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Paul Austers New York Trilogy aus den Perspektiven Philosophischer und literarischer Anthropologie

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Mensch und Erzählung

Part of the book series: Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature ((SWSWL,volume 9))

Zusammenfassung

Das 4. Kapitel widmet sich der genaueren Analyse der New York Trilogy Paul Austers aus den Perspektiven Philosophischer und literarischer Anthropologie. Zum einen wird dabei angesichts einer Vielzahl jeweils gleichgerichteter Analysen, die vor allem in den Modi des Dekonstruktivismus operieren und daher immer wieder die Auflösung des literarischen Subjekts konstatieren, eine alternative Perspektivierung und Interpretation des Werks vorgeschlagen. Zum anderen werden hierbei verschiedene Aspekte untersucht, die die anthropologische und narrative Selbstbezugnahme beeinflussen und sowohl das Werk in seiner spezifischen Gestalt als auch das in und mit ihm erzeugte und vermittelte Menschenbild prägen. Die Interpretation der Romane und des Schreibens Austers bildet dabei das zentrale und vermittelnde Element zur anvisierten anthropologisch orientierten Erzähltheorie. Verweist Auster mit seinen Texten doch sowohl auf die Möglichkeiten und Grenzen als auch Verfahren und Funktionen des (Selbst-)Erzählens und bietet somit ein anschauliches Beispiel, das paradigmatisch auch für andere Kontexte des alltagsweltlichen Erzählens (insofern dieses u. a. in den Texten selbst anhand schreibender Protagonisten immer wieder gestaltet und reflektiert wird) wie auch literarischen Schreibens (insofern dieses u. a. in der Forschung als stellvertretend für weitere Werke moderner und postmoderner Literatur gilt) stehen kann.

Und da ich bei alledem wollte, daß als vergnüglich genommen werde,

was uns als einziges wirklich zittern macht,

nämlich der metaphysische Schauder, blieb mir nichts anderes übrig,

als unter den Handlungsmustern das metaphysischste und

philosophischste auszuwählen, nämlich den Kriminalroman.

Umberto Eco: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘

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Notes

  1. 1.

    So deuten beispielsweise Russell (2004) und Krämer (2008) aus der Perspektive der dekonstruktivistischen Methode Derridas, Shiloh (2002) aus der Perspektive Lacans, Longolius (2016) aus der Perspektive Barthes’ und Zilcosky (2004) aus der Perspektive Barthes’ und Foucaults. Sie operieren dabei allesamt mehr oder weniger implizit und explizit mit den schlagwortartigen Wendungen vom ‚Tod des Subjekts‘ und ‚Tod des Autors‘, die sie anhand der Figuren der New York Trilogy dargestellt und reflektiert sehen. So schreibt etwa Zilcosky (2004: 64 f.): „It is as though Auster’s 1986 detectives had not yet discovered the literary theory of 1968. They must learn all over again, step by step, that the author is a construct, a false endpoint of reading.“

  2. 2.

    Demzufolge führt die in und mit den Romanen inszenierte Dezentrierung des (literarischen) Subjekts nicht notwendigerweise zu seiner Auflösung oder seinem Tod, sondern liegt in der anthropologischen Konstitution der Figuren begründet. Aus einer subjektivitätstheoretischen Perspektive wird diese an Plessner anschließende Möglichkeit und der damit verbundene Gegensatz zur poststrukturalistischen Theoriebildung bereits von Kämpf (2001) angesprochen. In Bezug auf das Konzept der Exzentrizität schreibt diese: „Es bietet die Möglichkeit, der Formulierung einer neuen Subjektivitätstheorie, die die postmoderne Konzeption einer Fragmentarisierung des Subjekts ablösen kann: Der Begriff der Exzentrizität bietet ein Dezentrierungsmodell, das der postmodernen Fragmentarisierung überlegen ist, weil es die identitätslogische Bestimmbarkeit unterläuft: Die Uneinholbarkeit und Unbestimmbarkeit des Subjekts liegt in der Struktur der Selbstüberschreitung, die jeden Versuch der Bestimmung durchquert. Diese Exzentrizitätsstruktur ermöglicht zugleich gegen die Idee der Zersplitterung eine Einheit des Subjekts zu denken, die allerdings Widersprüche in sich aufnimmt“ (Kämpf 2001: 116). Daran anschließend lässt sich eine widerstreitende Bewegung von Dezentrierung und Rezentrierung mit narrativen Mitteln aufzeigen: Einerseits ermöglichen (literarische) Erzählungen die Selbstüberschreitung des Menschen, andererseits erzeugen und vermitteln sie Entwürfe von Ganzheiten, die der vermeintlichen Fragmentierung des Selbst entgegenwirken und zugleich auch Widersprüche in sich aufnehmen.

  3. 3.

    Dabei erweist sich im weiteren Verlauf des Romans das Auftauchen eines expliziten Ich-Erzählers jedoch auch als Überraschung für den Leser. Denn bis zum zwölften Kapitel befindet sich die Erzählfigur scheinbar außerhalb der Geschehnisse, von denen in vermeintlich auktorialer und unbeteiligter Weise berichtet wird. Dies geschieht souverän und spannungssteigernd, mit dem gelegentlichen Verweis auf etwaige Unsicherheiten. Dabei sucht der Erzähler durch die häufige Verwendung des Personalpronomens ‚we‘ (z. B. bereits in mehrfacher Wiederholung zu Beginn, NYT 3) auch eine gewisse Nähe zum Leser und macht diesen dadurch zu seinem Komplizen (Klepper 1996: 256). Erst kurz vor Schluss tritt ein Ich-Erzähler überhaupt in Erscheinung. Im dreizehnten und letzten Kapitel macht er ein paar wenige Aussagen zu seiner eigenen Person und zur Rahmenhandlung. Dieselbe Erzählkonstellation findet sich in Ghosts, wo ein Ich-Erzähler erst am Ende in Erscheinung tritt (NYT 195) und bis dahin durchweg auktorial und unbeteiligt berichtet.

