungen, wonach die Fremden eben auch krimineller sind, die als objektiviertes „Erfahrungswissen“ eine hohe Bestandsfestigkeit aufweisen.Footnote 5

Diese Verquickung von Migration mit Kriminalität führt zum einen zu einer wolkigen Rahmung von Wanderungsbewegungen als Sicherheitsproblem.Footnote 6 Zum anderen ermöglicht das Migrationsrecht deutlich mehr Spielraum für Maßnahmen als das Strafrecht. Käme jenes zur Anwendung, wären damit die rechtsstaatlichen Garantien (Recht auf ein faires Verfahren) einzuhalten, wohingegen das nationale Aufenthaltsrecht den Betroffenen deutlich weniger Schutz vor Zwangsmaßnahmen (Ausweisung, Abschiebung, Versagung der Staatsangehörigkeit, Aberkennung oder Nichtanerkennung als Flüchtling und Festnahme) gewährt. „Die strafrechtliche Kontrolle von Ausländern folgt damit einer Logik des Ausschlusses, die gerade in primär auf Resozialisierung ausgerichteten kriminalpolitischen Systemen scharf von dem „Normalfall“ der Behandlung von straffälligen Inländern abweicht.“Footnote 7 Soliman stellt fest, dass das rechtsstaatliche Strafrecht für die Bürger eines Landes reserviert ist, wohingegen Migranten hiervon ausgeschlossen werden können. Sie erkennt hierin einen Ausdruck des Ausnahmezustandes, wie ihn Agamben ausgearbeitet hat.Footnote 8

Hiernach beruhten die modernen Nationen auf der Macht des Souveräns, über den Ausnahmezustand zu entscheiden, in welchem alle Bürger homines sacri seien. „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.“Footnote 9 Dieses „nackte Leben“ steht jenseits des natürlichen Lebens und auch jenseits des politischen Lebens im Sinne eines guten Lebens. Der homo sacer gelangt über den Ausnahmezustand ins Zentrum des politischen Lebens, ohne selbst als Subjekt Teil hiervon zu sein.Footnote 10 Er steht im Bann der souveränen Macht, die ihn nicht einfach sich selbst überlässt, sondern ihn über den Bann an sich bindet.Footnote 11 Eingeschlossen wird das „nackte Leben“ im Lager. Das Lager resultiere hiernach aus einer Krise des Nationalstaates, in welchem die „automatischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität und Nationalität)“ nicht mehr funktionierten.Footnote 12

Guantánamo, in welchem die Gefangenen (so definierte „unlawful combatants“) außerhalb einer Rechtsordnung festgehalten, einem Sondergericht zugeführt und Folter ausgesetzt sind, bezeichnet sicherlich das eindrücklichste Beispiel für diese Art rechtloser „Nicht-Orte“Footnote 13. In gewisser Weise ist die Flüchtlingspolitik aber insgesamt über die Merkmale dieser Biomacht charakterisiert, im Modus des – wenn auch meist nicht formell ausgerufenen – Ausnahmenzustandes zu verbannen und straflos zu töten (etwa durch Ausweisung in nur scheinbar sichere Herkunftsstaaten, durch Zurückdrängen von Flüchtenden usw.). Im Abkommen zwischen der Türkei und der EU wird ein Ausnahmezustand ebenfalls nicht ausgerufen, sondern als „vorübergehende und außerordentliche Maßnahme“ chiffriert, in dem „irreguläre Migranten“ von Griechenland in die Türkei zurückgeführt werden, also über einen Bann von dem Grenzübertritt in die EU ferngehalten werden sollen. Einen irregulären Grenzübertritt gar nicht erst versucht zu haben, bevorzugt wiederum die syrischen Flüchtlinge, die die EU im Gegenzug für die Aufnahme von Migranten in der Türkei aufnimmt. Diese Maßnahmen seien erforderlich „zur Beendigung des menschlichen Leids und zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“Footnote 14. Unter „biopolitics of otherness“ versteht Fassin daher eine „Politik der Grenzen und Begrenzungen, Zeitlichkeit und Räumlichkeit, Staaten und Bürokratien, Inhaftierung und Abschiebung, Asyl und Humanitarismus“.Footnote 15

