Zusammenfassung
Ein Hauptanwendungsfeld der psychoanalytischen Massenpsychologie ist die Analyse rechtsextremer Propaganda. Seit den 1940er Jahren haben Autor:innen Freuds Ansatz wiederholt genutzt, um zu beschreiben und zu erklären, wie und wieso sich Millionen Deutscher dem Nationalsozialismus angeschlossen haben.
Es „müsste erklärt werden, wieso heutige Menschen in Verhaltensformen zurückfallen, die zu ihrem eigenen rationalen Niveau und der gegenwärtigen Stufe aufgeklärter technischer Zivilisation in krassem Widerspruch stehen. Dies nun ist es, was Freud unternimmt.“
(Adorno 1951, S. 39)
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Notes
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Vermutlich muss es nicht der Massenführer sein, der diese Idee verhandelt. Dies kann auch unter den Massenindividuen selbst geschehen oder über Medien.
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Mit Objekt ist die psychische Repräsentanz von „guten“ und „bösen“ Erlebnissen bezeichnet. Dies ist einerseits das Erlebnis, befriedigt, genährt, gewärmt und versorgt zu werden und andererseits das Erlebnis eines ungestillten Bedürfnisses und der Versagung, verlassen zu sein, hungrig zu sein. In dieser Hinsicht repräsentiert das gute Objekt „die Empfindung eines befriedigten Bedürfnisses“ (Hinshelwood 1991, S. 418).
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Es wäre zu untersuchen, inwieweit sich diese massenpsychologische Interaktion in Gestalt spezifisch massenpsychologischer Interaktionsformen einschreibt, die zukünftig erwartet werden. Zu bedenken wäre ebenfalls, ob die Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus (Lohl 2010) nicht aus dieser Perspektive neu zu denken sind. Gibt es in der NS-Zeit gebildete massenpsychologische Interaktionsformen vieler Deutscher, die kryptisiert und transgenerational tradiert werden und noch in der Gegenwart eine politisch-psychologisch abrufbare Erwartungshaltung bilden?
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Diese Pilotstudie wurde zwischen 2019 und 2020 von mir am Sigmund-Freud-Institut durchgeführt und von der Züricher Stiftung für Psychoanalyse und Psychotherapie finanziell gefördert.
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Bei den Zitaten in diesem Abschnitt handelt es sich um Zitate aus der Verschriftlichung des Mitschnitts der Interpretationssitzung.
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Der Text zwischen den @-Zeichen ist leise und schnell gesprochen@.
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Frau E. thematisiert ihr Trennungserleben immer wieder in Verbindungen mit Hinweisen auf Arbeit und Arbeiten, so dass die mit den Trennungsaggressionen verknüpften Gefühle von Frau E., nicht gewollt zu sein und verlassen zu werden, Trauer, Schmerz und Schuldgefühle als in der Arbeitsgesellschaft produzierte Leiden verstanden werden können. Diesem Aspekt kann ich im Rahmen dieses Textes nicht nachgehen.
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Lohl, J. (2022). Freuds Unternehmung. Über Massenpsychologie und rechtspopulistische Propaganda. In: Brunner, M., König, HD., König, J., Lohl, J. (eds) Sozialpsychologie der Massenbildung. Kritische Sozialpsychologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35693-4_8
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