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Die Versuchung der Gewissheit

Humberto R. Maturanas und Francisco J. Varelas Der Baum der Erkenntnis

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Schlüsselwerke des Konstruktivismus

Zusammenfassung

Es gibt in der Welt der Bücher jene kleine Gruppe an Instant-Klassikern, deren langfristige Bedeutsamkeit am Tag ihres Erscheinens erkennbar ist – und die noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später als Referenz- oder Fixpunkte firmieren. Dann wären solche Bücher zu nennen, die über Jahre oder Jahrzehnte ein unbeschauliches Dasein fristen, um plötzlich als wichtig und zentral neu entdeckt und als klassisch rezipiert zu werden. Weiters finden sich in der Welt der Buchveröffentlichungen jene Werke, die eine große Vision (Joseph A. Schumpeter) mit sich tragen, die deswegen zu Klassikern avancieren, weil diese Vision in den Jahren und Dekaden danach sukzessive eingelöst und verwirklicht wird. Eine besondere Gruppe stellen jene Werke dar, die von ihrer Form und ihren Arrangements her bislang bekannte Wege verlassen und seltsam gelungene Rekombinationen bisheriger Formen liefern und deswegen als Schlüsselwerke gelten. Und zu guter Letzt mischen sich in die Gruppe von Klassiker-Neuerscheinungen auch solche Werke, bei denen lange Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen Verwunderung entsteht, warum sie jemals als bahnbrechend erscheinen konnten.

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Notes

  1. 1.

    Charles Darwins Buch On the Origin of Species (2006) aus dem Jahr 1859, das am Tag seines Erscheinens ausverkauft war oder die Theory of Games (1972) von John von Neumann und Oskar Morgenstern aus dem Jahr 1944, die am Tag der Veröffentlichung auf der ersten Seite der New York Times ausführlich gewürdigt wird, stellen zwei paradigmatische Fälle aus dieser ersten Gruppe dar.

  2. 2.

    Konstruktivismus soll als ein Cluster von Forschungstraditionen verstanden werden, der – so beispielsweise Karin Knorr-Cetina – sich in drei Hauptrichtungen ausdifferenziert, nämlich in einen kognitionstheoretischen oder radikalen Konstruktivismus, einen lebensweltlichen Sozialkonstruktivismus mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann als Zentralfiguren (Berger und Luckmann 1970) und schließlich einen empirisch wissenschaftsanalytischen Konstruktivismus mit einem Fokus auf Laborstudien (Knorr-Cetina 1989).

  3. 3.

    Unter radikaler oder kognitionstheoretischer Konstruktivismus soll eine kleine Gruppe von Autoren subsumiert werden, die im Rahmen von sich selbstverstärkenden Sammelbänden im deutschen Sprachraum unter diesem Label popularisiert wurden. Es ist durchaus nicht ohne Reiz darauf zu verweisen, dass – sieht man einmal von der Siegener Gruppe um Siegfried J. Schmidt ab – von den vier Musketieren des radikalen Konstruktivismus, nämlich Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela, Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster, ein einziger – Ernst von Glasersfeld – diesen Brand-Namen intensiv verwendet, wogegen die anderen drei diese Gruppenbezeichnung für sich jeweils stark ablehnen. Aus diesem Grund wird man auch vergeblich nach der Begriffskombination von „radikal“ und „Konstruktivismus“ im Baum der Erkenntnis suchen, selbst der Ausdruck „Konstruktivismus“ hat seinen Weg in das Sachregister nicht gefunden. Und bei genauerer Betrachtung eröffnen sich zudem deutliche inhaltliche Differenzen und Differenzierungen zwischen dem gemeinsamen autopoietischen Programm durch Maturana und Varela, der späteren neurophänomenologischen Wende durch Varela (Rudrauf et al. 2003), Heinz von Foersters Kybernetik zweiter Ordnung und Ernst von Glasersfelds an Jean Piaget angelehnter Lern- und Sprachtheorie.

  4. 4.

    In diesem einleitenden Übersichtsartikel von Siegfried J. Schmidt wird in der Bibliografie am häufigsten eine Gruppe deutschsprachiger Autoren angeführt, nämlich Peter M. Hejl (6 Nennungen), Gerhard Roth (6) und Siegfried J. Schmidt (9), gefolgt von der Ingroup an radikalen Konstruktivisten, nämlich Heinz von Foerster (2), Ernst von Glasersfeld (4), Humberto R. Maturana (2) und Francisco J. Varela (3). Interessanterweise wird Jean Piaget, der Stein des Anstoßes für den Ausdruck radikaler Konstruktivismus durch Ernst von Glasersfeld aus dem Jahr 1974, nur ein einziges Mal erwähnt – und eine Outgroup von anscheinend radikalen Nichtkonstruktivisten wie W. Ross Ashby, Stafford Beer oder Gordon Pask findet sich gar nicht inkludiert.

  5. 5.

    Vgl. zum Repertoire der wissenschaftsphilosophischen Argumentationen gegen eine evolutionäre Erkenntnistheorie speziell den Sammelband von Robert Spaemann, Peter Koslowski und Reinhard Löw (1984), worin sich auch ein kritischer Artikel von Wolfgang Stegmüller findet.

  6. 6.

    Vgl. beispielsweise die Arbeit von Katherine N. Hayles (1999) zur Geschichte der Kybernetik.

  7. 7.

    Zum Themenkomplex der units of evolution vgl. nur Ereshefsky (1992).

  8. 8.

    Familienähnlichkeiten finden sich aber zum Werk von Lynn Margulis, speziell Margulis (1981, 1993, 1998) oder Valentin Braitenberg (1984), der ungefähr zum selben Zeitpunkt eine kybernetische Geschichte der Evolution als Abfolge von kybernetischen Vehikeln vorlegt.

  9. 9.

    Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass Francisco J. Varela, Humberto R. Maturana oder Ricardo Uribe weiterhin wissenschaftlich sehr aktiv geblieben sind, allein das gemeinsame autopoietische Projekt wurde weder experimentell oder theoretisch weiter entwickelt. Die Publikationen von Humberto R. Maturana streuen sehr stark innerhalb von philosophischen Feldern – und Francisco J. Varelas Kooperationspartner waren seit den späten 1980er Jahren in kognitionstheoretischen oder phänomenologischen Milieus angesiedelt – und die empirisch-experimentellen Arbeiten Varelas erfolgten zumeist ohne Referenz zum autopoietischen Programm.

  10. 10.

    Ein bemekenswerter clash of academic civilizations hat sich beispielsweise während einer Tagung zur Popper’schen Erkenntnistheorie ereignet, bei der Humberto R. Maturana seine Positionen in einem philosophischen Kreis auszubreiten versuchte – und das philosophische Umfeld diese Ausführungen in heftiger Form als völlig inakzeptabel ablehnte. Vgl. dazu Maturana (1991) oder auch Müller (1993).

  11. 11.

    Vgl. dazu beispielsweise das geplante und nicht bewilligte BCL-Projekt, in dem es um dreidimensionale Projektionen vierdimensionaler Objekte und um unterschiedliche Formen des Lernens – visuell-haptisches Lernen versus rein visuelles Lernen – gegangen wäre. Zu Details vgl. Müller (2007).

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Müller, K. (2015). Die Versuchung der Gewissheit. In: Pörksen, B. (eds) Schlüsselwerke des Konstruktivismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19975-7_15

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