Zusammenfassung
Bereits ein kurzer Blick in die Arbeiten von Zygmunt Bauman offenbart, dass die Auseinandersetzung mit Ambivalenz, Ambiguität, Multivalenz und Vieldeutigkeit einen gedanklichen Fokus im Denken Baumans darstellt. Dringt man tiefer in das Werk ein, so entsteht nicht zu Unrecht der Eindruck der Allgegenwärtigkeit von Ambivalenz. Scheinbar unabhängig von der jeweils gewählten Fragestellung erscheinen Ambiguität, Ambivalenz und ihre sozialen Auswirkungen in thematisch so unterschiedlichen Bereichen wie der Untersuchung zur gesellschaftlichen Rolle von Sozialwissenschaftlern, historischen Studien zur Geschichte der Judenvernichtung, sozialtheoretischen Analysen zur Kennzeichnung der Moderne oder schließlich in Reflexionen zu den typischen Lebensformen und Lebensproblemen in der Postmoderne. Diese Beobachtung führt zu der leitenden These dieses Beitrages, dass Bauman Ambivalenz als ein Grundmerkmal von Vergesellschaftungsprozessen ansieht. Im Folgenden soll aufgeklärt werden, wie und mit welchen Konsequenzen für seine Soziologie diese Annahme ausgeführt wird.
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Anhand dieser Rekonstruktion des Ambivalenzkonzepts und seiner internen Verknüpfung mit dem Ambiguitätsbegriff können auch die Unterschiede zwischen Baumans und anderen Ambivalenzkonzeptionen innerhalb der Soziologie aufgezeigt werden. So arbeitet Mertons (1976) Ambivalenzbegriff mit der Unterscheidung von Status und Rolle und erfasst Ambivalenz als Konflikt zwischen institutionalisierten Erwartungen an den Inhaber einer Rolle oder Statusposition. Dieses Verständnis gliedert jedoch die Untersuchung von Ambivalenz tendenziell der Konflikttheorie ein und vernachlässigt vollständig die Bedeutung von Ambiguität für die Entstehung konfligierender Erwartungen. In den Analysen von Nedelmann (1992) wird Ambivalenz als eine von drei möglichen Handlungsorientierungen der Interaktion verstanden. Der Gewinn dieser Analyse liegt nicht nur in der Wiedererinnerung an die Bedeutung von Ambivalenz in den Arbeiten von Georg Simmel, sondern vor allem im Hinweis auf die soziale Bedeutung von Ambivalenz als einer Ressource der Interaktion, die Handlungsmöglichkeiten eröffnen kann. Allerdings versucht auch dieser Ansatz ohne den Ambiguitätsbegriff das Phänomen der Ambivalenz aufzuklären. Anders hingegen geht Lüscher (1997) vor. Ohne Rückgriff auf die Tradition der Rhetorik als einer der Quellen für eine Ableitung von Ambivalenz aus Ambiguität heraus (Levine 1985), unterscheidet er im Anschluss an die psychologische Tradition der Ambivalenzkonzeption zwischen Ambiguität und Ambivalenz und differenziert in Erinnerung an Mertons Ansatz zwischen einer individuellen und einer institutionellen Ebene von Ambivalenz. Vor allem die letztgenannte Unterscheidung öffnet die Möglichkeiten für eine Rekonstruktion von institutionellen Arrangements der Ambivalenzbewältigung. Der Vorschlag von Lüscher bindet aber die Analyse von Ambivalenz an eine anthropologische Skizze des Menschseins, die mit der gleichzeitig angestrebten Öffnung für den Diskurs der Postmoderne und ihres radikalen Verzichts auf anthropologische Aussagen nicht vereinbar erscheint. Im Gegensatz zu diesen drei Ambivalenzkonzeptionen sucht Junge (2000a) Ambivalenz deutlicher noch als Bauman aus dem Phänomen der Ambiguität abzuleiten, um eine kultur- und praxistheoretisch orientierte wissenssoziologische Analyse von Vergesellschaftung als Prozess der Erzeugung von Ordnungspluralität (Junge 2000b) der Ambivalenzbewältigung zu entwickeln.
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Meines Erachtens überschreiten die Schriften zur postmodernen Ethik das soziologisch Sagbare. Die Aufgabe der Praxistheorie ist ein zu hoher Preis für den Gewinn, die Überwindung der üblichen ethiktheoretischen Dichotomie zwischen individualistischen und kollektivistischen Ansätzen und ihre Ersetzung durch eine Trias (Lash 1996). Die ethiktheoretischen Schriften mögen noch als Grenzbereich der Skizze einer Lebensform in der Auseinandersetzung mit Ambivalenz erscheinen, sie lassen sich jedoch nicht mehr in das herkömmliche Gerüst einer Analyse der Lebensformen einkleiden, weil sie sich gerade nicht des Vokabulars von Pilgern, Touristen, Vagabunden, Parvenues und Flaneuren bedienen. Sie verlassen die soziale Beschreibung von Typen und sozialen Regelmäßigkeiten und wenden sich, gemäß den Grundüberlegungen einer Ethik der Alterität, der Einzigartigkeit der Situation der Begegnung mit dem anderen zu. Aber aus diesem Grund sind sie auch soziologisch nicht mehr zu fassen (Junge 2001).
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Junge, M. (2014). Ambivalenz: eine Schlüsselkategorie der Soziologie von Zygmunt Bauman. In: Junge, M., Kron, T. (eds) Zygmunt Bauman. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19903-0_4
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