Zusammenfassung
Das reflexive Erkenntnisinteresse an „Kultur“ als Ursprung der Kultursoziologie lässt sich in Japan in der Taishô-Zeit (1911–1925) verorten, in der die modernen massenmedialen und -kulturellen Phänomene entstanden sind. Nach dem Scheitern der völkischen „Soziologie der japanischen Kultur“ mit dem Zusammenbruch des totalitalischen Regimes – Hiermit ist das Regime nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur nationalen Generalmobilmachung von 1938 bis zur bedingungslosen Kapitulation des Großkaiserreich Japans von 1945 gemeint – erfolgte die Erforschung der Massenkultur zuerst als „Sozialpsychologie“ nach dem US-amerikanischen Vorbild bis in die 1980er-Jahre. Die gegenwärtige Kultursoziologie in Japan fußt auf Denktraditionen der ersten Generation der Frankfurter Schule in Westdeutschland, den Kulturmarxismus und die Cultural Studies in Großbritannien sowie den Poststrukturalismus in Frankreich. Seit der Rezeption der Diskurse zur Postmoderne und Globalisierung sowie angesichts einer immer stärker globalisierten Weltwirtschaft und des damit einhergehenden Kulturwandels haben sich Konsumgesellschaft, Mediengesellschaft und Globalisierung als Leitthemen in der kultursoziologischen Forschung etabliert.
Notes
- 1.
Ich orientiere mich dabei an Yoshimis Verständnis und Darstellung der Kultursoziologie, da sich mir aufgrund meines Wohnsitzes in der Schweiz eine umfassende Literaturrecherche in Japan verbietet.
- 2.
Zwar erfreute sich Max Weber in Japan einer großen Leserschaft (dies mag nach wie vor der Fall sein); jedoch bestand diese nicht (nur) aus Soziologen, sondern ebenso aus Wirtschaftshistorikern, Politologen, Philosophen, Rechtshistorikern u. a., die sich entweder mit der Weber-Philologie beschäftigten oder historisch-biographische Studien zu Max Weber verfassten. Meiner Meinung nach existiert jedoch innerhalb der Soziologie im engeren Sinne in den letzten 20 Jahren keine nennenswerte Weber-Schule mit einem gemeinsamen Forschungsprogramm. Zur japanspezifischen Weber-Rezeption siehe Schwentker 1998. Zur sogenannten bürgerlichen Schule (Marx-Weber-Schule) siehe Ibaraki 1989.
- 3.
Zum Einfluss seiner Evolutionstheorie auf die Konstruktion des Selbstbildes im modernen Japan siehe Morikawa 2013, S. 111–113.
- 4.
Nagao Ariga studierte bei Lorenz von Stein.
- 5.
Wie der Begriff „formale Soziologie“ andeutet, übernahm Takata deren Konzept von Georg Simmel.
- 6.
Vgl. auch Shimada 2007, 2008. Eine ähnliche kulturkritische Instrumentalisierung soziologischer Schemata findet sich auch gelegentlich in aktuellen japanischen Schriften. Etwa wird behauptet, dass die gegenwärtigen Probleme Japans auf den Einfluss der westlichen Moderne seit der Meiji-Restauration 1868 durch die Säkularisierung sowie die Zunahme des Individualismus und Materialismus zurückführbar seien; daher sei es erforderlich, die traditionelle Religion wieder zu beleben bzw. zu verstärken (siehe z. B. Inaba 2013, S. 149–152). Es ist klar ersichtlich, dass dieses Denkmuster unter der Bannkraft der europäischen Romantik steht. Zum japanischen Kontext siehe zunächst Morikawa 2008a, b, 2013.
- 7.
Aono (1930) lieferte die erste sozialwissenschaftliche Analyse dieser neueren Mittelschicht.
- 8.
Abgesehen von Shanghai befanden sich alle diese Großstädte im Territorium des damaligen „Kaiserreichs Großjapan“.
- 9.