Auch wenn Agamben die Freund/Feind-Unterteilung von Carl Schmitt kritisiert und seine Klassifizierungen entgegensetzt vom „nackten Leben/politischer Existenz, von zoé und bios, Ausschluss/Einschluss“Footnote 16, erinnert die Unterteilung in ein (Binnen-)Strafrecht, das für die regulären Bürger eines Landes zuständig ist, und einem nationalen Aufenthaltsrecht sowie den supranationalen Regelungen gegen irreguläre Einwanderung an das Feindstrafrecht, das Günther Jakobs dem Bürgerstrafrecht entgegensetzt. Das Feinstrafrecht ist eine „Bekämpfungsgesetzgebung“, in der es um die Beseitigung einer Gefahr geht.Footnote 17 Sie gelte und agiere weit im Vorfeld einer Tat. Es gehe nicht um den strafenden Ausgleich eines „Normgeltungsschadens“, sondern um „die Beseitigung einer Gefahr“, die Jakobs insbesondere im Terrorismus erkennt.Footnote 18 Wer also das rechtsstaatliche Strafverfahren für die Bürger gewähren will, „sollte das, was man gegen Terroristen tun muß, wenn man nicht untergehen will, anders nennen, eben Feindstrafrecht, gebändigten Krieg“Footnote 19. Damit entspricht das Feindstrafrecht der „präventiven Sicherheitslogik“, die die rechtsstaatliche Freiheitslogik verdränge.Footnote 20 Gedacht ist das Feindstrafrecht für Individuen, die die staatliche Rechtsordnung auf Dauer nicht respektieren und ihr zuwiderhandeln. Sie gelten nicht mehr als Personen, sondern werden zu nicht ansprechbaren Adressaten erklärt. Das Mittel, welches das Feindstrafrecht hierfür vorsieht, ist das der Exklusion. Feindstrafrecht sei im Grunde kein Recht mehr, sondern Krieg, der im Naturzustand der „Normlosigkeit, also exzessiver Freiheit wie exzessiven Kampfes“ geführt werde.Footnote 21

2 Der nützliche gefährliche Fremde

Crimmigration schlägt sich im gesellschaftlichen Diskurs entsprechend in einer Versicherheitlichung von Migration nieder. So erscheinen Sicherheitskonzepte leicht als Heilsbotschaft, der Anbieter von Sicherheit als Retter in der Not. „Sicherheit“ wird zum Widerpart oder Ausfall von „Politik“Footnote 22 und resultiert aus einem sekuritisierenden Sprechakt als eine „selbstreferenzielle Praxis, da es diese Praxis ist, die aus einem Sachverhalt ein Sicherheitsproblem macht […], indem das Thema als eine solche Bedrohung dargestellt wird“Footnote 23. Damit umschreiben die Autoren der Kopenhagener Schule ähnlich wie Agamben die Aushebelung des politischen Betriebs über die Innere Sicherheit: „entsprechend der gegenwärtigen Tendenz in allen westlichen Demokratien wird die Erklärung des Ausnahmezustands zunehmend ersetzt durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normaler Technik des Regierens.“Footnote 24 Wird ein Phänomenbereich diesem Deutungsrahmen von Sicherheit/Unsicherheit unterworfen, sind mit einem gewissen Automatismus Entschlossenheit demonstrierende Politiker, hart durchgreifende Sicherheitsorganisationen und Maßnahmen gefordert, denen zugetraut wird, die Gefahr um jeden Preis zu bannen. Unter dem Eindruck der „Gefahr im Vollzug“ herrscht leicht eine Panikstimmung, die einzig noch Rettung ersehnt. Dann schlägt die Stunde der „Macher“, die selbst dem bis zur islamistischen Anschlagserie in Paris 2015 unbeliebtesten Präsidenten Hollande die Chance bot, seine Umfragewerte über die Ausrufung des Ausnahmezustandes erheblich zu steigern.Footnote 25

Murray Edelman bestimmt in seiner Studie „Politik als Ritual“ überzeugend die Bedingungen für die gesellschaftliche Anfälligkeit gegenüber einer Versicherheitlichung. „Entfremdung, Orientierungsverlust und die fehlende Aussicht, in dieser komplexen und verunsichernden Welt, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können“ führten dazu, dass man „Zuflucht zu abstrakten Symbolen, die einem Sicherheit versprechen und Identifizierung ermöglichen“, sucht.Footnote 26 Ein Ventil der Unsicherheit bieten nach Edelman die „Verdichtungssymbole“Footnote 27, „die unterschiedliche Ängste und Emotionen vereinen“, ohne sich an der Wirklichkeit messen lassen zu müssenFootnote 28. Damit verstärke sich die Attraktivität einer politischen Führung, die sich „als Protagonist gegen einen fiktiven Feind“ geriert.Footnote 29 Die Kriminalpolitik richte sich entsprechend danach aus und wirbt mit Maßnahmen, „die sich am leichtesten als stark, klug und entweder effektiv oder expressiv darstellen lassen“ und nah an der Stimmung der Bevölkerung operieren.Footnote 30