  4. 4.

    So wird dem Leser bspw. von einem Traum Quinns berichtet, den er selbst wieder vergessen habe: „In a dream, which he later forgot, he found himself walking down Broadway, holding Auster’s son by the hand“ (NYT 126).

  5. 5.

    Denn es wird sich im Verlauf der Handlung zeigen, dass die jeweiligen Erzähler selbst als Detektive im Stile Quinns zu sehen sind und von den gleichen Ansichten und Irrtümern geleitet werden.

  6. 6.

    So verweist bspw. das Pseudonym, unter dem Quinn seine Detektivromane veröffentlicht, William Wilson, auf die gleichnamige Erzählung von Edgar Allan Poe, in der die Hauptfigur ihrem eigenen Doppelgänger begegnet. Der Interpretation Jakubziks (1999: 44) zufolge werde in dieser das Individuum als unversöhnlich in sich gespaltenes porträtiert. Darüber hinaus durchziehen unzählige weitere literarische Themen, Stoffe und Figuren die gesamte Trilogie. Am Beispiel des Don Quijote (NYT 97 ff.), der dieselben Initialen trägt wie Daniel Quinn, wird die Frage nach der Autorschaft eines literarischen Werkes (und im übertragenen Sinne: eines Lebens) diskutiert (vgl. dazu auch genauer Shiloh 2002: 52 und Klepper 1996: 263). Des Weiteren finden sich Verweise auf verschiedene Werke von Hawthorne, Thoreau, Emerson, Lewis Carroll und vielen mehr. Zum Einfluss der intertextuellen Schreibtechnik auf den Inhalt der Romane Austers siehe auch Schmitz-Emans (2007c: 152). Darüber hinaus treten einzelne Figuren kurzzeitig auch in mehreren Romanen auf und erzeugen somit Querverweise innerhalb der Trilogie. In The Locked Room bspw. kann der Privatdetektiv Quinn den Aufenthaltsort Fanshawes nicht ausfindig machen; und auch der Ich-Erzähler sieht sich mit einer Figur namens Peter Stillman konfrontiert, deren Verfolgung er schließlich ebenfalls aufnimmt.

  7. 7.

    So äußert Auster bspw. in einem Interview in Bezug auf The Invention of Solitude: „I wanted to break down for myself the boundary between living and writing as much as I could“ (AH 259).

  8. 8.

    So erscheint er in City of Glass selbst als Figur mitsamt seiner Frau Siri und seinem Sohn Daniel (der auch den gleichen Namen wie Quinn trägt, mit dem Auster wiederum einige Charakteristika teilt). Die Handlung von Ghosts beginnt am 3. Februar 1947, dem Geburtstag Paul Austers. In The Locked Room ist die Figur Fanshawe, wie auch Auster, Autor einer Gedichtsammlung mit dem Titel Ground Work; und ebenso trägt Fanshawes kranke Schwester den gleichen Namen wie Austers kranke Schwester: Ellen. Das Verhältnis von Text und Leben wird von Auster aber auch in der entgegengesetzten Richtung bespielt: Nicht nur baut er Elemente des eigenen Lebens in seine Texte ein, er überführt auch Elemente der Texte in die eigene Lebenswirklichkeit. So ist bspw. die Tochter Austers nach der Figur Sophie aus The Locked Room benannt.

  9. 9.

    Dies wird auch in der Forschungsliteratur hervorgehoben. So spricht etwa Klepper (1996: 271) von einer „explizit metafiktionalen Ästhetik“ Austers. Barone (1996: 5) bezeichnet die Texte Austers als Form einer „historiographic metafiction“, welche die Biografie des Autors, historische Figuren und Ereignisse sowie Referenzen zu anderen literarischen Werken umfasst und beständig die Frage nach der Repräsentation bzw. Konstruktion von Wirklichkeit reflektiert und damit auch Sprache problematisiert (vgl. ebd., 21 f.). Lavender (2004: 77) verortet Auster in einer „metafictional tradition“.

  10. 10.

    So deutet Chénetier (1996: 37 f.) den jeweiligen Beginn aller drei Romane als eine Art Erwachen des Selbstbewusstseins, zu dem dann der oder das Andere hinzutritt.

  11. 11.

    So finden sich auch abseits der New York Trilogy immer wieder Figuren, die die Rolle des Zufalls thematisieren. Im Roman In the Country of Last Things (1987) sagt die Protagonistin Anna Blume: „Our lives are no more than the sum of manifold contingencies, and no matter how diverse they might be in their details, they all share an essential randomness in their design: this than that, and because of that, this“ (Auster 1989a: 143 f.). In Moon Palace (1989) äußert der Protagonist Marco Stanley Fogg: „Our lives are determined by manifold contingencies […] and every day we struggle against these shocks and accidents in order to keep our balance“ (Auster 1989b: 80). Dabei zeigt sich schon, dass es Auster vor allem auch um die menschliche Erfahrung und den menschlichen Umgang mit der Zufälligkeit des eigenen Lebens geht (Martin 2008: 35).