Interessant ist, dass die gegenwärtige Bedeutung des japanischen Worts bunka, dessen Sinngehalt mit dem deutschen Kulturbegriff fast deckungsgleich ist, zu jener Zeit zur Verbreitung gelangte. Leider kann im vorliegenden Beitrag nicht auf die Semantik von bunka vor dem Hintergrund des Gesellschaftsumbruchs im Japan jener Zeit eingegangen werden. Er wird in einem anerkannten Großwörterbuch von der japanischen Sprache (Kôjien) folgenderweise definiert: „Der Inbegriff aller materiellen und geistigen Produkte, die durch menschlichen Tätigkeiten von der Natur heraus gebildet werden. Dies umfasst Formen und Inhalten der Lebensgestaltung wie Nähren, Kleiden und Wohnen sowie Technik, Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion und Politik“ (Shinmura 1998, S. 2380, S. 4). In einem anderen Großwörterbuch steht: „Der Inbegriff der Lebensformen bzw. Verhaltensdispositionen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft angeeignet, geteilt und vermittelt werden“ (Matsumura 2006: http://www.weblio.jp/content/%E6%96%87%E5%8C%96. Zugegriffen am 07.03.2016. In den beiden Wörterbüchern ist darauf hingewiesen, dass diese Bedeutung von dem englischen Wort „culture“ übertragen worden ist.
- 10.
„[…] a person’s status and role with respect to the economic processes of society imposes upon him certain attitudes, values and interests relating to his role and status in the political and economic sphere. It holds, further, that the status and role of the individual in relation to the means of production and exchange of goods and services gives rise in him to a consciousness of membership in some social class which share those attitudes, value and interests.“ (Centers 1949, S. 28–29).
- 11.
Nach Ausbruch des Pazifischen Krieges bis Kriegsende war es ihm untersagt, aus den USA auszureisen und nach Japan zurückzukehren.
- 12.
Das Verhältnis zwischen Kultur und Persönlichkeit ist auch ein Hauptthema des 1957 publizierten Kursbuchs für Soziologie. Vgl. Iida 2014, S. 47 f.
- 13.
Die oben genannte Bürgerschafts-Schule betrachtete die Rückständigkeit Japans als Grund für die Bildung dieses Regimes. Ob ihr modernisierungstheoretisches Narrativ Bestand hat, ist aus heutiger Sicht fraglich.
- 14.
In dem von ihm mitherausgegebenen Kursbuch für Soziologie ist ein Teilband dem Thema „Massenkommunikation“ gewidmet (Fukutake und Hidaka 1964).
- 15.
Damit werden hier die verschiedenen kommunistischen Sekten und Gruppierungen gemeint, die vornehmlich in den 70er-Jahren unter dem Namen „Die Rote Armee“ mit Gewalt und Waffen auf eine kommunistische Revolution abzielten. Repräsentativ waren davon Nihon sekigun (Die japanische Rote Armee) und Rengô sekigun (Die vereinte Rote Armee). Sie unternahmen innerhalb und außerhalb Japans zahlreiche Terrorangriffe. Als die bekanntesten Anschläge gelten der Zwischenfall in Asama-sansô von 1972 (durch Rengô sekigun) und die Entführung des Flugzeugs Japan Airlines 472 von 1977 (durch Nihon sekigun). Bei dem letzteren gab der japanische Premierminister Takeo Fukuda – anders als Helmut Schmidt einem Monat später – den Täter nach, bezahlte Lösegeld im Wert von 6 Mio. US-Dollar und entließ die neun im Gefängnis absitzenden Sektenmitglieder bzw. Sympathisanten.
- 16.
Originaltitel: Maladie mentale et psychologie; dt.: Psychologie und Geisteskrankheit.
- 17.
Über Yoshimi siehe ein englischsprachiges Interview in Theory, Culture & Society (Tamari 2006).
- 18.
Jedoch hat die Luhmann-Rezeption in Japan seit 35 Jahren Schritt für Schritt erfolgt. Heute kann man fast alle von seinen originär in Buchform erschienen Arbeiten auf Japanisch lesen.
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Morikawa, T. (2017). Kultursoziologie in Japan. In: Moebius, S., Nungesser, F., Scherke, K. (eds) Handbuch Kultursoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-08000-6_17-2
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Kultursoziologie in Japan- Published:
- 21 February 2017
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Original
Kultursoziologie in Japan- Published:
- 17 November 2016
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-08000-6_17-1