An zahlreichen Studien lässt sich die Stimmung gegen Migration belegen. Der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen wird nach einer Befragung des KFN deutlich überschätzt.Footnote 31 Ähnliches zeigt sich in der Schweiz, in der 68,8 % der Befragten von einem Anstieg der durch Ausländer begangenen Straftaten ausgehen.Footnote 32 Gut die Hälfte der erwachsenen Befragten (und 34,6 % der Jugendlichen) meint, es lebten zu viele Ausländer in der Schweiz.Footnote 33 Die fremdenfeindlichen Ressentiments richten sich v. a. gegen muslimische Einwanderer. So ist ein gutes Viertel der Schweizer der Meinung, Muslimen sollte die Zuwanderung in die Schweiz untersagt werden.Footnote 34 Eine negative Kriminalitätsentwicklung in der Gemeinde innerhalb der letzten drei Jahre führt rd. ein Drittel der Züricher Befragten Ende der 1980er Jahre auf die Zunahme von Ausländern und Flüchtlingen zurück.Footnote 35 In einer Regionalanalyse in Neubrandenburg gab der mit Abstand größte Teil der Befragten als Grund für regionale Unsicherheit „Ausländer“ in einem Freitext an.Footnote 36 Hirtenlehner und Groß stellen für Linz fest, „dass zwischen Verbrechensfurcht, Straflust und Fremdenfeindlichkeit eine nahezu blickdichte Verbindung besteht“Footnote 37.

Migration wird vor allem mit schwerer Gewaltkriminalität verknüpft. Hestermann zählt für das Jahr 2019, dass fast ein Drittel der Fernsehberichte zu Gewaltkriminalität die Herkunft des Tatverdächtigen nennt.Footnote 38 Ein ausländischer Tatverdächtiger wird etwa achtmal so oft erwähnt wie ein deutscher. Die Analyse überregionaler Tageszeitungen, überwiegend aus dem Spektrum der Qualitätspresse, kommt zu einer noch deutlicheren Verzerrung. Hier werden ausländische Tatverdächtige 14mal häufiger genannt als inländische. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist einen Ausländeranteil von 30,9 % aus.Footnote 39 Die Nachrichten präsentieren jedoch nicht nur einen erheblich überzogenen ausländischen Tatverdächtigenanteil, sondern sie vermitteln zugleich auch ein Bild von der Qualität der Ausländer(kriminalität). In die Nachrichten gelangen vor allem jene Fälle, die als besonders und zugleich als alltäglich vermittelt werden können. Emotional aufwühlende Ereignisse, etwa durch die Schwere der Tat, deren Ausführung oder durch eine starke Täter-Opfer-Polarität (wehrlose, „unschuldige“ Opfer) sowie Taten, die jederzeit und überall passieren, also auch den Rezipienten treffen könnten, haben einen Nachrichtenwert und werden zugleich wegen der Schwere am ehesten mit einem Herkunftshinweis auf den Täter versehen.Footnote 40 Die Figur des kriminellen Ausländers verweist also nicht allein auf eine höhere Tatverdächtigenbelastung von Ausländern, sondern auf medialer Ebene erfolgt Crimmigration außerdem als ein weiteres Othering der Täter, die mit den berichteten besonderen Taten außerhalb der Ordnung zu stehen scheinen. Zugleich erfährt der Nachrichtenrezipient Ausländerkriminalität als fortwährende Nahraumbedrohung.

Der „kriminelle Ausländer“ stellt in unsicheren Zeiten eine Art Minimalbasis für soziale Distinktion bereit. Ähnlich wie der Sexualstraftäter in der Gefängnishierarchie als Negativfolie und zur Selbsterhöhung selbst für schwerkriminelle Gefangene herhalten muss, bietet die Figur des kriminellen Ausländers eine geradezu perfekte Quelle weitgehend voraussetzungsloser Anerkennung. Der gefährliche Fremde stellt eine Sozialfigur bereit, von der sich abzuheben nicht viel verlangt. Selbst eine strukturelle Nähe hierzu, etwa weil man selbst auch Straftaten begeht, auf eine eigene Migrationsgeschichte zurückblickt oder die prekäre Soziallage mit denen teilt, auf die man verächtlich herabzublicken sucht, erlaubt es noch, sich im ausreichenden sozialen Abstand zum „kriminellen Ausländer“ zu wähnen. Es reicht, sich zu den Alteingesessenen zählen zu dürfen oder sich zumindest mit ihnen zu identifizieren. Für den Rückgriff auf das Merkmal der Etablierten, um für sich Privilegien zu beanspruchen, die den neuerlich Hinzugekommenen verwehrt werden sollten, braucht es nicht mehr als schon vorher dagewesen zu sein.

