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1 Einleitung

Die Covid-19-Pandemie hat unsere vertraute Alltagswirklichkeit massiv verändert und in weiten Teilen der Bevölkerung Unsicherheiten und Bedrohungsgefühle ausgelöst. Sie gehört damit zweifelsohne zu den tief greifenden gesellschaftlichen Krisen, die uns mit einer „alternativen Wirklichkeit“ konfrontieren (Berger und Luckmann 2004) und unsere Weltanschauungen und Wertorientierungen in grundlegender Weise infrage stellen (Luhmann 2007 [1971], S. 16; Schwartz 2005, S. 17). In diesem Beitrag untersuchen wir anhand der Ergebnisse der Values in Crisis Studie (VIC)Footnote 1, die in der ersten Phase der Ausbreitung der Pandemie im Mai 2020 durchgeführt wurde, inwieweit sich im Vergleich zu früheren Erhebungen Veränderungen in den Wertorientierungen der Österreicher*innen feststellen lassen, welche gesellschaftlichen Entwicklungen sich die Befragten für die Zeit nach dem Ende der Corona-Krise wünschen und welche Entwicklungen sie für realistisch halten.

Verschiedene soziologische Analysen der letzten Monate suggerieren, dass die Corona-Krise zu lange anhaltenden Veränderungen in unserer Gesellschaft führen könnte; es gibt jedoch unterschiedliche Annahmen über die Richtung dieses Wandels. Trägt die kollektiv erlebte Verwundbarkeit in der Corona-Krise tatsächlich zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei, wie dies der deutsche Soziologe Heinz BudeFootnote 2 bereits zu Beginn der Krise vermutete? Oder erleben wir eine Renaissance konservativer Werthaltungen vor allem im Hinblick auf die Rollenverteilung in Partnerschaften, wie sie beispielsweise von der deutschen Soziologin Jutta AllmendingerFootnote 3 beobachtet wird? Verstärkt die Corona-Krise die vorherrschende soziale Ungerechtigkeit oder trägt sie, wie der Zukunftsforscher Matthias Horx behauptet, zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise und zu einer Abschwächung der Auswüchse des Kapitalismus bei? In Hinblick auf demokratische Entwicklungen wurde letztlich auch die Frage aufgeworfen, ob durch die Corona-Krise das Bedürfnis nach einer starken politischen Führung und autoritärer Unterordnung steigen würde (vgl. z. B. Aschauer 2020a).

Zum einen hat die bisherige empirische Werteforschung gezeigt, dass gesellschaftliche Transformationen, wie jene eines Wertewandels, üblicherweise sehr langsam stattfinden, zumal grundlegende Wertvorstellungen historisch gewachsen sind (für Europa Rudnev et al. 2016). Zum anderen wurden in den letzten Jahrzehnten erhebliche Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen (Beck und Beck-Gernsheim 1994; Münch 2010) konstatiert, die eine Differenzierung der Wertelandschaft nach soziodemografischen und sozialstrukturellen Charakteristika der Bevölkerung einfordern. Während vor der Jahrtausendwende in den westlichen Ländern oftmals eine Entwicklung hin zu postmaterialistischen Werten (wie individuelle Selbstentfaltung, Mitbestimmung) postuliert wurde (z. B. Inglehart 1979; Inglehart und Welzel 2005), kam es in der jüngeren Vergangenheit sowohl in inhaltlicher als auch methodischer Hinsicht vermehrt zu Kritik an dieser prognostizierten eindimensionalen Entwicklung vom Materialismus zum Postmaterialismus (z. B. exemplarisch Bürklin et al. 1994; Kaina und Deutsch 2006). Empirische Studien fokussierten auf starke Unterschiede zwischen Generationen, wobei die sozialen Turbulenzen der letzten Dekaden eine Renaissance zu materialistischen Werten einleiten könnten (z. B. Klein 2003). Zudem verändern sich Werteprioritäten je nach wirtschaftlichen Boom- und Krisenzeiten und könnten auch im Lebenszyklus zu einem Wiederaufleben konservativer Werthaltungen führen (siehe z. B. im Überblick Voicu et al. 2016).

Vor dem Hintergrund dieser Fragen lohnt es sich deshalb auf grundlegende Werte der Österreicher*innen im Zeitverlauf der letzten Dekaden Bezug zu nehmen und Unterschiede nach Generationen verstärkt in den Blick zu nehmen. Der vorliegende Beitrag untersucht anhand des Konzepts der individuellen Grundwerte des israelischen Sozialpsychologen Shalom Schwartz (1992), ob sich im Zeitvergleich mehrerer repräsentativer Bevölkerungsumfragen in Krisenzeiten Tendenzen eines Wertewandels feststellen lassen. Gestützt auf diese empirischen Analysen werden im zweiten Teil des Beitrages ausgewählte Zukunftsvorstellungen der österreichischen Bevölkerung untersucht und es wird gezeigt, ob sich diese je nach sozioökonomischem Hintergrund und je nach Werte- und Einstellungsspektren der Bevölkerung unterschiedlich ausformen. Die folgenden Forschungsfragen stehen dabei im Zentrum:

(1.) Inwiefern lässt sich ein Wertewandel in der österreichischen Gesellschaft und in einzelnen Generationen zu Beginn der Covid-19-Pandemie beobachten?

(2.) Welche gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen wünschen sich die Österreicher*innen für die Zeit nach dem Ende der Corona-Krise und welche gesellschaftliche Entwicklung erscheint aus deren Sicht realistisch?

(3.) Inwiefern sind die Zukunftswünsche der Befragten, d. h. ihre Vorstellungen, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln sollte, von den individuellen Grundwerten, den politischen Einstellungen, der Generationszugehörigkeit und dem sozioökonomischen Hintergrund abhängig?

Im folgenden Abschnitt wird auf die für diesen Beitrag relevanten Theorien des Wertewandels und dabei vor allem auf die Veränderbarkeit von Wertvorstellungen in gesellschaftlichen Krisen sowie auf zentrale Befunde bisheriger Forschung näher eingegangen (siehe Abschn. 8.2.1). In Abschn. 8.2.2 werden der Zusammenhang zwischen Wertvorstellungen und dem Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen in der Zukunft aufgegriffen. Die empirische Analyse beginnt mit einer kurzen Beschreibung der verwendeten Variablen, wobei die Ergebnisdarstellung sodann entlang der drei Forschungsfragen zum a) Wertewandel (siehe Abschn. 8.3.1), zu den b) Wünschen und Erwartungen für die Zeit nach dem Ende der Corona-Krise (siehe Abschn. 8.3.2) und c) zu den Einflussfaktoren auf die Zukunftswünsche der Österreicher*innen (siehe Abschn. 8.3.3) erfolgt. Abschließend werden die Ergebnisse im Lichte aktueller soziologischer Reflexionen zum gesellschaftlichen Wandel in Zeiten tiefgehender Krisen diskutiert (siehe Abschn. 8.4).

