Zusammenfassung
Im Frühjahr 2011 überraschten Tunesien und Ägypten die westliche Welt, indem sich die dortigen Bevölkerungen ihrer diktatorischen Herrscher durch weitgehend unblutige Revolutionen entledigten und sich entschlossen, ein demokratisches System aufzubauen. Schon Ende 2011/Anfang 2012 fanden in beiden Ländern die ersten freien Wahlen seit einem Vierteljahrhundert statt – und schockierten die westliche Welt mit Wahlsiegen der islamistischen Parteien: der Nahda („Wiedererwachen“, „Renaissance“) um Rāšid al-Ġannūšī in Tunesien sowie der salafistischen Ḥizb an-Nūr (Partei des Lichts) und der Partei der Freiheit und Gleichheit als Abspaltung der Muslimbruderschaft in Ägypten.
Der Text verwendet für arabische Begriffe und Namen die Umschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, wenn es sich nicht um eingedeutsche Begriffe wie Scharia handelt oder um bekannte Personen wie Ben Ali/Mubarak. Bei Übernahmen aus der Literatur/Quellenangaben wird der dort verwendeten Schreibweise gefolgt.
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Notes
- 1.
Die türkische Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) wurde 2001 von Recep Tayyip Erdoǧan gegegründet. Laut eigener Programmatik ist sie eine konservativ/muslimisch-demokratische Partei, international steht sie jedoch unter dem Verdacht einer anti-laizistischen Ausrichtung und gilt seit ihrem ersten Wahlerfolg 2002 als verantwortlich für die umfassende Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Gegenwärtig stellt die AKP mit 326 Abgeordneten die stärkste Fraktion im türkischen Parlament, d.h die absolute Mehrheit (vgl. Milletvekilleri Daǧılımı o. J., http://www.tbmm.gov.tr). Für weiterführende Lektüren Mudhoon 2009 und Senkyr 2011.
- 2.
Bei dieser wie allen folgenden Übersetzungen aus Quellen, die im Literaturverzeichnis in arabischer Originalsprache aufgeführt sind, handelt es sich um eigene Übersetzungen der Autorin ins Deutsche.
- 3.
Siehe Abdelwaheb el-Affendy: The Long March Forward. In: The Inquiry (Oktober 1987), zit. nach Wöhler-Khalfallah (2004, S. 405).
- 4.
Das Wort šūrā bedeutet ursächlich nur Beratung. Sowohl der Koran (Sure 42, aš-šūrā, Vers 38 Sure 2, Vers 233 und Sure 3, Vers 159) als auch die Prophetenüberlieferungen fordern die Muslime dazu auf, ihre Angelegenheiten durch Beratung mit den Betroffen zu regeln und so Entscheidungen zu treffen. So lautet beispielsweise Sure 3, Vers 159: „Und in Anbetracht von Gottes Barmherzigkeit warst du mild zu ihnen. Wenn du grob und hartherzig gewesen wärest, wären sie dir davongelaufen. Verzeih ihnen nun und bitte (Gott) für sie um Vergebung, und ratschlage mit ihnen über die Angelegenheit! Und wenn du dich (erst einmal zu etwas) entschlossen hast, dann vertrau auf Gott, Gott liebt die, die (auf ihn) vertrauen.“ (Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Verlag W. Kohlhammer Stuttgart u. a. 1979). Heutzutage benutzen islamis(tis)che Gelehrte oder islamisch ausgerichtete Parteien den Begriff šūrā häufig als muslimisches Pendant zum europäischen Parlament und damit als Argument für die Demokratiefähigkeit des Islam (vgl. Ayalon 2003).
- 5.
Siehe Case information: Hamadi Jebali, Commitee on Human Rights (http://sites.nationalacademies.org/PGA/humanrights/PGA_051858) (18.11.2012).
- 6.
Zit. nach Nüsse 2012.
- 7.
Siehe hierfür das ebenfalls von Andrea Nüsse überlieferte Zitat Ğabālīs: „Ein solcher Rat könnte für die Moscheeverwaltung zuständig sein, aber ohne legislative Kompetenz und Kontrollfunktion“ (Nüsse 2012).
- 8.
