Zusammenfassung
Das Land der Kurden, Kurdistan, ist kein Staat, sondern ein recht geschlossenes, mehrheitlich von Kurden bewohntes Siedlungsgebiet, das zum größten Teil bis 1920 zum Osmanischen Reich gehörte und dann auf drei Staaten aufgeteilt wurde: Türkei, Irak und Syrien. Die Grenzen dieses Gebiets haben sich häufig geändert und sind im einzelnen unbekannt. Der Osten des kurdischen Siedlungsgebietes gehört seit Jahrhunderten zum Iran. Das Verlangen nach einem kurdischen Nationalstaat wird durch mehrere Faktoren geschwächt. Es gibt bis heute keine gemeinsame kurdische Hoch- und Schriftsprache, außerdem ist das Stammes- und Regionalbewußtsein unter den Kurden weitaus stärker als das gesamtkurdische Nationalbewußtsein. Vor allem aber müßte sich eine gesamtkurdische Nationalbewegung gleichzeitig gegen vier Staaten und gegen den internationalen Konsens zur Bewahrung des staatlichen Status quo durchsetzen. Kurdische nationale Bestrebungen haben sich deshalb in den letzten Jahrzehnten mehr auf die Erlangung von Minderheitenrechten, territorialer Autonomie oder föderativer Staatlichkeit innerhalb der bestehenden Staaten konzentriert. Diese Bestrebungen stoßen jedoch bei der Mehrheitsbevölkerung der vier Staaten auf die Befürchtung und den Verdacht, nur Übergangscharakter zur vollständigen staatlichen Unabhängigkeit besitzen zu sollen.
Testfall für eine föderative Integration der Kurden wird in den nächsten Jahren der Irak sein, sobald die US-amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten das Land verlassen haben. Die Grenzen der Autonomen Region Kurdistan sind bis heute heftig umstritten. Insbesondere ist die Zugehörigkeit der erdölreichen Provinz At Tamim mit Kirkuk ungeklärt. Viel hängt dabei auch von der Kurdenpolitik der Türkei ab, die in den letzten Jahren erste vorsichtige Schritte zur Anerkennung kultureller Bedürfnisse ihrer eigenen Kurden unternommen hat, aber die Verselbständigung der Autonomen Region Kurdistan im Irak entschieden ablehnt.
Die negativen Erfahrungen mit dem staatlichen Auseinanderbrechen von multinationalen Staaten sollten kein Hindernis dafür sein, nach Formen der Autonomie und Föderierung zu suchen, die die Gefahr des Zerfalls bestehender Staaten minimieren. Die Stärkung kommunaler Autonomie und die Legalisierung von staatsbejahenden kurdischen Sektionen innerhalb bestehender Parteien kann ein bescheidener, weiterer Schritt zur Anerkennung und Stärkung der ethnischen Identität der Kurden in der Türkei sein. Im Irak sind die ethnoreligiöse Nationalisierung der Parteien und die Autonomie der Kurdenregion wohl nicht mehr revidierbar. In Syrien und im Iran wirkt die Repression der Kurden ungebrochen fort. Es ist eine offene Frage, ob die Kurden wie die Araber, die Südslawen und die Deutschen sich in mehrere Nationen auseinanderentwickeln oder auf die Dauer doch noch zu einer Nation einigen werden.
Vorlesung vom 14. Dezember 2009 in Frankfurt und vom 7. Dezember 2009 in Mannheim.
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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Jahn, E. (2012). Auf dem Weg zu zwei, drei, vier Kurdistans?. In: Politische Streitfragen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94313-8_10
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