  12. 12.

    Dieselbe Konstellation zeigt sich auch im ersten Abschnitt von Ghosts, in dem der Auftakt der Handlung als Negation des alltäglichen Zustands – des Wartens auf ein Geschehen – beschrieben wird: „Blue goes to his office every day and sits at his desk, waiting for something to happen. For a long time nothing does, and then a man named White walks through the door, and that is how it begins“ (NYT 135).

  13. 13.

    In diesem 1982 veröffentlichten Werk finden sich viele zentrale Motive, Figuren und Konstellationen der New York Trilogy bereits vorgeprägt. Auster selbst spricht den direkten Zusammenhang beider Werke in einem Interview an: „the Trilogy grows directly out of The Invention of Solitude“ (AH 260). Die zentrale Stellung von The Invention of Solitude wird in der Forschung unter anderem auch von Fredman (2004: 7) und Bruckner (1996: 27) hervorgehoben. Letzterer schreibt bspw.: „The Invention of Solitude is both the ars poetica and the seminal work of Paul Auster. To understand him, we must start here; all his books lead us back to this one“ (ebd.).

  14. 14.

    Vgl.: „As a writer of novels, I feel morally obligated to incorporate such events into my books, to write about the world as I experience it – not as someone else tells me it’s supposed to be. The unknown is rushing in on top of us at every moment. As I see it, my job is to keep myself open to these collisions, to watch out for all these mysterious going-ons in the world“ (AH 272 f.).

  15. 15.

    Wobei die Konzeptionen des Zufalls und der Kontingenz immer auch historischen und sozialen Veränderungen unterliegen und unterlagen. Denn der Begriff der Kontingenz ist „keine natürliche Tatsache, die allen Bestimmungen vorgängig wäre, sondern ein historisch und perspektivisch variables Reflexionsprodukt, das unauflöslich mit dem Selbstverständnis einer Gesellschaft korrespondiert“ (Makropoulos 1998: 23). Das gilt ebenso für den Begriff des Zufalls. Eine umfangreiche und detailliert argumentierende Ideen- und Begriffsgeschichte beider Konzepte findet sich bei Vogt (2011), der verdeutlicht, dass beide Begriffe zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder miteinander vermischt wurden (ebd., 185). Auf Basis der historischen Nachverfolgung der begrifflichen und ideellen Entwicklung beider Konzepte arbeitet Vogt dann auch eine prototypische Unterscheidung heraus, mit der er Kontingenz „im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Möglichen“ (ebd., 193) und Zufall „im Sinne eines wie auch immer zu bestimmenden nicht notwendigen Wirklichen“ (ebd.) fasst.

  16. 16.

    So schreibt Shiloh (2002: 51): „It seems to offer a critique of this type of fiction and to suggest that the universe projected by the Trilogy presents a more accurate vision of real life, which is governed by chance, than the artificial universe projected by traditional mystery novel“.

  17. 17.

    Nefs generelle These, dass die Kategorie des Zufalls im modernen Erzählen deshalb fragwürdig geworden sei, weil ein konstituierendes Ordnungsprinzip negiert bzw. abgeschafft worden sei (Nef 1970: 116), wird von Köhler (1993: 98) umgedreht: „Das Ordnungsprinzip als Maß für den Zufall ist nicht verschwunden, nur hat die Ordnung im Bewußtsein sich in Unordnung verkehrt, in die Absurdität, in welcher der Zufall herrscht und somit nicht mehr das Andere, sondern das Konstitutive ist.“

  18. 18.

    Aber auch über das Genre hinaus wird die Konstruktion und Inszenierung des Zufalls immer wieder dann genutzt, wenn es darum gehen soll, die „Grenze zwischen Kontingenz und Sinn, Diskontinuität und Kontinuität, Unerklärlichkeit und Erklärbarkeit eines Ereignisses oder einer Erscheinung“ (Lachmann 1998: 409) zu problematisieren.

  19. 19.

    Siehe dazu auch Häusler/Schneider (2016: 12 f.), die ausführen, dass die kulturelle Praxis des Erzählens zwar als Bewältigung des von einem Ereignis (sei es nun zufällig oder nicht) hervorgerufenen Störungspotenzials verstanden werden kann, zugleich aber durch die Ereignishaftigkeit des Erzählens selbst wiederum auch ordnungsstörend wirken kann. Dabei ist das Verhältnis von Ereignis und Erzählung ein doppeldeutiges: „Einerseits konstituieren Ereignisse Erzählung, andererseits werden Ereignisse durch Erzählung hervorgebracht“ (ebd., 1).

  20. 20.

    Vgl. auch die genauere Erläuterung von Scheffel (2004: 124): „‚Geschehen‘ versteht er dabei als eine zeitliche Folge von Zuständen, deren Minimalstruktur darin besteht, daß einem Gegenstand zu einem Zeitpunkt t-1 ein Prädikat A zukommt und zu einem Zeitpunkt t-2 ein konträres Prädikat B. Zur ‚Geschichte‘ wird eine solche Folge, wenn eine erklärende Verbindung sie in der Form ergänzt, daß die Zustände nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen. Die Herstellung eines Verursachungs-, d. h. Kausalzusammenhangs zwischen Ausgangspunkt t-1 und Endpunkt t-2 ist also die Voraussetzung dafür, daß eine Zustandsfolge zu einer narrativen Einheit mit Anfang, Mitte und Ende im Sinne einer ‚Geschichte‘ verknüpft werden kann.“

  21. 21.