Gerade die von Abstiegsängsten betroffenen Bevölkerungsteile scheinen daher anfällig, sich wenigstens aus ihrer längeren Ortsansässigkeit Überlegenheitsansprüche herzuleiten. „Die Migranten stehen für jenen ersehnten Boden, der noch tiefer liegt – noch unterhalb des Bodens, auf den die einheimischen misérables verwiesen wurden – und der das eigene Schicksal etwas weniger entwürdigend und damit etwas weniger bitter und unerträglich erscheinen lässt.“Footnote 41 Die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, deren Daten 2018/2019 erhoben wurden, weist daher insbesondere für untere und mittlere Einkommensgruppen eine starke Zustimmung zu den sog. Etabliertenvorrechten aus.Footnote 42 Ähnlich ermitteln auch Hirtenlehner und Groß für Oberösterreich: „Abstiegsängste und Statuspanik bilden kombiniert mit tiefgehenden Sorgen um den eigenen Wohlstand den Nährboden, auf dem Kriminalitätsfurcht, Punitivität und Fremdenfeindlichkeit gedeihen.“Footnote 43

Elias und Scotson beschreiben diesen Mechanismus auf der Grundlage einer um 1960 durchgeführten empirischen Studie im britischen Leicester, in dem sich zwischen alteingesessenen Vierteln und einem neueren Bezirk eine Etablierten-Außenseiter-Figuration zeigte. Der ehemals kriminalitätsbelastete Bezirk behielt sein schlechtes Image auch, nachdem einige hierfür verantwortlich gemachte Familien weggezogen waren.Footnote 44 „Hier konnte man beobachten, daß das bloße ‚Alter‘ einer Formation mit allem, was es in sich schließt, einen Grad an Gruppenzusammenhalt, kollektiver Identifizierung und Gemeinsamkeit der Normen zu schaffen vermag, der genügt, um bei Menschen das befriedigende Hochgefühl zu erzeugen, das mit dem Bewußtsein, einer höherwertigen Gruppen anzugehören, und der komplementären Verachtung für andere Gruppen verbunden ist.“Footnote 45. Die mächtigere Gruppe der langjährigen Bewohner empfänden sich als überlegen, ausgestattet mit einem Gruppencharisma, das der anderen Seite der Zugezogenen fehle. „Immer wieder läßt sich beobachten, daß Mitglieder von Gruppen, die im Hinblick auf ihre Macht anderen, interdependenten Gruppen überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre menschliche Qualität besser als die anderen.“Footnote 46

Die Machtrelation zwischen Etablierten und Außenseitern beruht hiernach gerade nicht auf den zur Begründung der Marginalisierung herangezogenen Merkmalen, wie die höhere Kriminalitätsanfälligkeit, relative Armut, Ethnizität/Rasse, was nicht zufällig oft in der Gesamtheit den Ausgeschlossenen zugeschrieben wird. Die Machtrelation hierauf zurückzuführen, dient eben deren Verdeckung und damit der Naturalisierung sozialer Ungleichwertigkeit. „Es scheint, dass Begriffe wie ›rassisch‹ oder ›ethnisch‹, die in diesem Zusammenhang sowohl in der Soziologie als auch in der breiteren Gesellschaft weithin gebraucht werden, Symptome einer ideologischen Abwehr sind. Durch ihre Verwendung lenkt man die Aufmerksamkeit auf Nebeneffekte dieser Figuration (z. B. Unterschiede der Hautfarbe) und zieht sie ab vom zentralen Aspekt (den Machtunterschieden).“Footnote 47

Ähnlich beschrieb diesen gesellschaftlichen Mechanismus schon Max Weber, nach dem soziale Ungleichheit über eine natürliche oder über eine soziale Hierarchie durch Leistungskriterien von Verdienst und Schuld begründet und legitimiert wird, wenn er feststellt, dass „der günstiger Situierte das nicht rastende Bedürfnis fühlt, den zu seinen Gunsten bestehenden Kontrast als ‚legitim‘, seine eigene Lage als von ihm ‚verdient‘ und die des anderen als von jenem irgendwie ‚verschuldet‘ ansehen zu dürfen. […] Die ‚Legende‘ jeder hochprivilegierten Gruppe ist ihre natürliche, womöglich ihre ‚Bluts‘-Überlegenheit.“Footnote 48