Der französische Zeichentrickfilm „Persepolis“ aus dem Jahr 2007 basiert auf dem gleichnamigen Comic von Marjane Satrapi, die auch Regie führte. Er beinhaltet die Autobiografie von Satrapis Jugend im Iran zurzeit und nach der Islamischen Revolution. Während der Film in Europa durchgängig positiv rezipiert wurde und u. a. einen Spezialpreis bei den Filmfestspielen in Cannes erhielt, war er in der islamischen Welt von Anfang an umstritten. Der Iran hatte zunächst gegen eine Aufführung des Films wegen Verfälschung der Errungenschaften der Islamischen Revolution protestiert (Schnelle 2007), im Februar 2008 dann allerdings eine zensierte Version gezeigt (AFP 2008). Auch im Libanon wurde die Veröffentlichung des Films im März 2008 zunächst wegen Irankritik und Islamfeindlichkeit verboten und erst nach Zensur freigegeben (Der Spiegel 2008). In Tunesien führte die Ausstrahlung des Films im Fernsehen am 14.11.2011 zu heftigen Protesten der Islamisten, da mehrere Prediger ihn als blasphemisch bezeichnet hatten. Die Regierung distanzierte sich zwar von diesen Radikalen (Der Spiegel 2011), sah sich jedoch in der Folge mit umfassenden Demonstrationen zur Meinungsfreiheit konfrontiert (ORF 2011).
- 9.
Tunesien-Serie: Rolle rückwärts – das Erbe der Jasmin Revolution. In: http://www.tagesschau.de/ausland/tunesienserie106.html (18.11.2012).
- 10.
Dass bei der Ermordung von Bellaïd und Brahmi dieselbe Waffe verwendet wurde, deutet nach Einschätzung der tunesischen Behörden auf die Täterschaft ein und derselben radikalen Salafistengruppe hin (vgl. Allmeling 2013).
- 11.
Dieser war bereits von 27.02.–24.12.2011 tunesischer Premierminister.
- 12.
www.fjponline.com (18.11.2012).
- 13.
Wahhābiten ist die Bezeichnung für die Anhänger der Doktrin von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb (1703–1792), die in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Osten der arabischen Halbinsel, im Naǧd, entstand. Durch die Verbindung des religiösen Anführers mit dem Herrscher von ad-Dirʿiyya erhielt die Bewegung eine eigene Truppe, die muwaḥḥidūn, welche mit Waffengewalt die Annahme der Lehre durchsetzen sollte. Hieraus entwickelte sich eine Eroberungswelle, die sich beim Jahrhundertwechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert bis zu den heiligen Städten erstreckte und so den Einfluss des osmanischen Sultans bedrohte. Nach der Zerstörung dieses Staates 1818 durch den ägyptischen Vizekönig, gelang es 1925 erst ʿAbd al-ʿAzīz ibn Saʿud (1880–1953), dem Stammvater der aktuellen Herrscherfamilie, das ganze heutige Saudi Arabien für die Ideologie der Wahhābiyya zu erobern (vgl. Holes 2000, S. 39–47).
- 14.
Der Ausdruck taqlīd findet sich weder in Koran noch Sunna, er ist jedoch von hoher Bedeutung für die islamische Religionswissenschaft. Abgeleitet von dem qallada „imitieren, nachfolgen, gehorchen“, bedeutet der Ausdruck hier im negativen Sinne die blinde und gedankenlose Akzeptanz einer religiösen Autorität bzw. deren Lehrmeinung (vgl. Calder 2004).
- 15.
Iǧithād ist ein terminus technicus des Islamischen Rechts. Zunächst bezeichnete er den Gebrauch individueller Vernunft im Allgemeinen zur Herausarbeitung von Recht. Später wurde der Gebrauch auf die Nutzung von Vernunft durch Analogieschluss (qiyās) beschränkt und darf nur von speziell ausgebildeten Rechtsgelehrten, den muǧtahīd, ausgeübt werden. Nachdem diese Form der Rechtsprechung in der Frühzeit des Islam sehr erfolgreich war, vertraten die Gelehrten des 10. Jahrhunderts die Meinung, dass alle Rechtsfälle bereits vorgekommen sein und erklärten daher das „Tor des Iǧtihād“ als geschlossen. Folglich müsste jede aktuelle Entscheidung zum islamischen Recht basierend auf Entscheidungen aus dem 6. bis 10 Jahrhundert getroffen werden (vgl. Schacht 2004).
- 16.
Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī wurde 1838 in Asadabab (Iran) geboren. Nach Abschluss seiner Schulbildung reiste er mehrfach nach Indien und Ägypten, später auch nach Istanbul, wo er mit dem Gelehrtenrat zusammentraf. Während seines Ägyptenaufenthaltes bis 1879 nahm er großen Einfluss auf das religiöse und politische Leben in Ägypten, indem er als Freimaurer aktiv war und die lokale Presse förderte. Aufgrund seiner politischen Haltung aus dem Niltal verbannt, begab sich al-Afġānī nach Paris, wo er seine pan-islamischen Gedanken weiter verbreitete. Später wurde er zwischenzeitlich im Iran und erneut in Europa aktiv, bevor er in Istanbul sesshaft wurde, wo der Sultan versuchte, ihn als seinen Chefideologen einzusetzen und gleichzeitig seine Kontakte zu anderen Intellektuellen einzuschränken. Al-Afġānī starb 1897 in Istanbul (vgl. az-Ziriklī (1984), Bd. 2: 168 sowie ausführlich Keddie 1972).
- 17.
Muḥammad ʿAbduh wurde 1849 in der unterägyptischen Provinz Buḥayra geboren. 1862 begann er zunächst in Ṭanṭa Theologie zu studieren, wechselte jedoch 1865 an die Azhar. Dort kam er in Kontakt mit den Ideen von al-Afġānī, als dessen bedeutendster Schüler ergilt. Durch die politische Lage inspiriert, begann ʿAbduh 1876 mit journalistischen Aktivitäten und schloss gleichzeitig sein theologisches Studium ab; 1879 wurde er zum Lehrer am Dār al-ʿulūm ernannt. Ab 1880 war ʿAbduh Herausgeber der ägyptischen Staatszeitung, in der er die Gedanken der liberalen Gruppen vertrat. Als Folge der ʿUrābī-Revolte (1879–1881) wurde er zwischenzeitlich aus Ägypten verbannt und schloss sich al-Afġānī in Paris an. 1889 erhielt ʿAbduh die Erlaubnis zur Rückkehr nach Ägypten. Zehn Jahre später übernahm er den Posten des Staatsmuftī, das höchste religiöse Amt in Ägypten, welches er bis zu seinem Tod 1905 ausübte. Bekannt ist ʿAbduh vor allem durch drei Ideen: die islamische Reformpolitik, die Wiederbelebung der arabischen Sprache und seiner Forderung auf Anerkennung der Rechte des Volkes durch die Herrscher (vgl. Schacht 1991, S. 418 ff.).
- 18.
Eine ausführlichere Darstellung aller Richtungen findet sich bei Murtaza (2011, S. 28–33).
- 19.
Ibn Taimiyya (1263–1328) verbrachte den Großteil seines Lebens in Damaskus und war Anhänger der hanbalitischen Rechtsschule, ohne die anderen Rechtsschulen komplett abzulehnen. Sein Ziel war vielmehr die Integration und Harmonisierung von Tradition, Vernunft und freiem Willen in einer Doktrin des konservativen Reformismus. In diesem Sinne hält er auch den iǧtihād unter Beachtung bestimmter Regeln für zulässig, solange er sich an Sunna und Koran orientiert (vgl. Laoust 2003).
- 20.
Zit. nach Karin el Minawi 2011.
- 21.
Eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen Parteien mit ihren Kandidaten und Chancen bietet folgender Länderbericht der Konrad Adenauer Stiftung: Gemeinder, Sahra/Jacobs, Andreas/Trepesch, Elisabeth: Parteienmonitor Ägypten 2011, www.kas.de, 20.10.2011.
- 22.
Siehe die BBC News Middle East vom 14.06.2012 „Egypt Supreme Court Calls for Parliament to be Dissolved“ (http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-18439530) (19.02.2013).
- 23.
Siehe die Stellungnahme von Salem Saad vom 26.01.2013, zitiert nach: DW: In Ägypten entladen sich Enttäuschung und Wut (http://www.dw.de/in-%C3%A4gypten-entladen-sich-entt%C3%A4uschung-und-wut/a-16552886) (16.08.2013).
- 24.
Dass diese Hoffnung allerdings trügerisch sein könnte, mutmaßte schon damals die Schriftstellerin Mansura Eseddin in einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard (Essedin 2012).
- 25.
Siehe hierzu auch dem Beitrag von Schoeller-Schletter in diesem Band.
- 26.
Zu diesem Manko der ägyptischen Verfassung von 2012 siehe die Stellungnahme des gebürtigen Syrers und in Hannover tätigen Juristen Naseef Naeem vom 15.01.2013: Ägyptens neue islamische Verfassung: Ja, aber, in: http://www.zenithonline.de/deutsch/gesellschaft//artikel/ja-aber-003543/ (15.08.2013).