    Als ebenso kontingent wird in Ghosts der genaue Ort der Handlung charakterisiert: „The address is unimportant. But let’s say Brooklyn Heights, for the sake of argument. Some quiet, rarely travelled street not far from the bridge – Orange Street perhaps. Walt Whitman handset the first edition of Leaves of Grass on this street in 1855, and it was here that Henry Ward Beecher railed against slavery from the pulpit of his red-brick church. So much for local colour“ (NYT 136 f.).

  22. 22.

    So wertet der Erzähler schließlich im dritten Teil der Trilogie auch seine eigene Biografie als belanglos für den Handlungsverlauf (NYT 300).

  23. 23.

    Aufgrund der im Roman gewählten Erzählperspektive erscheint diese Äußerung zu Beginn noch wie eine adäquate Darlegung der Gedanken Quinns. Es wird sich jedoch herausstellen, dass es sich hierbei, wie auch in Bezug auf die gesamte Wiedergabe des Handlungsverlaufs, lediglich um eine Interpretation des Erzählers handelt, die auf den niedergeschriebenen Interpretationen des Falls durch Quinn basiert.

  24. 24.

    Ausgehend von diesem Zitat deutet Alford (2004: 116), dass der Versuch, das Selbst und die Welt zu verstehen, ein fiktionales Konstrukt und daher grundsätzlich unwahr sei. Dem wird im Laufe der Arbeit entgegengehalten, dass sich die kommunikative Selbstbeziehung des Menschen zwar nicht ohne Fiktionalisierung denken lässt, diese jedoch den Kategorien von Wahrheit und Fiktion insofern entzogen ist, da beide jeweils konstitutive Elemente der anderen in sich tragen und dementsprechend ineinander übergehen.

  25. 25.

    Anthropologisch gesehen ist die Stellung und Funktion des Zufalls in und für die eigene Lebensgeschichte von gewisser Bedeutung, verweist sie doch auch auf ein bestimmtes Menschenbild. Dies zeigt sich beispielsweise an den Ausführungen Odo Marquards (1986: 131 f.): „Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle; ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl; und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Und erst recht sind wir Menschen stets mehr unsere Zufälle als unsere absolute Wahl und haben das zu akzeptieren; denn wir sind nicht absolut, sondern endlich.“

  26. 26.

    Gerade im Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte ist das Individuum bestrebt, Zusammenhänge und Übergänge hervorzuheben bzw. herzustellen. Die Rolle des Zufalls ist dabei eine doppeldeutige. Zum einen widersetzt er sich der Einordnung in einen Kausalzusammenhang und steht damit der Einheit der Handlung entgegen: „Retrospection, which establishes causal connections from a perspective outside or beyond the events themselves, stumbles over a chance event, which is neither result nor omen“ (Sorapure 1996: 74). Zum anderen, und das wird von Sorapure außer Acht gelassen, übernimmt das zufällige Ereignis damit aber zugleich auch eine eingliedernde Funktion: Es markiert die (bisher) unerklärbaren Brüche innerhalb einer Ereigniskette und trägt somit auch zur Einheit der Handlung bei. Der Zufall wird dadurch auch in eine epistemologische Ordnung überführt und integriert.

  27. 27.

    Dabei finden sich in den Romanen nicht zur rückblickende, sondern auch gegenwartsorientierte Deutungen des Zufalls. Diese haben zugleich auch einen antizipierenden Charakter und bestimmen den Fortgang der Handlung. So interpretiert Quinn die gescheiterten Versuche, Stillman Jrs. Frau per Telefonanruf zu erreichen, folgendermaßen: „The busy signal, he saw now, had not been arbitrary. It had been a sign, and it was telling him that he could not yet break his connection with the case, even if he wanted to“ (NYT 110 f.). In der Verkleidung des Schicksals wird dem Zufall hier die Entscheidungsgewalt über den weiteren Handlungsverlauf und damit auch über die eigene Lebensgeschichte übertragen. Kurz darauf werden Quinns Gedankengänge nachgezeichnet: „Was ‚fate‘ really the word he wanted to use? It seemed like such a ponderous and old-fashioned choice. And yet, as he probed more deeply into it, he discovered that was precisely what he meant to say. Or, if not precisely, it came closer than any other term he could think of. Fate in the sense of what was, of what happened to be“ (NYT 111). Dabei taucht das Konzept des Schicksals Alford (2004: 125 f.) zufolge in den Augen der Figuren in zwei Erscheinungsweisen auf. Zum einen sei es auf einer kosmologischen Ebene verortet und spiegele dort den generellen Status der Welt. Zum anderen bilde es einen Gegenbegriff zu Freiheit und beschreibe auf einer epistemologischen Ebene das Verhältnis des Selbst zu einem bestimmten Anderen, mit dem es (siehe z. B. die Figur Blue in Ghosts) schicksalhaft verbunden sei.

  28. 28.

    Zu New York als Schauplatz und Motiv, die das Gesamtwerk Austers durchziehen, vgl. auch Brown (2007: 1): „The city inhabits his essays, novels and films both as a backdrop against which plots unfold, and as an active agent in their outcomes“. Ebenso führt Dallmann (2009: 344) aus, dass die erzählte Welt Austers durchgängig urban sei und sich selbst in seinen road novels kein ruraler Gegenpol zur Großstadt finde. Wenngleich doch auch festzustellen ist, dass sich Imaginationen und Narrative ländlicher Szenerien – zu denken ist u. a. etwa an Quinns bei der Betrachtung eines Bildes im Bahnhof ausgelöste Erinnerungen an ein Dorf in Nantucket oder an das Lesen von Thoreaus Walden (siehe dazu weiter unten) – durch die Romane ziehen und gerade auch in den urbanen Räumen zu finden sind, wo sie spezifische Funktionen erfüllen.