3 Kulminationspunkt: Silvester 2015/2016

Vor allem die Ereignisse in der Silvesternacht haben zu einer deutlichen Verdichtung dieses Prozesses der crimmigration geführt, indem Flüchtlinge aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum bezichtigt wurden, Frauen in Deutschland systematisch ausgeraubt und sexuell angegangen zu haben. Die von der Kanzlerin ausgegebene Parole „Wir schaffen das“ schien nun endgültig desavouiert. In der aufgeregten gesellschaftlichen Debatte hierüber begegneten sich auf eindrückliche Weise Feminismus, Sexismus und Rassismus. Für alle politischen Positionen schien diese Nacht von besonderem Belang, um hieran ihre Positionen zu schärfen.

Erwartbar ließ sich dieser Vorfall von stramm rechter Seite ausschlachten, um hierin eine naive „Willkommenskultur“ der Bundesregierung festzumachen, vor der schon längere Zeit gewarnt wurde, eine Überforderung der Polizei und Kritik an einer medial verzerrten und verzögerten Berichterstattung zu artikulieren. Dagegen erkennt eine liberal-feministische Lesart in den sexualisierten Übergriffen nur eine weitere Artikulation männlicher Herrschaft. Sie setzt die Taten in einen breiteren Kontext patriarchaler Machtdemonstrationen und verzichtet gänzlich darauf, die Ereignisse zu ethnisieren. Im Gegenteil: In den Übergriffen hätte sich gerade nicht Fremdheit gezeigt, sondern eine über alle Kulturen hinweg geltende patriarchale Herrschaft. Unter dem Hashtag „ausnahmslos“ wird daher kritisiert, dass sexuelle Übergriffe etwa auf dem Oktoberfest nicht im Ansatz so starke Resonanz erfahren wie die sexuellen Übergriffe durch die sog. „Nafris“.

Öffentlich durchgesetzt hat sich aber eine dezidiert fremdenfeindliche Deutung, die weniger die Taten selbst, als die Herkunft der Täter in den Mittelpunkt rückt. Diese Sicht bedient sich allerdings feministischer Forderungen. Diese Deutung als eine Art Kulturkonflikt wurde durch das Bundeskriminalamt in die Welt gesetzt. Ausgeführt wird im Bericht des Innenministeriums an den Landtag:

„Die Tatbegehungsform sexualisierter Gewaltstraftaten durch Gruppen in Verbindung Eigentums-/Raubdelikten ist in der Ausprägung der Kölner Gewalttaten in Deutschland bisher nicht aufgetreten. Diese Gewaltstraftaten sind insbesondere von den bereits polizeilich seit längerem verfolgten sogenannten ‚Antanzdelikten‘ deutlich zu unterscheiden. […] So liegen dem Bundeskriminalamt Erkenntnisse dazu vor, dass in arabischen Ländern ein Modus Operandi bekannt ist, der als ‚taharrush gamea‘ (gemeinsame sexuelle Belästigung in Menschenmengen) bezeichnet wird. Darüber wurde z. B. anlässlich der ägyptischen Revolution von den Medien berichtet.“ (MI NRW 2016), S. 15.

„Taharrush gamea“Footnote 49 – die gemeinschaftliche begangene sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum – lautete die von den Medien am selben Tage übernommene Erklärung. „Das Phänomen ‚taharrush gamea‘ ist in Deutschland angekommen“, titelte etwa die WELT am 10. Januar 2016Footnote 50 neben vielen ähnlich lautenden Titeln anderer Tageszeitungen. Bekannt wurde dieses Phänomen im Kontext der regierungskritischen Demonstrationen in Ägypten ab 2005. Vereinte der Protest verschiedene politische Strömungen, stehen die staatlichen Sicherheitsapparate unter Verdacht, die sexuelle Gewalt im Rahmen des Demonstrationsgeschehens initiiert (und selbst in Verhörtechniken bei Frauen darauf zurückgegriffen) zu haben, um zwischen den Regierungskritikern Zwietracht zu säen und die hierfür bezichtigten jungen aufständischen Männer der Arbeitsklasse wegzusperren.Footnote 51

