Zusammenfassung
Seit einigen Jahren findet eine umfassende und tiefgreifende Veränderung des deutschen Hochschulwesens statt, wie nicht mehr seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese Veränderung wird kühn als Reform, d. h. als Verbesserung deklariert. Sie findet fast völlig ohne kontroverse öffentliche Diskussion und im Allparteienkonsens statt. Im privaten Gespräch erklären wohl die meisten Professoren diese Veränderungen für eine Katastrophe, ohne daß sie zum organisierten Widerstand oder gar zu eigenen, untereinander abgestimmten Reformvorstellungen fähig wären, die älteren bedauern lediglich ihre Nachfolger.
Die Veränderung der Universitäten läßt kaum einen Bereich unverändert: das Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Universität, die innere Organisation der Universität, die Konkurrenz der Universitäten untereinander, die Personalstruktur, die Laufbahnmuster des universitären Nachwuchses, das Besoldungswesen, das Verhältnis von Forschung und Lehre, die Verteilung von Forschungsmitteln, die Aufteilung des Studiums in durch Prüfungen getrennte Stufen (B.A., M.A., Promotion), die Vielfalt der Studiengänge, das Prüfungswesen, das Studienverhalten, die Lehrmethoden und manches andere mehr. Obwohl das Leistungsprinzip zum Leitmotiv der Hochschulreformen erklärt wird, findet tatsächlich eine umfassende Bürokratisierung des Hochschulwesens und Standardisierung einfach meßbarer Leistungsindikatoren statt, die die tatsächliche wissenschaftliche und pädagogische Leistung der Universitäten vermutlich erheblich beeinträchtigen wird. Zur leichteren Erhebung und zum Vergleich der Leistungsindikatoren werden Anforderungen gesetzt, die oft nur zum Leistungsbluff und zur Vergeudung personeller und finanzieller Ressourcen herausfordern. Unbewußtes Vorbild hierfür scheint der sowjetsozialistische Bürokratismus zu sein.
Die Hochschulreformen der letzten Jahre sind wohl eher Hochschulregressionen. Sie sind zum Teil Reaktion auf schleichende strukturelle Veränderungen des Hochschulwesens in den vergangenen Jahrzehnten und gehen zum anderen Teil auf den Einstellungswandel zu Bildung und Ükonomie in der Gesellschaft zurück. Sie wirken vermutlich zerstörerisch auf die Forschung und die Lehre an den Universitäten zugunsten weniger kollektiver Spitzenleistungen und zulasten allgemeiner Niveausenkung sowie scheinbar gerechterer Messung und Honorierung akademischer Leistungen, behindern jedoch unkonventionelle wissenschaftliche Innovationen von einzelnen Außenseitern, die den eigentlichen wissenschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Auch die Lehre kann infolge zu häufiger und standardisierter Prüfungen immer weniger der Selbständigkeit und Originalität des Denkens der Studierenden Rechnung tragen.
Vorlesung vom 16. Mai 2011 in Frankfurt und vom 3. Juli 2006 in Mannheim.
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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Jahn, E. (2012). „Die Rache des Sowjetsozialismus“: die Bürokratisierung des deutschen Hochschulwesens. In: Politische Streitfragen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94312-1_9
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