  29. 29.

    Als Quelle zitiert Köster aus den Erläuterungen zum Lemma Raum im Grimmschen Wörterbuch. Laut der Online-Ausgabe (http://woerterbuchnetz.de/DWB/) lässt sich dort Folgendes finden: „wie unser verbum raumen und räumen (s. d.) im forstwesen ein mit gestrüpp bewachsenes land säubern und kulturfähig machen bedeutet, wozu wieder am nächsten das soldatische einen platz, einen lagerplatz räumen, ihn durch entfernung von stauden und stöcken zum lagern geschickt machen, tritt: so weist alles dieses auf raum als einen uralten ausdruck der ansiedler hin, der zunächst die handlung des rodens und frei machens einer wildnis für einen siedelplatz bezeichnete […], dann den so gewonnenen siedelplatz selbst“. Gleichwohl lässt sich dazu aber auch eine konträre Ansicht im Wörterbuch finden, welche zwischen Raum und Ort unterscheidet: „raum ist zunächst die gegebene stätte für eine ausbreitung oder ausdehnung. gegensatz dazu ort, der auf einem solchen raume erst entsteht“ (ebd.).

  30. 30.

    Dem will auch der sog. ‚spatial turn‘ gerecht werden, indem er den Begriff des Raums als kulturwissenschaftliche Analysekategorie zu etablieren versucht. Für einen Überblick über Wortgeschichte und Entstehungskontexte des Ansatzes siehe u. a. die Aufsätze von Döring/Thielmann (2008) und Köster (2007). Als Gewährsmann wird von beiden Foucault angeführt: „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte […]. Unsere Zeit ließe sich hingegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. […] Vielleicht könnte man sagen, einige der ideologischen Konflikte hinter den aktuellen Auseinandersetzungen werden zwischen den frommen Abkömmlingen der Zeit und den hartnäckigen Bewohnern des Raumes ausgetragen“ (Foucault 2004: 931). Ähnlich wie Foucault sieht es auch Edward W. Soja, der Wortschöpfer des ‚spatial turns‘ (Döring/Thielmann 2008: 33), welcher – auch ein wenig euphorisch – im selbstverfassten Klappentext seines Werkes Thirdspace (1996) formuliert: „Contemporary critical studies have recently experienced a significant spatial turn. In what may eventually be seen as one of the most important intellectual and political developments in the late twentieth century, scholars have begun to interpret space and the embracing spatiality of human life with the same critical insight and emphasis that has traditionally been given to time and history on the one hand, and social relations and society on the other.“

  31. 31.

    Wobei Bachmann-Medick aus historisierender Perspektive und unter Bezugnahmen auf Schlögel (2003: 25) auch relativierend hinzufügt, dass die Raumrevolutionen des 20. Jahrhunderts dies wieder außer Kraft gesetzt haben.

  32. 32.

    So führt etwa Zygmunt Bauman (1997: 150) unter Bezugnahme auf Benjamin aus: „Alle Fäden des modernen Lebens schienen im Zeitvertreib und in der Erfahrung des Spaziergängers zusammenzulaufen und verbunden zu sein“. Auf den Einfluss Benjamins weist u. a. auch Neumeyer (1999: 14) hin: „Ohne Zweifel kommt ihm das Verdienst zu, den Flaneur als zentrale Figur der Moderne entziffert zu haben.“

  33. 33.

    Angesichts der vielen verschiedenen und selbst bei Benjamin nicht in sich geschlossenen Konzeptionen des Flaneurs stellt Neumeyer (1999: 17) eine Minimaldefinition – eben „daß der Flaneur richtungs- und ziellos durch die Großstadt streift“ – auf und konzipiert den Flaneur damit als „offenes Paradigma“ (ebd.).

  34. 34.

    Benjamin (1991a: 539) schreibt mit Blick auf die Passage als Zwischenform von Straße und Interieur: „Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist. Ihm sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde; Mauern sind das Schreibpult, gegen das er seinen Notizblock stemmt; Zeitungskioske sind seine Bibliotheken und die Caféterrassen Erker, von denen aus er nach getaner Arbeit auf sein Hauswesen heruntersieht.“ Darüber hinaus weist Köhn, ebenfalls in Bezugnahme auf Benjamin, darauf hin, dass die Figur des Flaneurs nicht denkbar ist ohne die ungeheure Steigerung der kapitalistischen Warenproduktion und die Ausbildung der Pariser Passagen: „Unter sozial- und stadtgeschichtlichem Aspekt entwickelt sich der Flaneur zwischen 1830 und 1850 zu einer alltäglichen Gestalt des Pariser Lebens“ (Köhn 1989: 32).

  35. 35.

    So führt bspw. Dallmann (2009: 384) aus: „Gejagt von seiner Vergangenheit, findet Quinn nicht mehr im Innenraum seiner Wohnung, sondern im Außenraum, im öffentlichen Raum der Straße die Zuflucht, die ihm Geborgenheit bieten soll.“

  36. 36.

    Es sei nur darauf hingewiesen, dass dies nicht die einzige mögliche Konzeption des Spazierens darstellt. Als Gegenfolie eignet sich insbesondere die von Lucius Burckhardt erfundene Spaziergangswissenschaft. Für Burckhardt ist der Spaziergang eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der landschaftlichen Struktur – die sowohl in urbanen wie auch ruralen Zusammenhängen zu finden ist – und verweist in der Erzeugung des landschaftlichen Blicks sowie in der Erinnerung an landschaftliche Zusammenhänge zugleich auf die Syntheseleistung des menschlichen Geistes: „Der Spaziergang ist also eine Kette, eine Perlenschnur mit ausdrucksstärkeren und dann wieder ausdrucksschwächeren, immer aber wirksamen Passagen, die unserer Wahrnehmung synthetisiert. Ähnlich nun ist der Spaziergang in einer Stadt. Die Erinnerung ‚So ist Paris‘ beschreibt nicht den Eiffelturm, sondern besteht aus einer Synthese der durcheilten Boulevards, Plätze, Nebenstraßen und Parks“ (Burckhardt 2008: 330). Die Spaziergangswissenschaft fasst die (Stadt-)Landschaft als eine Narration, die in einer bestimmten Weise geordnet ist. Insbesondere auch die alte Stadt hat für Burckhardt (ebd., 107) eine logische Struktur, die anhand des Spaziergangs wahrgenommen wird.

  37. 37.

    Dementsprechend häufig findet in diesem Kontext das Motiv des Labyrinths auch in der modernen Literatur Verwendung, erscheint es doch einerseits als Sinnbild „modernespezifischer Erfahrungen“ (Schmitz-Emans 2013: 3) und dient daher auch andererseits als Strukturmodell literarischer Texte (ebd., 6). Von Umberto Eco (1986: 64) wird es bspw. als abstraktes Modell des Kriminalromans verstanden. Grundsätzlich lassen sich drei Labyrinthtypen unterscheiden: das klassisch-griechische Labyrinth, das auf alternativlosem Weg zu einem (überraschenden) Mittelpunkt führt; der barocke Irrgarten, der Abzweigungen und Sackgassen beinhaltet; und schließlich das rhizomatische Labyrinth, das undurchschaubar viele Verbindungen aufweist und weder ein Zentrum noch eine Peripherie hat (ebd., 64 f.). In Letzteres schließlich finden sich die Figuren Austers versetzt – und zwar sowohl auf narrativer Ebene (als Detektive) als auch auf räumlicher Ebene (als Flaneure). Dabei ist es gerade auch der Verlust von Zentralität, der den „Ursprungs- und Aufbruchsmoment des Flanierens“ (Rhein 2010: 15) bildet.

  38. 38.

    So schreibt bspw. Brown (2007: 36) in seiner Interpretation: „Because Quinn too wanders aimlessly in a city which reduces his human form to an irrelevance, he achieves a subjective sense of the city that enhances his feelings of anonymity. His New York is represented as an incomprehensible labyrinth where individual spaces are indistinguishable, which provides little in the way of coordinates for the individual to navigate by, and so produces an arena in which the individual easily becomes lost in the ‚nowhereness‘ of everywhere.“

  39. 39.

    Zur Verbindung von Flanerie und Rauschhaftigkeit siehe Voss (1988), der in der Folge auch von einem „dezentrierten Ich“ (ebd., 46) spricht.

  40. 40.

    Jakubzik (1999: 104) verweist in seiner Dissertation auf die von Henry David Thoreau in seinem Essay Walking beschriebenen optimalen Voraussetzungen für einen Spaziergang: „If you are ready to leave father and mother, and brother and sister, and wife and child and friends, and never see them again, – if you have paid your debts and made your will, and settled all your affairs, and are a free man, then you are ready for a walk“ (Thoreau 1937: 660, zit. nach ebd.). All diese Voraussetzungen treffen auf Quinn zu.

  41. 41.

    Dabei verwendet Auster das Motiv des Spazierens in Opposition zu seinen Ausführungen in The Invention of Solitude, wo es u. a. als Versinnbildlichung des Denkens fungiert. Denken wie auch Spazieren vollzieht sich dabei notwendigerweise in einzelnen Sequenzen (Alford 2004: 117): „if we try to make an image of this process in our minds, a network of paths begins to be drawn, as in the image of the human bloodstream (heart, arteries, veins, capillaries), or as in the image of a map (of city streets, for example, preferably a large city, or even of roads, as in the gas station maps of roads that stretch, bisect, and meander across a continent), so that what we are really doing when we walk through the city is thinking, and thinking in such a way that our thoughts compose a journey, and this journey is no more or less than the steps we have taken“ (IS 130). Auster nimmt hierbei auch ein Denkbild und eine Denktradition auf, die Stadt und Bewusstsein als gleichartige Systeme konzipiert (siehe dazu Stierle 1993: 13).

  42. 42.

    Damit korrespondiert der gegenwartsorientierte Blick Austers auf die Stadt auch mit dem historisch nachverfolgenden Blick Richard Sennetts; bescheinigt Letzterer aus einer auch raumplanerischen Perspektive der Metropole doch „eine chamäleonartige städtische Struktur“ (Sennett 1995: 445). Denn es ist vor allem die gitterartige Struktur der Stadt und das damit verbundene Fehlen von Zentren und Grenzen, das einerseits verschiedenartige und vielfältige soziale Kontaktpunkte bietet und andererseits gegenwärtigen sowie zukünftigen Stadtplanern auch keine festen Vorgaben gibt und dementsprechend ständige und schnelle Veränderungen ermöglicht (vgl. ebd.).

  43. 43.

    In der Explikation seiner Konzepte führt Augé relativierend an, dass es sich bei beiden Begriffen um idealtypische Konstruktionen handelt, die „niemals in reiner Gestalt“ (Augé 2012: 83) existieren und als einander „fliehende Pole“ (ebd.) zu verstehen sind.

  44. 44.

    Siehe: „Quinn remembered visiting Nantucket with his wife long ago, in her first month of pregnancy, when his son was no more than a tiny almond in her belly. He found it painful to think of that now, and he tries to suppress the pictures that were forming in his head“ (NYT 51).

  45. 45.

    Ansätze zur Übertragung von Begrifflichkeiten und Konzepten Philosophischer Anthropologie auf architektonische und stadtgeschichtliche Gegenstandsbereiche sowie deren systematische Verbindung und analytische Verwendung finden sich bei Fischer (2004, 2006b) und Delitz (2008, 2009, 2010). Dabei geht es unter anderem darum, sowohl die Architektur selbst wie auch die mit ihr verbundene gesellschaftliche Kommunikation aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie zu analysieren und zu fundieren (Fischer 2006b: 3418) – wofür insbesondere Plessners Theorieentwurf verwendet wird: „Helmuth Plessners Begriff für den Menschen – ‚exzentrische Positionalität‘ – ist wie kein anderer geeignet, die Relevanz des gebauten und umbauten Raumes für die menschliche Sozialkonstitution bereits vom Ansatz her in den Blick zu nehmen“ (ebd.). Zum darüber hinausgehenden Konzept der „Architektur der Gesellschaft“ aus der Perspektive verschiedener Disziplinen siehe ausführlicher Fischer/Delitz (2009).

  46. 46.

    Bollnow (1957: 95 ff.) leitet das Konzept der Behausung direkt aus der plessnerschen Anthropologie ab. Gemäß des Gesetzes des utopischen Standortes besitzt der Mensch, metaphorisch gesprochen, kein natürlich ihm zukommendes Heim, in dem er sich geborgen fühlen kann – er ist konstitutiv heimatlos und muss der chaotischen Welt eine geordnete und selbst gestaltete ‚kleine‘ Welt abgewinnen, an der er Halt gewinnen kann (ebd., 96). Als paradigmatisches Symbol des heimatlosen Menschen führt Bollnow den Landvermesser K. in Kafkas Schloss an (ebd., 95 f.). Dabei ist der Ansatz Bollnows jedoch auch getragen von der Ansicht, dass die verlorene Geborgenheit wiederhergestellt werden könne. Demgegenüber ist für Plessner keine endgültige Geborgenheit erlangbar; was jedoch zugleich auch den Ansporn und das Bedürfnis nach immer wieder neuer und adäquater Bauweise bzw. Architektur konstituiert: „der Mensch kommt in einem gewissen Sinne nie dahin, wohin er will – ob er eine Geste macht, ein Haus baut oder ein Buch schreibt“ (Stufen 337).

  47. 47.

    Der Sachverhalt der Identitätsstabilisierung wird auch von Gehlen mit dem Begriff des Außenhalts gefasst (Assmann 1992: 39).

  48. 48.

    Zum Haus als schützender Raum vor der ‚feindlichen‘ Außenwelt schreibt Bollnow (1957: 97): „So entsteht die Scheidung, die zwischen den zwei Bereichen, die für das menschliche Leben grundlegend ist: Da ‚draußen‘ bleibt Chaos, bleibt die bedrohliche ‚Welt‘, in die der Mensch immer wieder hinaus muss, um dort seine Aufgaben zu erfüllen, aber nachdem er sein Werk getan hat, kehrt er ermüdet zurück in den Schutz seines Hauses, um hier seine Ruhe und seinen Frieden zu finden und in diesem Bereich wieder zu sich selber zu kommen“. Auch Quinn sieht sich mit dieser chaotischen Außenwelt konfrontiert: „The world was outside of him, around him, before him, and the speed with which it kept changing made it impossible for him to dwell on any one thing for very long“ (NYT 4).

  49. 49.

    So verweist bspw. Eckardt (2014: 35) auf die Sinnhaftigkeit und damit auch Lesbarkeit der Stadt: „Entscheidend ist daher die Frage, in welcher Weise ‚Sinn‘ konstruiert wird bzw. welche Bedeutungen über eine Stadt bereits in dieser verankert sind und in welcher Form diese tradiert werden. Mit dem Fokus auf die Konstruktion von Sinn und Bedeutung wird deutlich, dass untrennbare Zusammenhänge zwischen der gebauten und erfahrenen, gelebten und durch Handeln konstruierten Stadt bestehen.“

  50. 50.

    Dabei ist das Verhältnis zwischen Raum bzw. Stadt und Text in verschiedenen Varianten erforschbar: Die Stadt kann als Text und im Text verständlich gemacht werden; ebenso wie der Text im Raum bzw. in der Stadt und schließlich auch – eine nicht allzu verbreitete Sonderform – als Raum erscheinen kann. Siehe zu diesen Perspektiven genauer Kap. 6, Abschn. 2.

  51. 51.

    So verweist auch Lindner (2004: 395 f.) auf die Stadt als ein narrativ strukturiertes Gebilde: „Städte ‚verkörpern‘ aufgrund historischer Sedimentbildungen bestimmte Ideen, bestimmte Anschauungen und Haltungen, bestimmte Normen und Werte […]. Städte sind keine unbeschriebenen Blätter, sondern ‚narrative Räume‘ (Sennett), in die bestimmte Geschichten (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen), Mythen (von Helden und Dämonen), Märchen (vom Schlaraffenland und vom guten Leben) und Parabeln (von Tugenden und Lastern) eingeschrieben sind“.

