Zusammenfassung
Es wird vorgeschlagen, einen begriffsgeschichtlichen Zugang zu ‚Verantwortung‘ mit neo-institutionalistischen Ansätzen der Organisationssoziologie zu verbinden, um historische Transformationen von (pädagogischen) Anerkennungsordnungen in Organisationen plausibilisieren und nachzeichnen zu können. Je bestimmte pädagogisch-emphatische Begriffe werden als produktive Delegitimierung gelesen, da sie je spezifische, historisch-kulturell gewachsene Normative aufrufen, die geltende Anerkennungsordnungen problematisieren können. Am historischen Gegenstand der ‚Schülermitverantwortung‘ wird gezeigt, dass der Verantwortungsbegriff die Legitimität von schulischen Autoritätsverhältnissen grundlegend in Frage stellte. In dieser Delegitimierung kann der Verantwortungsbegriff – im Anschluss an das neo-institutionalistische Argument – produktiv wirken, weil er Schule und Lehrer*innen unter Legitimierungs- und damit Transformationsdruck setzt.
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Notes
- 1.
Online einsehbar auf der Homepage der Kultusministerkonferenz; Stand: April 2019 (www.kmk.org/dokumentation-statistik/rechtsvorschriften-lehrplaene/uebersicht-schulgesetze.html).
- 2.
Berechtigte Kritik an diesem sehr gradlinigem Narrativ formuliert Vogelmann (2014).
- 3.
Für die Darstellung und kritische Diskussion des antwortenden Verantwortungsbegriffs siehe Kuhlmann und Ricken (2017, S. 132–136).
- 4.
Im Folgenden wird nur der Verantwortungsbegriff von Hermann Nohl dargestellt. Für einen Überblick siehe Kilchsperger (1985).
- 5.
Insbesondere der Preußische Erlass vom 27.11.1918 und der Bayerische Erlass vom 01.12.1918 sind hier von Bedeutung (vgl. Müller 1997).
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Kuhlmann, N. (2020). Der Verantwortungsbegriff als produktive Delegitimierung des Schulischen. In: Fahrenwald, C., Engel, N., Schröer, A. (eds) Organisation und Verantwortung. Organisation und Pädagogik, vol 27. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26248-8_10
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