2 Ein Überblick zur soziologischen Untersuchung des Wertewandels

Werte sind identitätsstiftende Vorstellungen, Ideale und Überzeugungen, sie beinhalten „allgemeine Richtlinien in Bezug auf das, was Menschen für sich selbst und ihre Gesellschaften als richtig und gut erachten; sie geben Orientierungen in Bezug auf das individuelle Verhalten, die Beziehungen der Menschen zueinander und ihre Beziehung zu Natur und Umwelt.“ (Haller und Müller Kmet 2019, S. 51). Als solches haben Werte einen erheblichen Einfluss darauf, welche Ziele sich Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften setzen. Als „Grundwerte“ können jene zentralen Wertorientierungen angesehen werden, welche die universalen Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (biologische Grundbedürfnisse, soziale Interaktion und Gruppenzugehörigkeit) als bewusst anzustrebendes Ziel ausdrücken (Schwartz 1992).

Am prominentesten hat diese Grundwerte der israelische Sozialpsychologe Shalom Schwartz (1992, 1994) in der empirischen Forschung verankert. Während Terminalwerte (wie z. B. Freiheit, Gleichheit oder Gesundheit) das Wünschenswerte und somit Zielzustände ausdrücken, geben instrumentelle Werte (wie beispielsweise Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein) die bevorzugten Verhaltensmuster vor, um die terminalen Werte zu erreichen (Rokeach 1973). Von dieser Unterscheidung ausgehend, konstruierte Schwartz eine Wertetypologie mit zehn individuellen Grundwerten: Universalismus, Wohlwollen, Konformität, Tradition, Sicherheit, Macht, Leistung, Hedonismus, Stimulation und Selbstbestimmung (siehe Abb. 8.1). Der Kern seiner Theorie ist die kreisförmige Struktur dieser Werte; benachbarte Werte sind eng miteinander verbunden, während sich gegenüberliegende Werte unvereinbar gegenüberstehen. Die zehn Wertorientierungen lassen sich zwei übergeordneten Dimensionen zuordnen. Während Unabhängigkeit, Stimulation und bedingt Hedonismus eine stärkere Bereitschaft für Veränderung implizieren, bilden Konformität, Tradition und Sicherheit den gegenüberliegenden Pol der bewahrenden Werte. Relativ unabhängig davon streben Individuen entweder nach Macht und Leistung oder treten mit Mitmenschlichkeit und Universalismus für ein tolerantes Miteinander und für eine starke Gleichberechtigung der Individuen ein.

Abb. 8.1
figure 1

Der Wertekreis nach Schwartz (1992)

Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen, dass den Österreicher*innen vor der Corona-Krise im Jahr 2016 Sicherheit, Universalismus, Wohlwollen und Selbstbestimmung besonders wichtig waren, während Macht und Stimulation nur eine untergeordnete Rolle für sie spielten. Im Mittelfeld erwiesen sich Leistung und Hedonismus als weniger bedeutend als Tradition und Konformität (Haller und Müller Kmet 2019, S. 58 f.). Bei den jüngeren Österreicher*innen zeigt sich eine größere Offenheit gegenüber Wandel sowie auch eine stärkere Hinwendung zu egozentrischen Werten (Haller und Müller Kmet 2019, S. 64 f.). Dies ist bereits ein Beleg dafür, dass die Strahlkraft altruistischer Werte in jüngeren Generationen möglicherweise stärker verblasst (siehe auch Kaina und Deutsch 2006). Dass einschneidende Ereignisse und vor allem wirtschaftliche Krisen Wertorientierungen nachhaltig beeinflussen können, ist weitgehend unumstritten (Voicu und Dülmer 2016, S. 9; Schwartz 2005, S. 17). Es sind vor allem die sich verändernden ökonomischen Lebensumstände (z. B. Arbeitslosigkeit, Armut), die folglich auch Wertorientierungen aus der frühen primären Sozialisation verändern können (Voicu et al. 2016, S. 9).

2.1 Periodeneffekte, lebenszyklische und intergenerationelle Veränderungen

Die Covid-19-Pandemie, der politische Umgang mit der Krise und die wirtschaftlichen Folgen für breite Bevölkerungsgruppen dürften für die derzeit lebenden Generationen eine historische Zäsur darstellen. Insofern könnten sich in einem optimistischen Tenor (z. B. Horx 2020) Wandlungsprozesse hin zu mehr Solidarität und Verantwortungsgefühl, zu mehr ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit sowie zu einem stärkeren Sozialstaat einstellen. Andererseits könnte das Leben in der Ungewissheit (Bauman 2008) neue Sicherheitsbedürfnisse aktivieren und die Hinwendung in den schützenden Kokon des Nationalstaates stärken.

Obwohl auch am Höhepunkt des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs immer gewährleistet war, sind die zahlreichen „Hamsterkäufe“ der Österreicher*innen ein Indiz für eine existenzielle Unsicherheit. Analog dazu liegt die Befürchtung vor, dass die medizinische Versorgung, vor allem im Bereich der Intensivmedizin, zusammenbrechen könnte, was besonders in den betroffenen Risikogruppen und bei nahestehenden Verwandten, zu manifesten gesundheitlichen Ängsten führt. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung durch die Reisebeschränkungen, die Schließungen von Betrieben und die geforderte Einschränkung von Sozialkontakten drastisch reduziert. Angesichts dieser Überlegungen wäre zu erwarten, dass in virulenten Krisenzeiten traditionelle Wertorientierungen und Sicherheitsbedürfnisse an Bedeutung gewinnen. Gesellschaftliche Krisen könnten zu kurzfristigen Veränderungen der Wertelandschaft führen oder gar eine Umkehr von bereits vollzogenen Wertveränderungen einleiten.

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die These der intergenerationellen Verschiebung von WerthaltungenFootnote 4 in der Covid-19-Pandemie von Relevanz ist. Im Lebenszyklus erscheint eine Veränderung von Wertvorstellungen im Lauf des jungen Erwachsenenalters am wahrscheinlichsten, da sich die Lebensumstände in dieser Lebensphase am stärksten verändern (Vecchione et al. 2016; Schwartz und Bardi 1997). Bislang wurden jedenfalls stets Generationseffekte und Lebenszykluseffekte festgestellt, die verallgemeinerbare Schlussfolgerungen zum Wertewandel erschweren (z. B. Klein 2003; Klein und Pötschke 2004; Inglehart 2008). Darüber hinaus sind es unter den Jüngeren häufiger die höher Gebildeten, die sich offener für Veränderung zeigen und sich klarer zu universalistischen Werthaltungen bekennen (Klein und Pötschke 2004).

In diesem Beitrag sollen deshalb Werteverschiebungen, getrennt nach einzelnen Geburtskohorten, analysiert werden. Auch wenn das Generationenkonzept in der Soziologie umstritten ist (z. B. jüngst prominent Schröder 2018Footnote 5), lässt der Generationenansatz am ehesten die Prüfung von Werteverschiebungen in einzelnen Geburtsjahrgängen zu. Klein (2003) stellt in einer fundierten empirischen Abhandlung anhand des Wertekonzepts von Ronald Inglehart (1977) fest, dass tatsächlich intergenerationale Unterschiede bis in die Generationen der Nachkriegszeit zu beobachten sind. Er trennt zwischen einer Vorkriegsgeneration (geb. bis 1920), die in der Zeit des Aufkommens des Nationalsozialismus sozialisiert wurde, und der Kriegs- und Nachkriegsgeneration (geb. von 1920–1940), die starke materielle Entbehrungen ertragen musste. Während folglich in diesen Generationen materielle Orientierungen vorherrschen, müsste sich in der 1968er-Generation (geb. von 1941–1955) ein erster Wandel in Richtung postmaterieller Werte (wie Selbstverwirklichung, Umweltschutz etc.) einstellen. Diese Generation wird schließlich von der Generation der „Babyboomer“ (geb. von 1956–1970) abgelöst, die in den Hochphasen neuer sozialer Bewegungen zum gesellschaftlichen Wandel sozialisiert wurde.