Zum folgenden Jahreswechsel 2016/2017 stand v. a. die Kölner Polizei unter Druck, proaktiv gegen eine Wiederholung der Ereignisse vom vergangenen Jahr vorzugehen. Sie meldete über Twitter spürbar atemlos, in Köln würden „mehrere hundert Nafris“ überprüft. Das Kürzel entstammt dem „Analyseprojekt Nordafrikanische Straftäter“ der Kölner Polizei, klärt u. a. die BILD-Zeitung kurz nach Silvester 2015/2016 auf. Hierunter fallen Staatsangehörige aus Ägypten, Algerien, Libanon, Libyen, Marokko, Syrien und Tunesien, die meist zwischen 15 und 25 Jahre alt seien, insbesondere in den Deliktbereichen Raub, Körperverletzung, Betäubungsmittel und Taschendiebstähle sowie durch besondere Aggressivität auffielen.Footnote 52 Zu kritisieren ist es sicher nicht, im Folgejahr gezielt Männer mit nordafrikanischem Erscheinungsbild zu kontrollieren. Der Vorwurf des Racial Profiling verfängt hier nicht, weil nicht die ethnische Zugehörigkeit selbst die Kontrollen begründete, sondern die entsprechenden Hinweise zu der ethnischen Herkunft der Täter aus dem Vorjahr. Einige Meldungen der Polizei lassen aber doch aufhorchen, ob man es im Falle der Ausländerkriminalität mit notwendigen Differenzierungen nicht so genau nimmt.

Empört reagierten einige linksliberale Kräfte bereits auf den Begriff „Nafri“. Ob er nun abwertend klingt oder Ähnlichkeiten zum N-Wort aufweist, lässt sich nicht klären. Allerdings, dass Täter nach der (vermeintlichen) Herkunftsregion zusammengefasst und benannt werden, steuert den Verdacht und nährt die falsche kausale Annahme, diese Herkunftsregion begünstige bestimmte Straftaten. Diese Überzeugungen strukturieren dann das polizeiliche Vorgehen und Deuten. Während der Tweet die Kontrolle phänotypisch der nordafrikanischen Region zugeordneter Personen vermeldete, bei denen erst noch festgestellt werden sollte, ob eine Straftat vorliegt (gar eine Intensivtäterschaft), verweist das Kürzel bereits auf eine Intensivtäterschaft. An dieser scheinbaren sprachlichen Ungenauigkeit, ob „Nafri“ nun für Nordafrikaner oder für nordafrikanische Intensivtäter steht, lässt sich ablesen, dass diese Herkunftsregion mit hoher Straffälligkeit in eins gesetzt wird und bei dieser Klientel das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung nicht weiter von Belang ist.

Das zeigt sich auch an der Meldung des Polizeipräsidenten, Jürgen Mathies, nach Neujahr, es seien 1000 Nordafrikaner kontrolliert worden. Die Zahl schrumpft in den Folgetagen merklich zusammen auf rund siebzig Personen aus Algerien und Marokko, die durch die Kölner Polizei und die Bundespolizei überprüft wurden. Der überwiegende Teil derer, deren Nationalität geklärt werden konnte, hatte eine andere Staatsangehörigkeit. Darunter befanden sich auch 94 SyrerFootnote 53, die von der Polizei irrtümlich ebenfalls den „Nafris“ zugeordnet werden, obwohl sie weder geografisch noch hinsichtlich ihrer Kriminalitätsbelastung in das polizeiliche Bild von „Nafris“ passen. Die Nordafrikaner blieben bei den Kontrollen also gegenüber anderen Herkunftsstaaten eindeutig in der Minderheit, und das, obwohl die Kontrollen auf die sog. Nafris abzielten. Trotzdem titelte etwa der Focus „CDU-Politiker zu Silvesternacht 2016: ‚Haben versucht, deutschen Staat anzutanzen‘, den CDU-Innenpolitiker zitierend. Die Kölner Polizei hätte „robust und konsequent“ reagiert.Footnote 54

Dass sich diese Interpretation abseits der Faktenlagen trotzdem durchsetzen konnte, lässt sich sicher damit erklären, dass sie auf das vertraute Erklärungsmuster der Ausländerkriminalität zurückgreift, wonach es sich hierbei eben nicht um eine artifizielle statistische Kategorie der Polizei handelt, sondern um einen ganz eigenen Kriminalitätsbereich, begangen durch eine natürliche Gruppe. Was Brauer, Dangelmaier und Hunold für den Bereich der Clankriminalität herausgefunden habenFootnote 55, trifft ebenso auf die „Nafri-Kriminalität“ zu. Wird eine Kriminalitätskategorie durch die Polizei konstruiert, objektiviert sie sich von selbst: „Dabei prägt die Erwartungshaltung im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung die individuellen Erfahrungen der PolizistInnen und ordnet diese dem hegemonialen Diskurs der Clankriminalität zu.“

