Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Alltags durch digitale Medien wird zunehmend täter*innenstrategisch instrumentalisiert. Informations- und Kommunikationstechnologien werden ebenso wie technische Geräte und Datenträger zur Anbahnung, Verübung und Aufrechterhaltung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche eingesetzt. Für Menschen, die zu sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend arbeiten, sind Schlagzeilen über kursierende Nacktfotos im Klassenchat, Täter*innen-Netzwerke und Plattformen wie „Boystown“, auf denen Missbrauchsabbildungen getauscht werden, längst Alltagsrealität. Allmählich finden Aspekte der sogenannten Mediatisierung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auch in den Handlungsempfehlungen bestehender Präventions- und Schutzkonzepte Beachtung. An entsprechenden Orientierungshilfen für die Krisenintervention, Sekundär- und Tertiärprävention fehlt es jedoch weitgehend (Vobbe, 2019). Dieser Mangel erklärt sich unseres Erachtens dadurch, dass die Arbeit mit Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, fallabhängig ist. Das der Fallarbeit zugrunde liegende Wissen ist ein Spezialwissen von Praktiker*innen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „HUMAN. Entwicklung von Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis zum fachlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt mit digitalem Medieneinsatz“Footnote 1 wurde titelgetreu in dem Bestreben umgesetzt, die Charakteristika des fachlichen Umgangs herauszuarbeiten und fallbasierte Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis zu entwickeln.

Pädagogische Praxis bezeichnet ein breites Handlungsfeld unterschiedlicher Personengruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, allen voran sozialpädagogische Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sowie Schulpädagog*innen. Gleichwohl beschreibt pädagogische Praxis Tätigkeiten pädagogischen Handelns selbst. Letzteres umfasst in Anlehnung an die konstruktivistische Pädagogik einen Entwicklungsrahmen, der es jungen Menschen erlaubt, neue Handlungsmöglichkeiten in pädagogischen Beziehungen zu erwerben und auszutesten. Als Raum gemeinsamer dialogischer Wirklichkeitsgestaltung werden Kindern und Jugendlichen hierin mitunter „emotionale Antworten“ – Resonanzen auf die von ihnen geäußerten Gefühlsreaktionen und Problemlagen – gegeben (Reich, 2010).

Was wie eine Selbstverständlichkeit der Pädagogik klingen mag, gilt nicht nur für das primäre Vorbeugen sexualisierter Gewalt, sondern auch für den fachlich adäquaten Umgang mit (vermuteten) Gewaltwiderfahrnissen. Wer mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche konfrontiert ist oder beruflich dazu arbeitet – wir zählen uns dazu – wird reflektieren können, dass spontane Reaktionen weder stets den Anspruch einer pädagogisch wertvollen Resonanz auf die Gefühlsäußerungen betroffener junger Menschen erfüllen noch stets entwicklungsfördernd sind. Sie sind vielmehr von eigenem Ohnmachtserleben geleitet. Die Wahrscheinlichkeit, in Kontrollmechanismen zu verfallen, ist groß. Wir versuchen, die Situation und unsere eigene Überforderung in den Griff zu bekommen. Bei aller situativer Angemessenheit von Maßnahmen der Gefahrenabwehr – auch diese werden in der vorliegenden Publikation behandelt – sollte mittel- und langfristig handlungsleitend bleiben, was die Entwicklung junger Menschen zu selbstwirksamen Subjekten fördert. Eine so verstandene pädagogische Praxis wandelt die Krisenintervention in Sekundär- und Tertiärprävention. Sie eignet sich womöglich sogar als Anregung für Handlungsfelder, die sich nicht als originär pädagogisch verstehen; etwa Therapie, Strafverfolgung und Justiz. Darüber hinaus kann ein austauschorientierter Gesprächsrahmen nicht losgelöst vom Alltag der Adressat*innen betrachtet werden. Als Alltag verstehen wir im Sinne der systemischen Sozialen Arbeit das subjektive Erleben einer Lebenslage, das heißt äußerer Umstände wie Wohnort, soziales Umfeld, Ressourcen oder gesellschaftlicher Status (Kraus, 2016). Digitale Medien müssen als Teil dieser Lebenslage und damit des Lebensalltags mitbedacht werden. Die nachfolgend sehr reduzierte Auswahl medialer Aspekte von Lebenslage und -wirklichkeit weist bereits auf Herausforderungen in Zusammenhängen mediatisierter sexualisierter Gewalt hin.