Die zentrale These von Klein (2003) ist jedoch, dass dieser postmaterialistische Wandel spätestens mit der in einzelnen Bestsellern bezeichneten Generation „Golf“ oder „X“ (geb. von 1971–1985) zum Erliegen kommt. In dieser Generation treten neue Bedürfnisse nach Wohlstand, Sicherheit und Karriere in den Vordergrund, während das solidarische Handeln – im Sinne einer zweiten Emanzipation – an Dienstleister (wie ehrenamtliche Gruppen) delegiert wird (siehe auch Blühdorn 2013, S. 157). Die Krisen im Spätkapitalismus treten offensichtlicher zutage und der Einzelne ist im Zuge der Individualisierung dazu verdammt, Entscheidungen zu treffen, um die eigene Existenz zu entfalten und abzusichern (auch Schroer 2000). Insofern scheint – nach neueren Erkenntnissen – der postmaterielle Wertewandel an sein Ende zu kommen und es fehlt bei jüngeren Generationen an Nachschub (z. B. auch Kaina und Deutsch 2006), um diesen Prozess längerfristig fortzuschreiben. In der derzeit am meisten diskutierten Generation Y (geb. von 1985–2000) ist schließlich das Sicherheitsgefühl noch breiter erschüttert, die undurchschaubaren Prozesse der Globalisierung und Digitalisierung ordnen das Leben neu und werfen die Individuen noch stärker auf sich selbst zurück. Die Verteidigung der eigenen Errungenschaften wird zum zentralen Ziel, wodurch Egoismen und statusbezogene Werte zunehmen (auch Münkler 2010). Erste Einschätzungen der Generation Z (geb. ab 2000) zeichnen jedoch ein geringfügig optimistischeres Bild, weil wieder eine selbstbewusstere und politisch interessiertere Generation heranreifen könnte, die sich dem allgemeinen Leistungsdruck nicht so stark unterordnet (siehe Hurrelmann und Albrecht 2014, S. 26).

2.2 Wertorientierungen und der Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen

Gerade in der tief greifenden Krise der Pandemie mit breit gefächerten gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Folgen für die Gesellschaft ist es naheliegend, die Stimmungslage der Bevölkerung allgemein und die Sichtweise einzelner Generationen auf gesellschaftliche Veränderungen zu analysieren. Die Wünsche nach einer Neuorientierung der Gesellschaft beziehen sich dabei häufig auf konkrete soziale Problembereiche, die durch die Krise besonders sichtbar wurden und eine dringende Lösung oder Veränderung erfordern. Im Fall der Corona-Krise ist dies etwa die Frage der gerechten Entlohnung bestimmter Berufsgruppen, die für die Aufrechterhaltung des sozialen Systems besonders wichtig sind; oder die Forderung nach einer generellen Reduktion der internationalen Mobilität oder nach mehr Regionalität und Nachhaltigkeit.

Wir wollen deshalb im zweiten Teil des Beitrages die gängigen Diskussionen rund um potenzielle Prozesse des gesellschaftlichen Wandels aufgreifen und die vorherrschende Zustimmung zu Aspekten der Solidarität und der Stärkung des sozialen Zusammenhalts, das Potenzial für Neuorientierungen hin zu einer nachhaltigeren und stärker regionalen Wirtschaftsweise und Wünsche nach einer Balance zwischen individueller Freiheit und staatlicher Kontrolle in der Bevölkerung analysieren. Wir messen anhand von gegensätzlichen Entwicklungstendenzen, welche Ausrichtung der Gesellschaft die Österreicher*innen bevorzugen und inwiefern diese Wünsche mit der erwarteten Zukunft übereinstimmen. Insgesamt ist naheliegend, dass die Vorstellungen über die künftige gesellschaftliche Entwicklung stark von Grundwerten geprägt sind. Von besonderem Interesse ist dabei, ob die allgemeinen Wertpräferenzen auch unabhängig von der Generationszugehörigkeit und politischen Orientierung oder auch unabhängig vom Wohlstand und Bildungsgrad der Österreicher*innen mit den Wünschen für die ideale Gesellschaft nach Corona in Verbindung stehen.

3 Empirische Analyse

In der nun folgenden empirischen Analyse werden die Werteprioritäten der österreichischen Bevölkerung offengelegt und unter Berücksichtigung des Generationenansatzes im Zeitvergleich analysiert. Im Datensatz der Values in Crisis Studie 2020 (VIC) steht für die Untersuchung der Werteveränderungen der 21-Item Portraits Value Questionnaire (PVQ) nach Schwartz zur Verfügung (siehe Tab. 8.3 im Anhang). Die Ergebnisse der Schwartz-Wertemessung in der VIC- Studie 2020 werden mit den österreichischen Daten der neun Erhebungswellen des European Social SurveyFootnote 6 (ESS 2002–2018) verglichen. Ein Überblick über die Charakteristika der in den Analysen betrachteten Generationen findet sich in Tab. 8.1.

Tab. 8.1 Dominante Grundorientierungen im Generationenvergleich

Zur Messung der Zukunftsvorstellungen der Österreicher*innen wurden zwei Fragelisten erstellt: In der ersten Liste gaben die Befragten an, welche gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Veränderungen sie sich für die Zeit nach dem Ende der Corona-Krise wünschen. In der zweiten Liste wurde gefragt, welche Entwicklungen man tatsächlich erwartet.Footnote 7 Die erste dieser beiden Dimensionen wird im Folgenden als „Zukunftswünsche“, die zweite als „Zukunftserwartungen“ bezeichnet. Nach der Darstellung der Ergebnisse dieser Fragen wird abschließend anhand einer sequenziellen multiplen Regression (zu dieser Methode vgl. Urban und Mayerl 2011 und siehe dazu auch Kap. 13 von Glatz et al. 2021) analysiert, wie sich die Präferenzen für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen nach soziodemografischen (v. a. Generationenzugehörigkeit) und sozialstrukturellen Merkmalen, nach grundlegenden Wertorientierungen und politischen Einstellungen, sowie nach entsprechenden Ängsten vor einer potenziellen Corona-Betroffenheit unterscheiden.

3.1 Ergebnisse zum Wertewandel im Generationenvergleich

In Abschnitt 8.2.1 wurde auf Basis von bestehenden Analysen zum intergenerationellen Wertewandel angenommen, dass universalistische Werte in jüngeren Generationen aufgrund aktueller Unsicherheitserfahrungen an Relevanz verlieren. Um diese These zu prüfen, sollen nun in einem ersten Schritt allgemeine Werteverschiebungen der Österreicher*innen im Zeitverlauf analysiert und getrennt nach Generationen ausgewiesen werden.