Das Merkmal „nicht-deutsch“ ist in Kombination vor allem mit Armut und Ausschluss aus der Marktgängigkeit so wirkmächtig, dass es sämtliche sozialstrukturellen, migrationsspezifischen und aufenthaltsrechtlichen Differenzierungen der heterogenen Täterschaft einebnet. Zugleich dient es nicht allein einer notdürftigen Beschreibung von Tätern, sondern insinuiert auch eine Art Erklärung für deren Kriminalität. Die Herkunft selbst wird zur Ursache für deren Devianz herangezogen, wobei nicht die damit häufig verbundenen prekären Lebensverhältnisse und Aufenthaltsstatus betrachtet werden. Allein die sozialisatorischen Wurzeln außerhalb der westlichen Hemisphäre, die zugeschriebene kulturelle und religiöse Andersartigkeit, reicht, um hier den arabischen/muslimischen Mann am Werk zu sehen, der seine tief verwurzelte Verachtung für die Frauen und die westlichen Werte zum Ausdruck gebracht hat. Der Fokus ist hier eine kulturalisierende Polarisierung: Die gegen uns.

Schließlich legt es noch eine klare kriminalpolitische Antwort nahe. Ausländerkriminalität verdoppelt im gewissen Sinne Fremdheit. Über die amtliche Fremdheit durch fehlende deutsche Ausweispapiere hinaus verweist die Kriminalität dieser Fremden zusätzlich auf eine kulturelle Andersartigkeit. Sie stehen außerhalb der nationalen und moralischen Gemeinschaft. Was aber ohnehin schon nur am Rande der Gesellschaft geduldet wird, dessen kann man sich auch leicht ganz entledigen, wenn der Anlass gegeben ist. So schien nach Silvester die Überzeugung vorzuherrschen: „Die Bürgerkriegs-Flüchtlinge sind gefährlich für deutsche Frauen, die Flüchtlinge müssen wieder weg.“Footnote 56 Medial spitzte sich die Thematisierung der Silvesterereignisse 2015/2016 schnell auf Forderungen zur Verschärfung des Asylrechts zu.Footnote 57 Die im Falle der Flüchtlingskriminalität aus verschiedenen politischen Spektren häufig bemühte Metapher der „missbrauchten Gastfreundschaft“Footnote 58 macht den prekären Status v. a. der Flüchtlinge deutlich. An diese „Gäste“ werden paradoxerweise besonders hohe Konformitätsanforderungen gestellt, aus deren Befolgung erst die echte Schutzbedürftigkeit und Dankbarkeit abgelesen zu werden scheint. Der Gästemetapher macht die Aufnahme von Ausländern zugleich zu einer großzügigen Geste und enthebt sie aller rechtlichen Verpflichtungen hierzu.

Die Taten zu Silvester wurden aber nicht nur als übliche Devianz gelesen, die Flüchtende zu undankbaren und damit unwürdigen Gästen macht. Sie wurden eher als Terrorismus denn als Kriminalität gedeutet. In der dann folgenden Polarisierung erschienen die Ereignisse als Kulturkonflikt, die Angriffe auf Frauen (und deren Männer, die sie nicht schützen konnten, und dadurch ebenso vom fremden Mann gedemütigt wurden) als demonstrative Akte des Schreckensverbreitung und Machtdemonstration. Angegriffen schienen die hiesigen Werte der westlichen Gesellschaft, als deren Kristallisationspunkt sich zunehmend die Frauenrechte und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung herausgebildet haben. Die Angreifer gehören zu den patriarchalen, oft muslimischen Barbaren, die in die zivilisierte Welt eindringen.

Das Fremde war in die Mehrheitskultur eingedrungen und offenbarte sich im fremdartigen patriarchalen und gewalttätigen Handeln gegen Frauen. Die Trias von (unzivilisierter) Fremdheit, Kriminalität und sexueller Gewalt gegen Frauen befeuert seitdem den gesellschaftlichen Diskurs über Einwanderung und löste schnelle gesetzgeberische Reaktionen aus, indem das Ausweisungsrecht verschärftFootnote 59 und Marokko, Algerien sowie Tunesien zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden. Die ins Stocken geratene Reformierung des Sexualstrafrechts nahm wieder Fahrt auf. „Nein heißt Nein“ umfasst nun auch die gemeinschaftlich begangene sexuelle Nötigung. Das Grabschen, bislang in der Regel nicht strafbar, wurde nach Silvester als sexuelle Belästigung in das Strafgesetzbuch aufgenommen.