1 Digitale Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen

Digitale Medien sind in unserem Alltag – das heißt auch dem von Kindern und Jugendlichen – so dauerhaft präsent, dass eine Unterscheidung zwischen digital und nicht digital oder aber on- und offline kaum noch haltbar ist. Spätestens seit der Verbreitung von Smartphones werden erhebliche Teile des Lebens offensichtlich oder im Hintergrund durch Algorithmen, Apps, Foto- und Videotechnik ausgewertet und verarbeitet. Ein digitaler Verzicht ist selbst ohne die zuerst assoziierten Endgeräte wie Smartphones kaum möglich, weil Technik in unterschiedlichste Gegenstände und Dienste (z. B. Auto, Fernseher, Uhren) integriert ist. Ihre Nutzung ist zunehmend teilhabenotwendig. In den Sozialwissenschaften wird diese Weiterentwicklung und Verschmelzung von Lebenslage und Kommunikationstechniken als Mediatisierung bezeichnet (Hartmann & Krotz, 2019). On- und Offline sind demnach als ein Kontinuum zu begreifen, in welchem digitale Medien lediglich unterschiedlich bewusst und unbewusst, häufig und selten, intensiv und extensiv, motiviert und unmotiviert, zweckbestimmt und zweckunbestimmt genutzt werden. Als Lern- und Erfahrungsort, der die Bedeutung und Einflussmöglichkeiten der Institutionen Schule und Familie mitbestimmt, erfüllen digitale Medien nicht nur situative und soziale (z. B. Information und Unterhaltung, Peerkommunikation, Meinungsbildung), sondern auch biografische Funktionen (z. B. Identitätsentwicklung, Selbstvergewisserung) (Aigner et al., 2015; Kärgel & Vobbe, 2019). Als essenzielles Element kindlicher und jugendlicher Identitätsentwicklung sind digitale Medien Bestandteil der sexuellen und geschlechtlichen Sozialisation. Hierbei geht es um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, das Erkunden der persönlichen Begehrensstrukturen, den Aufbau romantisch-intimer Beziehungen sowie die eigene Positionierung im Kontext dominierender Geschlechterrollenbilder. Über digitale Medien beziehen junge Menschen sexualbezogene Informationen, suchen nach potenziellen Sexual- oder Beziehungspartner*innen, versuchen sich im Flirten und erproben, wie es um ihre Attraktivität und Selbstinszenierung steht (Scarcelli, 2015).

In den Phasen des Übergangs von der Kindheit in die Jugend sowie an der Schwelle zum Erwachsensein definieren sich junge Menschen meist darüber, was sie (nicht mehr) sein wollen (Fend, 1994). Traditionell gewinnen Personen außerhalb des familiären Nahraums, besonders die Peergruppe, an Bedeutung. Das Teilen von (sexualisierenden) Foto- und Videoaufnahmen oder aber das Liken und Kommentieren in sozialen Netzwerken sind dabei Ausdruck des Strebens nach Autonomie, (sexueller) Identifikation und Anerkennung (Pirker, 2018; Stecher, 2020; Turkle, 2013). Während digitale Medien demzufolge eine potenzielle Ressource sind, stellen sie Kinder und Jugendliche aber auch vor die Herausforderung, mit eventuellen Be- und Abwertungen umzugehen. Gleichzeitig stellt sich ihnen stets die Frage, ob sich die eigenen Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse mit jenen ihres „digitalen Gegenübers“ decken oder nicht. Der amerikanische Psychologe Suler (2004) postuliert, dass digitale Interaktionen (z. B. chatten, Fotos und Videos teilen) im Einklang mit persönlichen Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen interpretiert werden und auf diese Weise das Bild des Gegenübers maßgebend prägen. Wenn ergänzend persönliche Informationen ausgetauscht werden oder über digitale Medien hinaus Kontakt besteht, wird das Gefühl wechselseitigen Vertrauens und übereinstimmender Absichten und Bedürfnisse bestätigt. Kinder und Jugendliche bewerten Beziehungen, die über digitale Medien geknüpft wurden oder aber vornehmlich über digitale Medien gepflegt werden, demgemäß nicht prinzipiell als weniger vertrauensvoll und intensiv (Scarcelli, 2015). Vor diesem Hintergrund ist es für junge Menschen keine leichte Aufgabe zu differenzieren, wie sich die eigenen Bedürfnisse zu jenen anderer verhalten. Zumal sie sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der sie in einem psychotherapeutischen Sinne strukturell vulnerabel sind. „Struktur“ bezieht sich nach Rudolf (2013) auf die „Verfügbarkeit über psychische Funktionen, die für die Organisation des Selbst und seine Beziehungen erforderlich sind.“ (ebd., S. 58). Die strukturelle Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen beschreibt im klinischen Sinne eine destabilisierende Erfahrung von Nähe, Bindung, Autonomie und Identität, die meist mit Ängsten vor Zurückweisung, Beziehungsverlust, Kränkung und Beschuldigung einhergehen (ebd.). Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive meint strukturelle Vulnerabilität wiederum die gesellschaftliche Machtstellung junger Menschen, die unter anderem aus defizitorientierten Annahmen von Kindheit und Jugend resultiert. Abhängigkeitsverhältnisse verringern die berechtigten Bedürfnisse nach Anerkennung und Aufwertung nicht (Burghardt et al., 2017). Formen der bedürfnis- und entwicklungsorientierten Aufwertung werden demgegenüber medial durch age compression befördert. Hierunter werden Markt- und Werbestrategien zusammengefasst, die bereits Kinder ab dem Vorschulalter direkt oder indirekt (etwa durch ihre Eltern) als ältere Zielgruppe adressieren und damit als kaufkräftige Konsument*innen und Kund*innen erschließen und umwerben. Die zentrale Botschaft solcherlei Werbestrategien lautet, dass Kinder und Jugendliche als „echte Frauen und Männer“ ernst genommen werden (Coy, 2009). Die geschlechterbezogene Ansprache bedient unterschwellig sexuelle Stereotype, indem beispielsweise zwischen Spielsachen für Mädchen und Jungen unterschieden wird, die „Feen“ oder „Drama Queens“ in rosa und „Bad Boys“ oder „Räuber“ in blau darstellen. Teils wird offen mit „sexy Bademoden“ für Kinder im Grundschulalter geworben. Age compression begünstigt und habitualisiert unseres Erachtens eine Sexualisierung von Kindheit und Jugend. Die Selbstverständlichkeit einer sexualisierten Selbstdarstellung in digitalen Medien (Rack & Sauer, 2020) könnte als Indiz hierfür betrachtet werden.