Analysiert man in einem ersten Schritt die zehn individuellen Wertorientierungen nach Schwartz (1992) in der ersten Phase der Pandemie, so zeigt sich vorerst eine relative Stabilität der Werthaltungen (siehe Abb. 8.2). Die Prioritätensetzung der Werte fällt nahezu deckungsgleich mit der erst jüngst veröffentlichten Studie von Haller und Müller Kmet (2019) aus. Die Werte der Unabhängigkeit sowie Mitmenschlichkeit und Universalismus (die generell als sozial erwünscht gelten) stehen an oberster Stelle. Zusätzlich werden auch Sicherheit, Hedonismus und Tradition als überdurchschnittlich wichtig eingestuft, während Konformität, Leistung, Stimulation und Macht eine niedrigere Wertigkeit erfahren. Im Vergleich der ESS-Daten ergibt sich eine leichte Abnahme des Wertes der Mitmenschlichkeit über die Jahre, wobei in den letzten beiden Erhebungen wieder eine steigende Tendenz ersichtlich wird.

Abb. 8.2
figure 2

Werteverschiebungen in den zehn individuellen Werthaltungen nach Schwartz. Datenquelle: ESS 2002, 2004, 2006, 2014, 2016, 2018 und VIC 2020; gewichtete Daten

Bei genauerer Betrachtung lassen sich insbesondere im Jahr 2014 Veränderungen zu den ersten drei Umfragen erkennen. Diese zeigen sich deutlich im Wert der Unabhängigkeit, der bis 2016 zurückgeht, während der Wert der Sicherheit eine höhere Bedeutung erlangt.Footnote 8 Ein Rückgang findet sich auch im Wert des Hedonismus, während traditionelle Orientierungen an Bedeutung gewinnen. In der Tat dürfte die globale Finanz- und Wirtschaftskrise (gefolgt von den Fluchtbewegungen 2015) zu einer Verschiebung zentraler Wertvorstellungen beigetragen haben.Footnote 9 Die Daten der VIC-Studie aus dem Frühjahr 2020 scheinen hier nicht ganz ins Bild zu passen. Dennoch ist plausibel, dass der Wert der Unabhängigkeit, angesichts der weitreichenden Freiheitseinschränkungen in der Corona-Krise, an Bedeutung gewinnt, die Leistungsorientierung in den Hintergrund tritt, der Wunsch nach Abwechslung (Stimulation) neue Bedeutung erfährt und der Stellenwert von Traditionen zunimmt. Bedürfnisse nach Sicherheit, Konformität und Macht treten jedoch in der ersten Phase der Pandemie im Vergleich zu früheren Erhebungen eher in den Hintergrund.Footnote 10

Nimmt man auf die vier übergeordneten Wertedimensionen nach Schwartz (1992) Bezug, die mit größerer empirischer Präzision gemessen werden, so ist ein Ergebnis besonders auffallend (siehe Abb. 8.3). Im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der darauffolgenden Umwälzungen in Europa, ist es auch in Österreich zu einem steigenden Konservatismus gekommen. Während die Werthaltung „Offenheit für Veränderung“ bis 2006 noch mit höherer Wichtigkeit versehen wurde, haben bewahrende Werte seit dem Jahr 2014 zugenommen.

Abb. 8.3
figure 3

Werteverschiebungen in den vier übergeordneten Wertedimensionen nach Schwartz. Datenquelle: ESS 2002, 2004, 2006, 2014, 2016, 2018 und VIC 2020; gewichtete Daten

Einzig in der VIC-Erhebung im Frühjahr 2020 haben sich die beiden Wertedimensionen wieder angeglichen, was jedoch auch durch die unterschiedlichen Stichproben mit bedingt sein könnte. In Bezug auf die andere Wertedimension bleiben altruistische Werthaltungen (wie Universalismus und Mitmenschlichkeit) von hoher Wichtigkeit in Österreich, während statusorientierte Werte weiter an Relevanz verlieren. Wie die folgende Abbildung zeigen wird, haben Mitmenschlichkeit und Universalismus jedoch eine größere Bedeutung für ältere Österreicher*innen.

In Abb. 8.4 werden nun die Veränderungen in den Wertedimensionen getrennt nach den sechs Generationen analysiert. Die Vorkriegsgeneration ist in den aktuellen ESS-Erhebungswellen nur mehr in geringer Anzahl vertreten, weshalb die Werte dieser Alterskohorte nicht abgebildet werden.Footnote 11 Zudem scheinen die Wertorientierungen der jüngsten Generation Z nur in den letzten beiden Erhebungswellen auf, wobei bis dato überwiegend Jugendliche in diese Altersgruppe fallen. Die Linien verdeutlichen jeweils die mittlere Zustimmung auf der Achse Statuserhöhung vs. Altruismus/Universalismus.Footnote 12 Die Ergebnisse machen deutlich, dass tatsächlich überwiegend jene Generationen hohe Altruismus-Werte aufweisen, die in der Zeitspanne der Nachkriegszeit (68er-Generation) und daran anschließend geboren wurden. Der jüngeren Generation X und Generation Y sind hingegen die Macht- und Leistungswerte besonders wichtig, woraus im Mittel ein niedrigerer Wert auf der Achse Statuserhöhung vs. Selbsttranszendenz resultiert.

Abb. 8.4
figure 4

Werteverschiebungen in der Dimension Statuserhöhung vs. Altruismus/Universalismus zwischen den Generationen (Werte nach Schwartz). Datenquelle: ESS 2002, 2004, 2006, 2014, 2016, 2018 und VIC 2020; gewichtete Daten

Während in den ersten Erhebungen nach der Jahrtausendwende die Diskrepanzen noch geringer ausfielen, zeigt sich vor allem in den letzten Jahren eine deutliche Polarisierung der Werte zwischen den Generationen. Generation Y und Z sind die einzigen Gruppen, die auch in der VIC-Umfrage 2020 durch eine geringere Betonung von Mitmenschlichkeit und Universalismus gekennzeichnet sind. Insbesondere für ältere Befragte gewinnen in der ersten Phase der Corona-Krise im Frühjahr 2020 hingegen solidarische Einstellungen an Bedeutung. Insofern bestätigt die Analyse das Bild einer Stagnation postmaterieller Werte. Tatsächlich scheint gerade bei den Generationen, die rund um die Jahrtausendwende geboren sind, keine Hinwendung zu universalistischen Werthaltungen zu erfolgen.

Am eindeutigsten lässt sich über die letzten Jahre nachzeichnen, dass tatsächlich über mehrere Generationen konservative Werte an Bedeutung gewinnen. Dies verdeutlicht Abb. 8.5, die die Wertedimension „Bewahrung der Ordnung vs. Offenheit für Veränderung“ (Schwartz 1992) für die einzelnen Alterskohorten illustriert. Hier werden neben Periodeneffekten auch Lebenszykluseffekte deutlich. Je älter die Befragten werden, desto mehr gewinnen konservative Werte an Relevanz. Zusätzlich zeigt sich jedoch erneut in allen Generationen ein, durch die Finanz- und Wirtschaftskrise beschleunigter, Wandel hin zu bewahrenden Werthaltungen in Österreich, der über die letzten Erhebungen weitgehend anhält. In der 68er- und Babyboomer-Generation offenbart sich jedoch eine leichte Rückkehr zu progressiveren Haltungen, der auch durch die jüngste Generation Z weiter beschleunigt wird. Insgesamt sind die Alters- und Generationenunterschiede im Konservatismus deutlich stärker und konsistenter als in der Dimension Statuserhöhung vs. Altruismus/Universalismus.

Abb. 8.5
figure 5

Werteverschiebungen in der Dimension Bewahrung der Ordnung vs. Offenheit für Veränderung zwischen den Generationen (Werte nach Schwartz). Datenquelle: ESS 2002, 2004, 2006, 2014, 2016, 2018 und VIC 2020; gewichtete Daten

Die sozialen Turbulenzen der letzten Jahre, die auch Österreich nicht verschonten, waren vielfach von politischen Maßnahmen begleitet, die primär auf die Sicherung des eigenen Wohlstandes und auf die Integration durch individuelle Leistung ausgerichtet waren. Es wird sich zeigen, ob sich diese Werte mittelfristig auch in der Bevölkerung breiter niederschlagen oder ob Gegenbewegungen einer ökologisch- und sozialverträglichen Transformation in Österreich, oder zumindest in Teilen der österreichischen Bevölkerung, an Bedeutung gewinnen. Erste Anhaltspunkte dazu wird der nächste Abschnitt zu den Zukunftsvorstellungen der Österreicher*innen aufzeigen.

3.2 Ergebnisse zu den Wünschen und Erwartungen für die Zeit nach dem Ende der Covid-19-Pandemie

In der österreichischen Erhebung der VIC-Studie wurde eine neue Fragebatterie zu den Zukunftswünschen und -erwartungen der Bevölkerung entwickelt. Dabei wurde zum einen untersucht, für wie wahrscheinlich es die Österreicher*innen erachten, dass es durch die Krise zu Veränderungen in Richtung einer nachhaltigeren und solidarischeren Gesellschaft kommen wird. Zum anderen wurde ermittelt, ob sich die Österreicher*innen persönlich wünschen, dass sich die Gesellschaft in diese Richtung ändert oder ob möglichst rasch eine Rückkehr zur gewohnten Normalität erfolgen sollte. In den Fragelisten über Zukunftswünsche und (realistische) Zukunftserwartungen wurden Themen aufgegriffen, die während der Corona-Krise in der medialen Öffentlichkeit diskutiert wurden. Da wir annahmen, dass bei der Liste der Zukunftswünsche eine starke Tendenz zu sozial erwünschten Antworten besteht, wurde diese Frageliste in Form von gegensätzlichen Statements formuliert. Dem Ziel der Reduzierung des Leistungsdrucks in der Wirtschaft wurde das Ziel der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gegenübergestellt; die Aussage „Krisen-Betroffene sollten für sich selbst verantwortlich sein“ wurde mit dem Statement „Betroffene sollte man durch eine Reichensteuer unterstützen“ kontrastiert usw. (siehe Abb. 8.6).

Abb. 8.6
figure 6

Wie sollte das Leben in Österreich nach dem Ende der Corona-Krise weitergehen? (Anteil der Befragten in %, die sich für die linke bzw. für die rechte Aussage entschieden). Datenquelle: VIC 2020; gewichtete Daten

Laut den Ergebnissen einer explorativen FaktorenanalyseFootnote 13 lassen sich die in diesen Gegensatzpaaren angesprochenen Veränderungen vier übergeordneten gesellschaftlichen Zielen zuordnen: F1) der Ansicht, dass Unterschiede zwischen sozialen Gruppen legitim sind und zugleich gewisse Überwachungsmaßnahmen fortgesetzt werden sollten vs. dem Wunsch, dass mehr Maßnahmen zur Umverteilung gesetzt werden sollten und die eigene Privatsphäre auch nach dem Ende der Corona-Krise besonders geschützt werden sollte;Footnote 14 F2) dem Wunsch, dass die Globalisierung weiter fortschreiten soll vs. dem Wunsch, dass der kapitalistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft stärkere Schranken auferlegt werden soll; F3) dem Wunsch, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit weiterhin Vorrang haben sollte vs. dem Wunsch, dass sich die Gesellschaft nach dem Ende der Corona-Krise stärker in Richtung Umweltschutz und Nachhaltigkeit entwickeln soll; und F4) Forderungen nach einem Wiedererstarken des Nationalstaates vs. dem Bedürfnis nach europäischer Solidarität und kultureller Diversität. Die Zuordnung der einzelnen Statements zu diesen vier Faktoren ist in der linken Spalte in Abb. 8.6 dargestellt.Footnote 15

Abb. 8.6 verdeutlicht, dass sich bei den Fragen, in denen das Spannungsfeld zwischen Solidarität mit den österreichischen Mitbürger*innen versus Eigenverantwortung des/der Einzelnen angesprochen wird (Faktor 1), eine deutliche Mehrheit (von 55 bis 70 %) der Befragten für den Pol der Solidarität ausspricht (Rücksichtnahme auf andere; höhere Löhne für niedrigbezahlte Handels- und Gesundheitsberufe; Aufrechterhaltung des Sozialstaates). Befragte, die sich mehr Solidarität wünschen, sprechen sich zugleich dafür aus, dass die Bürger*innen nach dem Ende der Corona-Krise wieder alle Freiheiten zurückbekommen sollten. Die Solidaritätsbereitschaft ist deutlich niedriger, wenn es um die Frage der finanziellen Unterstützung der Bevölkerung in anderen EU-Ländern oder um die Aufnahme von Migrant*innen geht (Faktor 4).

Nur knapp 40 % sind der Ansicht, dass die reicheren EU-Staaten, die von der Corona-Krise besonders betroffenen Länder finanziell unterstützen sollten und fast 60 % finden, dass der Zuzug von Migrant*innen nach Österreich streng geregelt werden sollte. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie, die sich aufgrund der hohen Mobilität in kürzester Zeit über die ganze Welt ausgebreitet hat, findet es die Mehrheit der Befragten zu Beginn der Krise im Frühjahr 2020 für wünschenswert, dass der Globalisierung Grenzen gesetzt, mehr einheimische Produkte konsumiert und weniger Flugreisen gemacht werden (Faktor 2). Bei den Fragen, die den Gegensatz zwischen Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Vorrang des Prinzips der Nachhaltigkeit betreffen (Faktor 3), sind die Meinungen hingegen eher geteilt: Jeweils ca. 30 bis 40 % sind der Ansicht, dass das Wirtschaftswachstum Priorität haben sollte, ein ebenso hoher Anteil plädiert für Konsumverzicht und den Vorrang von Umweltschutz und Nachhaltigkeit.

In Abb. 8.7 werden nun die Zukunftswünsche („Wie sollte das Leben in Österreich nach dem Ende der Corona-Krise weitergehen?“) den realistischen Zukunftserwartungen („Für wie wahrscheinlich erachten Sie folgende Entwicklungen?“) gegenübergestellt.Footnote 16 Bei einem Teil dieser Fragen zeigt sich nur eine geringe Differenz zwischen dem, was sich die Befragten wünschen und dem, was sie erwarten. Dies gilt insbesondere für die Frage nach der Aufnahme von Migrant*innen. Nur ein Viertel der Befragten findet, dass Österreich in Zukunft wieder mehr Migrant*innen aufnehmen sollte; der Anteil derer, die glauben, dass dies tatsächlich der Fall sein wird, ist ähnlich gering. Auch bei der Frage nach dem Konsum einheimischer Produkte ist die Differenz gering. Fast zwei Drittel der Befragten finden es wünschenswert, dass die Österreicher*innen in Zukunft mehr einheimische Produkte konsumieren, und fast ebenso viele sind optimistisch, dass die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung gehen wird.

Abb. 8.7
figure 7

Vergleich zwischen Zukunftswünschen und (realistischen) Zukunftserwartungen (in %). Datenquelle: VIC 2020; gewichtete Daten

Bei etwa der Hälfte der Fragen zeigt sich jedoch eine massive Diskrepanz zwischen Zukunftswünschen und Zukunftserwartungen. Nur wenige wünschen sich zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 eine Fortsetzung staatlicher Überwachungsmaßnahmen, aber fast zwei Drittel der Befragten befürchten, dass derartige Maßnahmen nach dem Ende der Corona-Krise aufrechterhalten werden. Ähnlich groß ist die Diskrepanz bei der Frage nach der Entlohnung von Handels- und Pflegeberufen. Mehr als zwei Drittel befürworten eine bessere Bezahlung dieser Berufsgruppen, aber nur etwa ein Viertel glaubt, dass dies tatsächlich in die Tat umgesetzt wird (zur Lohngerechtigkeit siehe auch Kap. 6 von Eder und Höllinger 2021). Relativ groß sind die Diskrepanzen auch bei der Frage nach der Aufrechterhaltung des Sozialstaates. Nur ein Sechstel der Befragten ist der Ansicht, dass die Sozialleistungen aufgrund der starken Erhöhung der Staatsschulden (infolge der Corona-Krise) reduziert werden sollten; mehr als die Hälfte glaubt bzw. befürchtet jedoch, dass es zu einem Abbau der Sozialleistungen kommen wird (zum Zukunftspessimismus siehe auch Kap. 11 von Moosbrugger und Prandner in diesem Band).

Die zum Teil großen Diskrepanzen zwischen Wunsch und Erwartung sprechen dafür, dass viele Befragte wissen oder spüren, dass ihre gesellschaftspolitischen Wunschvorstellungen aufgrund von tatsächlichen oder vermeintlichen Sachzwängen, wie auch aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse, nicht oder nur teilweise realisierbar sind. So glaubten bereits vor der Krise mehr als die Hälfte der Österreicher*innen, dass sie keinen Einfluss auf die Arbeit der Regierung hätten (Eder et al. 2020). Zudem dürfte vielen Befragten klar sein, dass ein großer Teil ihrer Mitbürger*innen nicht bereit ist, ihr Verhalten in die erwünschte Richtung zu ändern, zumal dies mit einem zu weitreichenden Bedürfnisverzicht verbunden wäre.

3.3 Der Einfluss von Grundwerten, Generationenzugehörigkeit und sozialer Lage auf die Zukunftswünsche

Im letzten Abschnitt unserer Analyse möchten wir nun anhand von sequenziellen linearen Regressionsmodellen untersuchen, welchen Einfluss die im ersten Teil dieses Beitrags behandelten Grundwerte sowie das Konzept des Materialismus vs. Postmaterialismus (Inglehart 1977)Footnote 17 auf die Zukunftswünsche ausüben. Zusätzlich analysieren wir, wie sich die Generationenzugehörigkeit und weitere soziodemografische und sozioökonomische Merkmale auf diese Wunschvorstellungen auswirken. Tab. 8.2 zeigt die zentralen Einflussfaktoren auf die vier Dimensionen von Zukunftswünschen, die mittels FaktorenanalyseFootnote 18 eruiert wurden (siehe Abschn. 8.3.2).

Tab. 8.2 Einflussfaktoren auf die Zukunftswünsche (Ergebnisse der Regressionsanalyse)

Die erste abhängige Variable (AV 1 in Tab. 8.2) bezieht sich auf Forderungen nach Umverteilung und Freiheit (im Gegensatz zur Legitimation von Ungleichheit und staatlicher Kontrolle). Die zweite AV umfasst die Befürwortung vs. Abwertung von neoliberalen Globalisierungstendenzen. Individuen, die eine Neuorientierung der kapitalistischen Funktionsweise fordern, treten hier verstärkt für eine Hinwendung zu regionalen Produkten, für eine Einschränkung des Flugverkehrs sowie auch für eine Arbeitszeitverkürzung und vermehrte Anerkennung von weniger privilegierten Berufen ein. Die dritte AV bezieht sich auf Einschränkungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zugunsten der Umwelt. Die vierte AV drückt die Offenheit für Zuwanderung und die Hinwendung zu einer europäischen Solidarität aus. In der Tabelle werden nun sowohl die Einflüsse der vier Erklärungsebenen (soziodemografische und strukturelle Faktoren, Grundwerte, politische Orientierung und Ängste vor Corona-Betroffenheit), als auch die Effektstärken der einzelnen Merkmale berichtet. Stärkere und statistisch signifikante Effekte sind grau schattiert (siehe zur Methodik auch Kap. 13 von Glatz et al. 2021). Wenn wir zunächst die Tabelle als Ganzes betrachten und die Stärke des Einflusses der vier Erklärungsebenen auf die Zukunftswünsche vergleichen, sehen wir, dass diese Zukunftswünsche relativ stark von den Grundwerten und politischen Orientierungen der Befragten geprägt sind, während die soziodemografischen Variablen und die subjektive Corona-Betroffenheit im Vergleich dazu nur einen recht geringen Einfluss haben (siehe die Fußnoten zu Tab. 8.2).

Alle vier Dimensionen von Zukunftswünschen stehen in konsistenter Weise mit der Grundwertedimension „Statuserhöhung vs. Altruismus/Universalismus“ in Verbindung. Befragte, die altruistische und universalistische Werte vertreten, sprechen sich besonders häufig für eine langfristig solidarischere Gesellschaft aus, sie lehnen die neoliberale Globalisierung wesentlich stärker ab, haben ein stärkeres Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein und zeigen auch eine etwas höhere Bereitschaft zu transnationaler Solidarität als jene, die nach egozentrierten Werten streben.

Die zweite Wertedimension nach Schwartz (1992), „Bewahrung der bestehenden Ordnung vs. Offenheit für Veränderung“, hat nur auf zwei Dimensionen von Zukunftswünschen einen signifikanten Einfluss. Befragte, die offen für Veränderungen sind, sprechen sich häufiger als andere für Solidarität, sowohl mit den Angehörigen der eigenen Gesellschaft, als auch mit Menschen aus anderen Ländern aus. In ähnlicher Weise gehen auch postmaterialistische Wertorientierungen mit dem Wunsch nach einer solidarischeren Gesellschaft einher. Etwas überraschend ist, dass sich Postmaterialist*innen und Materialist*innen in Hinblick auf Nachhaltigkeitsbewusstsein und Globalisierungskritik kaum voneinander unterscheiden.Footnote 19

Betrachtet man die politische Orientierung nach dem klassischen Links-Rechts-Schema (vgl. kritisch dazu z. B. Fuhse 2004), so zeigt sich wiederum ein konsistentes Muster über alle vier Dimensionen von Zukunftswünschen hinweg.

