Zusammenfassung
Die letzten Jahrzehnte der Beschäftigung mit dem homerischen Epos haben von neuem die Möglichkeit eröffnet, Ilias und Odyssee auf einen historischen Zusammenhang zu beziehen. Die vertieften Bemühungen von Philologie und Geschichte, von Archäologie und Sprachwissenschaft haben immer wieder dargetan, daß in das kunstvolle Geflecht der großen Epen älteste Erinnerungen verwoben wurden, die bis in die längst versunkene glanzvolle Welt des Frühgriechentums zurückreichen. Zugleich aber wurde etwas anderes erneut bestätigt: Vorzüglich in der Odyssee, wann immer sie verfaßt wurde und wer immer ihr Dichter gewesen sein mag, spiegelt sich auch ein Stück Realität — vermutlich des späten 8., eher noch des 7. Jahrhunderts. Rechts Vorstellungen und religiöse Formen, Sozialordnung und politische Struktur entsprechen in entscheidenden Zügen der Verfassung in den später hochberühmten Städten des kleinasiatischen Griechentums, sie deuten auf eine Aristokratie, die das seit alters bestehende Königtum zwar nicht beseitigt, jedoch entmachtet hat und welche die spezifischen Merkmale eines Feudalsystems anzunehmen beginnt — wer denkt nicht an die Rolle der Freier auf Ithaka während der langen Abwesenheit des Odysseus, in Wahrheit einer Gruppe von Aristokraten, deren Treiben das Epos in unvergänglichen Szenen der Wirklichkeit abgelauscht hat. Darüber hinaus wird dem aufmerksamen Leser ein wesentlicher Punkt nicht entgehen: In vielen Bezügen und in dem das Ganze bestimmenden Grundmotiv ist die Odyssee mit der Bewegung der Kolonisation aufs engste verbunden und setzt diese voraus1).Eine erstaunliche Kenntnis von Schiffahrt und Seewesen, die hier und dort an die Präzision von Schiffsjournalen erinnert, der diagnostische Blick, mit dem außerhalb des damaligen Griechentums befindliche Völker beschrieben werden und ihr Gebiet auf seine Eignung für menschliche Siedlung geprüft wird, die Schilderung von Städtegründungen, die bis ins Detail den strengen Formen des aus späterer Zeit bekannten Gründungsrituals entsprechen, weisen auf einen Autor hin, der jene bewegte Zeit miterlebt hat, die in der Entsendung einer Fülle von Kolonien nicht nur ihre Kraft bewies, sodern zugleich ihrer Not Herr werden mußte.
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K. J. Beloch, Camanien, Berlin 1879, 202 ff.
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© 1960 Springer-Verlag OHG. Berlin · Göttingen · Heidelberg
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Schaefer, H. (1960). Eigenart und Wesenszüge der Griechischen Kolonisation. In: Heidelberger Jahrbücher. Heidelberger Jahrbücher, vol 4. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-45950-4_5
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