Die Mediatisierung des Alltags junger Menschen ist schlussfolgernd Befähigung und Herausforderung zugleich. Digitale Medien sind Teil der Lebenslage und Lebenswirklichkeit junger Menschen. Die Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt muss somit stets bedenken und berücksichtigen, dass digitale Medien das subjektive Wirklichkeitserleben beeinflussen.

2 Aufbau

Kap. 2 umreißt nicht zuletzt deshalb, welche Bedeutung digitalen Medien im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zukommt. Es definiert mediatisierte sexualisierte Gewalt und skizziert, welche Formen der Gewalt sich unter dem Sammelbegriff subsumieren. Kap. 3 führt in die Entstehung sowie den Aufbau der Falldiskussionen und Handlungsempfehlungen ein. Dabei wird erörtert, wie die Handlungsempfehlungen zu verstehen sind und wie mit ihnen während und nach dem Lesen umzugehen ist. Die Kap. 4 bis 10 widmen sich auf Basis von Falldiskussionen den Handlungsempfehlungen zum fachlichen Umgang mit mediatisierter sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. Kap. 4 beschäftigt sich einführend mit dem Erkennen und Einordnen mediatisierter sexualisierter Gewalt. Kap. 5 fokussiert Eltern-Kind-Konflikte, die auftreten, wenn Eltern die Vermutung haben, ihr Kind könnte betroffen sein. Es werden Zusammenhänge zwischen den Belastungen des Familiensystems, den Verunsicherungen bezüglich altersgemäßer Beziehungsgestaltung und erlebter erzieherischer Ohnmacht diskutiert. Kap. 6 skizziert Aspekte eines traumasensiblen Umgangs mit den Folgebelastungen und der Komplexität von Hilfegestaltung bei Hinweisen auf organisierte oder rituelle sexualisierte Gewalt. In Kap. 7 geht es um die Frage, wann und wie das Risiko einer Verbreitung digitaler Gewaltzeugnisse (z. B. Missbrauchsabbildungen) gegenüber Gewaltbetroffenen und deren Angehörigen thematisiert werden kann. Kap. 8 veranschaulicht, wie belastend das wiederholte Kursieren von Nacktfotos bzw. Missbrauchsabbildungen für Gewaltbetroffene ist und zeigt auf, wie dennoch Schutzräume geschaffen werden können. Kap. 9 setzt sich damit auseinander, wie mit Betroffenen zu alltagsbegleitenden Ängsten vor einer Veröffentlichung oder Verbreitung sexualisierter Gewaltabbildungen gearbeitet werden kann. Kap. 10 nimmt potenzielle Missbrauchsabbildungen als Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung in den Blick und setzt sich mit Handlungsmöglichkeiten der institutionellen Kinder- und Jugendhilfe auseinander. Das Kapitel beschäftigt sich auch kritisch mit Sachverständigengutachten in familiengerichtlichen Verfahren. Abschließend werden in Kap. 11 Implikationen für die und Empfehlungen zur Prävention mediatisierter sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausgesprochen.