Zusammenfassung
In dem Beitrag wird die Soziologie der Konventionen als zeitgenössische Wissenschaftsbewegung vorgestellt. Diese ist Teil der neuen pragmatischen Soziologien in Frankreich und rekombiniert die beiden sozialwissenschaftlichen Megaparadigmen (Neo-)Pragmatismus und (Neo-)Strukturalismus in innovativer Weise. Das Konzept der Konvention bezeichnet institutionelle Koordinationslogiken, die kompetente Akteure für die Bewertung und Valorisierung von Sachverhalten sowie für die Beurteilung angemessener Handlungspraktiken in Situationen heranziehen. Wichtig ist die Perspektive eines radikalen Pluralismus koexistierender Konventionen als Koordinations- und Bewertungslogiken. Der Beitrag stellt dann die methodologische Grundposition vor, welche als methodologischer Situationalismus bezeichnet werden kann. Weitere Zentralkonzepte der Soziologie der Konventionen (wie Kritik und Rechtfertigung) sowie die wichtigsten Systematisierungen von Konventionen werden eingeführt. Zuletzt werden auch einige der paradigmatischen Studien und die interdisziplinäre sowie mittlerweile internationale Struktur dieser neuen Wissenschaftsbewegung präsentiert.
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Notes
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Siehe die Buchreihe „Soziologie der Konventionen“, die seit 2018 bei Springer VS erscheint, https://www.springer.com/series/15571.
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Die Fokussierung der Aufmerksamkeit insbesondere auf Luc Boltanski ist für die deutsche Soziologie insofern verständlich, als dieser als Mitarbeiter Pierre Bourdieus früh zur Kenntnis genommen wurde und nach Bourdieus Tod wohl erwartet wurde, dass dieser als eine Art Nachfolger fungieren würde. Die Struktur der französischen Sozialwissenschaften hat sich allerdings seit den 1980er Jahren in der Weise geändert, dass die ehemalige Schulen-Struktur um einzelne Personen durch netzwerkartige Strukturen verdrängt worden ist. Das hat zur Folge, dass eine Darstellung der französischen Soziologie, die Personen ins Zentrum stellt (wie das noch mit dem Band von Moebius und Peter 2004 erfolgt ist), kaum noch angemessen erscheint.
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Auch der Begriff des „Poststrukturalismus“ ist bekanntlich in Frankreich nicht etabliert. Faktisch ist dieser Neostrukturalismus (d.i. der „Poststrukturalismus“) – ebenso wie der der Soziologie der Konventionen – keine Absetzung, sondern eher eine Öffnung bzw. Radikalisierung des Strukturalismus (Frank 1984).
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Diese Einbettung gilt in gleicher Weise auch für die Akteur-Netzwerk-Theorie. Auch diese wird häufig noch als eine Theorie rezipiert, die vermeintlich durch nur eine Person repräsentiert wird (Bruno Latour), während es sich auch hier um netzwerkartige (und internationale) Strukturen handelt, mit Bruno Latour, aber auch Michel Callon, John Law, Antoine Hennion, Madeleine Akrich, Cécile Méadel im Zentrum (um nur einige aufzuzählen; siehe Dosse 1999).
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Siehe für die neuen pragmatischen Sozialwissenschaften in Frankreich auch die Buchreihe Raisons pratiques, die in der Editions de l‘EHESS in Paris seit 1990 herausgegeben wird, http://editions.ehess.fr/collections/raisons-pratiques/
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Wie umfassend auch die US-amerikanische pragmatische Soziologie (Harold Garfinkel) oder die verstehende Soziologie (Alfred Schütz) sowie eigenständige französische Anstöße zur Repragmatisierung (Paul Ricœur) in den neuen pragmatischen Sozialwissenschaften rezipiert und diskutiert wurden, zeigt Nicolas Dodier (2011).
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Bessy und Chateauraynaud (2014) haben auch solche Praxisformen untersucht, die mit einer Täuschungsabsicht verfolgen, indem das Vorliegen von Qualität, Angemessenheit und Legitimität zu simulieren versucht wird. Dabei ist es gerade die Kenntnis und Berücksichtigung von Qualitätskonventionen und Rechtfertigungsordnungen, die eine Täuschung erfolgreich werden lässt.
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Das Konzept der pluralen „Welten“ ist bereits Bestandteil der US-amerikanischen pragmatischen Soziologie (Becker 1982).
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In der Betonung der Ubiquität von Spannungen, Kritiken und Konflikten zeigt sich eine Differenz der neopragmatischen Soziologie (Barthe et al. 2016) zum klassischen Pragmatismus (von William James, Charles S. Peirce und John Dewey).
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Es sind auch diese Tests, die Täuschungen und gefälschte Objekte identifizieren sollen (Bessy und Chateauraynaud 2014).
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Dazu zählt auch, dass Boltanski und Thévenot (2007: 108 f.) sechs Axiome anführen, die Qualitätskonventionen bzw. Rechtfertigungsordnungen von einfachen Standards unterscheiden.
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Siehe für eine umfassende Darstellung dieses Neostrukturalismus Frank (1984).
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Dagegen werden in der wirtschaftswissenschaftlichen Transaktionskostentheorie (die eine Weiterentwicklung der wirtschaftswissenschaftlichen Neoklassik ist) die Produkteigenschaften („asset specifities“) und Produktqualitäten als gegeben betrachtet, um dann erst zu fragen, was für dessen Produktion das beste institutionelle Arrangement ist (Williamson 1985).
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Hinzu kommt, dass Konventionen-theoretische Publikationen (bis dato) mehrheitlich Zeitschriftenartikel oder Sammlungen von Aufsätzen in Herausgeberschaften sind.
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Siehe auch die Beiträge in Diaz-Bone und Didier (2016).
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Hier steht die Soziologie der Konventionen dem amerikanischen Neopragmatismus nahe, der ebenfalls eine Kritik der Trennung von Fakten und Werten vorgenommen hat (Putnam 2002).
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Diaz-Bone, R. (2022). Soziologie der Konventionen. In: Delitz, H. (eds) Soziologische Denkweisen aus Frankreich. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36949-1_18
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