Hier wurde „Sexualpolitik […] für eine rassistische Wahrheitsproduktion aktiviert“, bemerken Hark und Villa.Footnote 60 Die koloniale Perspektive zeige sich gerade darin, dass die Anderen „nicht in der Lage seien, ihr sexuelles Begehren zu kontrollieren“.Footnote 61 Abgeleitet werden kann hieraus „ein Überlegenheitsnarrativ auf Grundlage der imaginierten Rückständigkeit der Anderen […], das sowohl die dramatisierte Gegenüberstellung von muslimischer sexueller Unterdrückung und abendländischer sexueller Selbstbestimmung benötigt, als auch rassifizierte Vorstellungen von Religion einer Säkularität gegenüberstellt“Footnote 62. Verhandelt werden an dieser Nacht eben nicht nur rassistische Kategorien sondern gleichauf sexistische. „Diese diskursive Verschiebung legitimiert also gleichzeitig die Beherrschung der Frau (da schwach und hilfsbedürftig) und die Beherrschung des schwarzen Mannes (da unkontrolliert und gefährlich) und sichert dadurch die Vormachtstellung des bürgerlichen weißen Mannes.“Footnote 63 Der „Erfolg“ dieser Silvesternacht lässt sich gerade daraus erklären, dass „hier zwei große miteinander verknüpfte Diskriminierungsoperatoren und Affektblöcke gleichzeitig wirksam werden: Rassismus und Sexismus“Footnote 64. Kurzum: Nach Silvester 2015/2016 scheint die Welt wieder eine Ordnung zu bekommen. Der muslimische/arabische Mann gehört in das Reich der (nicht nur sexuellen) Barbaren, und der überlegene Westen ist in der Lage, ihn dorthin zurück zu verbringen. Nicht niederträchtige Fremdenfeindlichkeit, sondern die Verteidigung erhabener Frauenrechte verpflichten zu entschlossenem Handeln für das „schwache Geschlecht“. Der Sexismus ist im Fremden verkörpert, während der weiße Mann für die Sicherheit der Frauen sorgt.

4 Zum Schluss

Die vom Bundeskriminalamt vorgenommene, medial schnell verbreitete und gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Deutung der Ereignisse zu Silvester 2015/2016 war nicht nur wirkmächtig, weil der Polizei Expertenstatus in Sachen Kriminalität und ein positives opferschützendes Image zugeschrieben werden. Darüber hinaus zeigt sich an der fremdenfeindlichen Interpretation der Ereignisse ein zirkulärer, sich selbst bestätigender Deutungsprozess. Die polizeiliche Verdachtsschöpfung erfolgt nicht rein sachlich aus objektiven kriminalistischen Erwägungen, sondern reflektiert immer auch ein gesellschaftliches Wissen von Bedrohungen und Nichtzugehörigkeit zur nationalen und moralischen Gemeinschaft. So werden eben nicht Männer mit Lederhose auf dem Oktoberfest systematisch kontrolliert und hiesige sexistische Denkmuster für Übergriffe problematisiert, sondern vermeintliche Nafris zu Silvester und ihr ganz fremder „Brauch“ des „taharrush gamea“.

Die gesellschaftlichen Diskurse von gefährlicher Fremdheit und bedrohter Ordnung gehen in das polizeiliche Verdachtswissen ein, formen die polizeilichen Erklärungen für Bedrohungen und resultieren in diskriminierenden Kontrollpraktiken. Sie bekräftigen dann nicht nur das polizeiliche Praxiswissen und objektivieren mit jedem Erfolg die höchst selektiven Kontrollpraxen und die dahinter liegenden stereotypen Zuschreibungen. Diese Prozesse der Crimmigration entlasten vor allem auch das kollektive Gewissen davon, aus bloßer Fremdenfeindlichkeit und ökonomischem Kalkül den sozialen Zugang zu verwehren. Die gesellschaftlichen Ordnungsideen erhalten durch die (auch nur scheinbaren) polizeilichen Belege einer reellen polizeilich festgestellten Bedrohung der Inneren Sicherheit und vor allem der Frauen durch die Fremden eine moralische Grundlage. Die polizeiliche Erfolgsmeldung von vermeintlich tausend kontrollierten „Nafris“ zu Silvester im Folgejahr wird daher wohl ebenso gern polizeilich verbreitet wie öffentlich aufgenommen nach der Devise „Gefahr erkannt – Gefahr gebannt“. Die deutliche Reduktion der kontrollierten „Nafris“ auf siebzig und der ganz unbestimmte polizeiliche Arbeitsbegriff waren dagegen offenbar nur störende Feinheiten, die es nicht in die Schlagzeilen geschafft haben.