- 27.
Vgl. Wiener Zeitung: Fußballkatastrophe in Ägypten – Über 70 Tote bei Platzsturm im Stadion (http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/chronik/432350_Fussballkatastrophe-in-Aegypten.html) (16.08.2013).
- 28.
Ägyptisches Parlament entlastet Militärrat (http://www.sueddeutsche.de/politik/toedliche-fussball-randale-aegyptisches-parlament-entlastet-militaerrat-1.1282494) (17.08.2013).
- 29.
Ägyptischer Minister warnt vor „Staatskollaps“ (29.01.2013) (http://nachrichten.t-online.de/aegyptischer-minister-warnt-vor-staatskollaps-/id_61896730/index) (03.04.2013).
- 30.
Mursi verhängt Ausnahmezustand über drei Städte (http://www.sueddeutsche.de/politik/aegypten-mursi-verhaengt-ausnahmezustand-ueber-drei-staedte-1.1584761) (17.08.2013).
- 31.
Al-Barādaʿī (geb. 1942) ist Rechtsgelehrter und Diplomat, international erlangte er als Generalsekretär der Internationalen Atombehörde von 1997–2009 Bekanntheit und Anerkennung. Am 05.12.2012 übernahm er die Koordination der Nationalen Rettungsfront, grundsätzlich gilt Al-Barādaʿī bei den Ägyptern als umstrittene Person – unter anderem wegen seiner Tätigkeit auf internationaler Ebene. Vgl. Nobelpreisträger El-Baradei gründet neue Partei (http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-04/aegypten-neue-partei) (17.08.2013). Zur Biographie siehe http://www.iaea.org/About/dg/elbaradei/biography.html (17.08.2013).
- 32.
Hamdeen Ṣabāḥī (geb. 1954) blickt auf eine langjährige Erfahrung als Politiker zurück. Bereits unter Sadāt und Mubarak war er als Führer der Opposition aktiv und wurde insgesamt 17 Mal als politischer Dissident verhaftet. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 erreichte er mit 21,5 % der Stimmen den dritten Platz. Ṣabāḥī hat eine enge Bindung an die Arbeiterschicht und vertritt eine nasseristische Haltung, er war Gründungsmitglied der ersten gegen Mubarak ausgerichteten Bewegung Kefaya. Zur Einstellung von Ṣabāḥī siehe Mayton 2012.
- 33.
Amr Moussa (geb. 1936) ist erfahrener Politiker und Diplomat. Er diente unter Mubarak von 1991–2001 als ägyptischer Außenminister und übernahm anschließend vom 01.06.2001–01.06.2011 das Amt des Generalsekretärs der Arabischen Liga. Zu seiner Biographie siehe http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/1766776.stm (17.08.2013).
- 34.
Siehe Profile: Egypt’s National Salvation Front (http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-20667661) (17.08.2013).
- 35.
- 36.
Zu Sadat’s Leben und Wirken siehe u. a. Hinnebusch 1985.
- 37.
FAZ (2012): Militär ruftzu nationalem Dialog auf (www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/aegypten-militaer-ruft-zu-nationalem-dialog-auf-11990818.html) (17.08.2013).
- 38.
Zu einem politischen Porträt von Sisi siehe Mayer 2013.
- 39.
EU-Vertreter beraten bei Krisentreffen über Ägypten (19.08.2013) (http://www.t-online.de/nachrichten/id_65026024/eu-vertreter-beraten-bei-krisentreffen-ueber-aegypten.html) (19.08.2013).
- 40.
Im Hinblick auf die genannten Prozentzahlen ist zu berücksichtigen, dass in beiden Ländern lange Zeit nur „pro forma“ gewählt wurde und das Ergebnis – ein Sieg des amtierenden Präsidenten – im Voraus feststand, was zu einer verbreiteten Wahlmüdigkeit führte. 49 % Wahlbeteiligung mögen also auf den ersten Blick nicht wirklich viel erscheinen, sie zeigen jedoch, dass auch jahrelange politische Unterdrückung den Wunsch der Bevölkerung nach Äußerung ihrer politischen Meinung nicht gänzlich zum Erlöschen gebracht hat.
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Schüller, T. (2014). Der Erfolg der Islamisten bei den freien Wahlen in Nordafrika 2011 – Ein Pyrrhussieg der Demokratie?. In: Cavuldak, A., Hidalgo, O., Hildmann, P., Zapf, H. (eds) Demokratie und Islam. Politik und Religion. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19833-0_13
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