Befragte, die linken Parteien nahestehen, wünschen sich häufiger eine solidarische Gesellschaft, sie sind globalisierungskritischer, haben ein höheres Nachhaltigkeitsbewusstsein und eine wesentlich höhere Bereitschaft zu transnationaler Solidarität als Befragte, die rechten politischen Positionen nahestehen. Die weiteren politischen Einstellungen, die in unserem Modell berücksichtigt wurden, Institutionenverdrossenheit und Nationalstolz, bewirken primär eine Abwendung von der transnationalen Solidarität, das heißt, eine kritischere Sichtweise gegenüber Migrant*innen und gegenüber gesamteuropäischen Hilfeleistungen (zum Nationalstolz in der Corona-Krise siehe auch Kap. 4 von Hadler et al. 2021).

Die soziodemografischen Variablen, die die soziale Lage der Befragten bestimmen (Alter, Geschlecht, Bildung und Erwerbsstatus), haben im Vergleich zu den grundlegenden Werten und den politischen Orientierungen nur einen geringen Einfluss auf die Zukunftswünsche. Da für die Analyse des Wertewandels Generationenunterschiede von besonderem Interesse sind, möchten wir auch hier wieder unser Augenmerk insbesondere auf die Generationeneffekte legen: In der Tat macht sich speziell die 1968er-Generation und die Babyboomer-Generation für eine stärkere Orientierung an regionalen Produkten, für weniger Flugreisen und für eine Abkehr von der Leistungsgesellschaft stark. Während in der Generation X (also unter den heute rund 35–50-Jährigen) noch leichte Präferenzen für einen gesellschaftlichen Wandel erkennbar sind, ist der Drang nach gesellschaftlichen Veränderungen unter den jüngeren Generationen gering ausgeprägt. Es liegt nahe, dass dies an der frühen Sozialisation in der individualistischen Leistungsgesellschaft liegt, die dazu beiträgt, dass die Jüngeren nicht auf die Errungenschaften der Globalisierung verzichten möchten.

Zudem sind Frauen etwas globalisierungskritischer und nachhaltigkeitsbewusster als Männer. In Hinblick auf den Wunsch nach einer solidarischen Gesellschaft konnten hingegen keine Geschlechterunterschiede festgestellt werden. Wie in zahlreichen Ethnozentrismus- und Autoritarismusstudien (vgl. exemplarisch für Österreich Aschauer 2020b) deutlich wird, führt auch eine höhere Bildung zu einer stärkeren Ausformung der transnationalen Solidarität. Die jüngeren Generationen mit höherer Bildung denken sichtlich europäischer und treten relativ offen für Zuwanderung ein. In Bezug auf Freiheit und Gleichberechtigung sind nur wenige Effekte erkennbar. Interessanterweise sprechen sich Personen mit abgeschlossenem Lehrabschluss, jene, die sich aktuell in Kurzarbeit befinden und jene, die in der Hausarbeit aktiv sind, etwas stärker für Antiegalitarismus und staatliche Kontrolle aus. Es sind auch vorrangig mittlere Bildungsschichten (Lehre- und Fachschulabsolvent*innen), die sich eher gegen die neoliberale Globalisierung positionieren; jedoch geben sie tendenziell einer profitorientierten Wirtschaft den Vorzug gegenüber Nachhaltigkeit. Von Interesse ist, dass insbesondere Arbeitslose und Pensionist*innen eine nachhaltigere Wirtschaftsweise mit höherer Priorität versehen. Möglicherweise öffnet sich bei einer vorübergehenden oder dauerhaften Entkoppelung vom Arbeitsmarkt hier auch der Blick für alternative Sichtweisen zur Entwicklung der Gesellschaft.

Weder die finanzielle Situation, noch die Angst davor, durch die Covid-19-Pandemie einen gesundheitlichen oder ökonomischen Schaden zu erleiden, scheinen einen nennenswerten Einfluss auf die Zukunftswünsche zu haben. Die Analysen zeigen hier nur einen einzigen signifikanten Zusammenhang: Personen, die wegen Corona um Ihre Gesundheit besorgt sind, sprechen sich häufiger für eine nachhaltige Lebensweise aus.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass vor allem politische Orientierungen, die Generationenzugehörigkeit und grundlegende Wertorientierungen einzelne Facetten der gewünschten gesellschaftlichen Entwicklung in der Post-Corona-Ära erklären können. Dabei decken sich die Ergebnisse, die einerseits für eine Hinwendung zu transnationaler Solidarität (in der jüngeren Bevölkerung), als auch für eine Abkehr von der neoliberalen Globalisierung (in älteren Generationen) sprechen, weitgehend mit den vorangegangenen Erkenntnissen zum Wandel von Grundwerten innerhalb der Generationen. Die Wahrnehmung einer durch Krisen erschütterten Gesellschaft scheint bei jenen Generationen, die in der progressiven Nachkriegszeit aufgewachsen sind, mit einem nostalgischen Blick zurück auf „bessere Zeiten“ verbunden zu sein und gleichzeitig einen stärkeren Drang nach Veränderung zu erzeugen.

4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In diesem Beitrag wurden drei Themenkomplexe untersucht: Im ersten Teil ging es um die Frage, ob sich ein Wertewandel in der österreichischen Gesellschaft im Allgemeinen und bei spezifischen Generationen im Besonderen beobachten lässt. Im zweiten Teil des Beitrags wurde untersucht, welche gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Handlungsorientierungen die Österreicher*innen für die Zeit nach dem Ende der Corona-Krise für wünschenswert erachten und welche gesellschaftlichen Entwicklungen ihnen realistisch erscheinen. Im dritten Teil wurde schließlich analysiert, in welcher Weise die Zukunftswünsche durch sozialstrukturelle Merkmale, durch individuelle Grundwerte, politische Orientierungen und durch die aktuelle Corona-Betroffenheit beeinflusst sind. Im folgenden Resümee sollen die wesentlichen Ergebnisse nochmals kurz hervorgehoben und zusammenfassend interpretiert werden.

4.1 ad 1) Zur Frage des Wertewandels

Aus dem Vergleich von österreichischen Repräsentativbefragungen, in denen die Grundwertedimensionen nach Schwartz (1992) erhoben wurden, geht hervor, dass sich die Rangreihung der zehn Einzelwerte im Zeitverlauf seit der Jahrtausendwende zum Teil etwas geändert hat, dass die relative Bedeutung der vier zentralen Grundwertedimensionen aber weitestgehend konstant ist: Altruistisch-universalistische Werte fanden zu allen Erhebungszeitpunkten mit Abstand die größte Zustimmung, dem Wert der „Statuserhöhung“, dem Streben nach Macht und Erfolg, wird im Vergleich dazu eine geringe Bedeutung beigemessen. Die Bedeutung der Wertedimensionen „Offenheit für Neues“ und „Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung“ liegt zwischen diesen beiden Polen, wobei zumindest seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 in allen Generationen eine stärkere Betonung der Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung sichtbar wird. Gesellschaftliche Krisen scheinen folglich auch in Österreich eine Hinwendung zu Grundwerten wie Sicherheit, Traditionalität und Konformität zu erzeugen, weil den Menschen zunehmend bewusst wird, dass frei flottierende Individuen ohne substanzielle soziale und kulturelle Verwurzelung schlichtweg nicht existieren können und Erfahrungen der Einbettung benötigt werden (vgl. auch Walzer 1993). Diese Entwicklung als rückwärtsgewandt zu bezeichnen oder gar als konservative Schließung zu interpretieren, scheint jedoch zu kurz zu greifen, zumal den Menschen die „Offenheit für Neues“ gleichzeitig etwas wichtiger geworden ist. Im Kontext der Corona-Krise lässt sich dies als Folge der Einschränkungen des sozialen Lebens interpretieren, die dazu beigetragen hat, dass sich die Österreicher*innen wieder mehr stimulierende Erfahrungen wünschen. Während der Corona-Krise hat jedoch auch der Wert der „Statuserhöhung“ gegenüber den vorhergehenden Erhebungen deutlich an Bedeutung verloren.

4.2 ad 2) Zukunftswünsche und realistische Erwartungen

Laut den Ergebnissen unserer Erhebung wünschte sich zu Beginn der Pandemie im Mai 2020 eine klare Mehrheit der Befragten, dass die Solidarität zwischen den Angehörigen der österreichischen Gesellschaft, die in der Phase des ersten Corona-Lockdowns in verstärkter Weise hervortrat, auch nach dem Ende der Corona-Krise fortbestehen solle. Die dramatische Erfahrung der Krise mag auch dazu beigetragen haben, dass sich ein hoher Anteil der Befragten wünschte, dass die Dynamik der ökonomischen Globalisierung gebremst, die nationale und regionale Wirtschaft gestärkt und der Leistungsdruck im Berufsleben reduziert werden sollte. Unsere Studie zeigt aber auch, dass die Corona-Pandemie nicht zu einer Stärkung eines transnationalen Solidaritätsdenkens beigetragen hat; in Anbetracht der enormen ökonomischen Schäden, die die Krise hervorgerufen hat, dürfte vielmehr die Tendenz zur Befürwortung nationaler Alleingänge gestiegen sein. Die Forderung nach Solidarität bezieht sich offensichtlich vorwiegend auf Menschen innerhalb der nationalen Grenzen.

Aus dem Vergleich zwischen den Zukunftswünschen und den Erwartungen der Befragten, wie sich die Gesellschaft nach dem Ende der Corona-Krise tatsächlich weiterentwickeln wird, geht deutlich hervor, dass sich viele Befragte bewusst sind, dass ihr Wunsch nach einer solidarischeren Gesellschaft, nach einer nachhaltigeren Lebensweise und nach einer Reduzierung des Leistungsdrucks in der Sphäre des Wirtschaftslebens nach dem Ende der Corona-Krise nicht oder nur zu einem geringen Teil in Erfüllung gehen wird, sondern dass die ökonomische und soziale Entwicklung im Wesentlichen so weiter gehen wird wie bisher. Hier prallen Werte einer nachhaltigen Gesellschaft mit einer nüchternen Einschätzung der gesellschaftlichen Realität aufeinander. Angesichts der aktuellen Herausforderungen wird der Politik wenig Visionskraft und Lösungskompetenz zugetraut. Zudem dürfte vielen Befragten klar sein, dass breite Teile der österreichischen Gesellschaft selbst nicht bereit sind, auf die Vorzüge des globalen Kapitalismus zu verzichten und langfristig einen Beitrag zu einer solidarischeren und nachhaltigeren Gesellschaft zu leisten.

4.3 ad 3) Der Zusammenhang zwischen Grundwerten, sozialer Lage und Zukunftswünschen

Aus unserer abschließenden multivariaten Analyse geht hervor, dass die Zukunftswünsche von einer Reihe von Faktoren beeinflusst sind. Alle vier Dimensionen von Zukunftswünschen stehen mit den Grundwerten der Befragten und mit der eigenen politischen Ideologie in Verbindung: Befragte, die im Sinne des Werte-Instrumentariums von Schwartz altruistisch-universalistische Werte vertreten, sowie Befragte, die linke politische Positionen vertreten, wünschen sich für die Zukunft ein hohes Maß an Solidarität, sowohl innerhalb der österreichischen Gesellschaft als auch auf der transnationalen Ebene. Zugleich konnte bei diesen Befragten eine erhöhte Tendenz zur Ablehnung der neoliberalen Globalisierung und zur Befürwortung einer nachhaltigen Wirtschaftsweise festgestellt werden. Bei jenen, die im Sinne von Schwartz egoistische Grundwerte vertreten und/oder dem rechten Pol des politischen Spektrums nahestehen, zeigen sich die umgekehrten Tendenzen: Sie wünschen sich mehr individuelle Verantwortung und Leistungsorientierung, weniger staatliche Umverteilung und eine Priorisierung des Wirtschaftswachstums gegenüber der Umwelt. Sie lehnen die Forderungen nach transnationaler Solidarität vehement ab, begegnen teils jedoch auch der neoliberalen Globalisierung mit Skepsis. Die Ergebnisse unserer Untersuchung spiegeln somit die zunehmende politisch-weltanschauliche Polarisierung in unserer Gesellschaft wider. Teils sind heterogene Sichtweisen auch durch die unterschiedliche Bildung geprägt, insgesamt haben soziodemografische und schichtspezifische Einflussgrößen aber nur eine überraschend geringe Erklärungskraft. Auch die selbst wahrgenommene gesundheitliche und ökonomische Betroffenheit durch die Corona-Pandemie bedingt nur eine marginal eindeutigere Positionierung hin zu einer stärker profitmaximierenden oder nachhaltigeren Lebensweise.

Das Generationenkonzept erweist sich, wie in einschlägigen Studien bereits nachgewiesen wurde (vgl. z. B. Klein 2003; Klein und Ohr 2004), zumindest bei einzelnen Aspekten als ein zusätzlicher Erklärungsrahmen für heterogene Sichtweisen auf die gesellschaftliche Entwicklung. Die jüngeren, aufstrebenden Gruppen der Gegenwart grenzen sich zunehmend von nostalgisch orientierten älteren Generationen ab, sie folgen mittlerweile stärker dem Ethos des unternehmerischen Selbst (z. B. Bröckling 2007) und ordnen sich folglich auch stärker der individuellen Leistungsnorm unter. Insofern dürfte „die stille Revolution“ der 1970er-Jahre (Inglehart 1977), die eine Hinwendung zu postmateriellen Werten postulierte, tatsächlich sukzessive an „Nachwuchs“ (Kaina und Deutsch 2006) verlieren. Jüngere Menschen sind aktuell nur bedingt die Treiber*innen gesellschaftlicher Veränderung und scheinen angesichts der vorherrschenden Systemzwänge im Kapitalismus zunehmend die Hoffnung auf einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel zu verlieren. Diese Erkenntnisse und die durchaus sichtbare weltanschauliche Polarisierung in der Gesellschaft, lassen größere Transformationen der kapitalistischen Funktionsweise in der Entwicklung einer Post-Corona Gesellschaft und das Entstehen einer neuen Solidarität eher unwahrscheinlich erscheinen.