  52. 52.

    Döring/Thielmann stellen den ‚spatial turn‘ auch bewusst in Oppositionsstellung zur bis heute wirkungsmächtigen aristotelischen Konzeption des Raumes vermittels der Gefäßmetapher (vgl. Köster 2007: 279), der zufolge der Raum nur als „vorausgesetzte Umwelt des menschlichen Handelns zu verstehen“ sei (Döring/Thielmann 2008: 25).

  53. 53.

    Jakubzik sieht darin die Symbolisierung der „Parallele zwischen Sprache und Struktur der Stadt, zwischen Denken und Umgebung“ (Jakubzik 1999: 120). Zum Zusammenhang von Denken und Laufen in der Stadt siehe auch Alford (2004: 117). Fredman verweist in diesem Kontext auch auf das frühe Werk White Spaces, anhand dessen er „the investigation of the scene of writing“ (Fredman 2004: 13) als zentrales Projekt von Auster bestimmt. Dieser schreibt „I remain in the room in which I am writing this. I put one foot in front of the other. I put one word in front of the other, and for each step I take I add another word, as if for each word to be spoken there were another space to be crossed, a distance to be filled by my body as it moves through this space. It is a journey through space, even if I get nowhere, even if I end up in the same place I started. It is a journey through space, as if into many cities and out of them, as if across deserts, as if to the edge of some imaginary ocean, where each thought drowns in the relentless waves of the real“ (Auster 2001: 182). Fredman führt weiter aus, dass hier drei verschiedene Räume zum Zwecke der Verbildlichung des Schreibens zusammengebracht werden: „the room, the space in which writing is enacted; the interior space where writing happens in the writer; and the space on the page the words occupy“ (Fredman 2004: 14). Im Allgemeinen kommt Fredman zu der Interpretation, dass sich in Austers Roman eine Verschiebung des Lebensraumes vollzieht, und zwar vom realen Raum in den ‚Raum des Buches‘ (ebd., 8). Leben und Schreiben gehen damit Hand in Hand und werden untrennbar miteinander verwoben. So heißt es in der New York Trilogy: „The world of the book comes to life, seething with possibilities, with secrets, with contradictions“ (NYT 8).

  54. 54.

    Vorgeprägt ist diese anthropologische Ansicht Austers von Thoreaus Werk Walden (1854), auf das in der New York Trilogy in impliziter wie auch expliziter Weise immer wieder verwiesen wird und das vor allem für Ghosts einen zentralen Prätext bildet (vgl. auch weiter unten). So äußert Auster in einem Interview: „In Ghosts, the spirit of Walden is dominant“ (AH 263). Dabei finden sich insbesondere auch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen dem einsamen Leben Thoreaus am Walden Pond und Blues in der Metropole (siehe auch Sarmento 2017: 55), die Auster selbst hervorhebt: „The idea of living a solitary life, of living with a kind of monastic intensity – and all the dangers that entails. Walden Pond in the heart of the city“ (AH 263). Dabei nimmt die New York Trilogy jedoch nicht lediglich die Idee des Lebens abseits der Gesellschaft sowie die damit einhergehenden anthropologischen Implikationen und Motivationen, die zu diesem Leben führen, auf und verarbeitet diese. Bei Thoreau findet sich über dieses bekannte Motiv hinaus auch eine Reflexion auf die konstitutive Halbheit des Menschen, die seine Fernstellung und Distanz – gewissermaßen: seine Exzentrizität – im Verhältnis zu sich selbst erzeugt (und somit auch seinen utopischen Standort): „With thinking we may be beside ourselves in a sane sense. […] We are not wholly involved in Nature. I may be either the driftwood in the stream, or Indra in the sky looking down on it. […] I only know myself as a human entity; the scene, so to speak, of thoughts and affections; and am sensible of a certain doubleness by which I can stand as remote from myself as from another“ (Thoreau 1992: 266). Diese von Thoreau angesprochene anthropologische Konstellation – bei sich zu sein und zugleich neben sich zu stehen – nimmt Auster nicht nur im oben zitierten Satz auf, sondern spielt sie in verschiedenen Variationen innerhalb der Romane durch. Darüber hinaus findet sich bemerkenswerterweise, dies sei noch am Rande erwähnt, bei Thoreau auch eine Verbindung von Anthropologie und Architektur; fragt er doch (mit selbstkritischem Impetus) auch nach der Fundierung, die bestimmte architektonische Elemente in der menschlichen Natur finden: „It would be worth the while to built still more deliberately than I did, considering, for instance, what foundation a door, a window, a cellar, a garret, have in the nature of man“ (ebd., 183).

  55. 55.

    Auch wenn diese Ansätze vor dem Hintergrund verschiedenartiger Theorieentwürfe argumentieren, so lassen sich hier, zumal im Blick auf die Analyse literarischer Texte, doch gewisse Strukturähnlichkeiten feststellen. Dabei verweist auch Waldenfels (2009: 101) direkt auf den Theorieentwurf Plessners: „Der Selbstverdoppelung eines leiblichen Wesens, das zugleich sieht und gesehen wird oder berührt und berührt wird, entspricht eine räumliche Verdoppelung, die Helmut [sic] Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet. Ich bin zugleich hier – und anderswo, und eben dies macht die Seinsweise des Leibes aus.“

  56. 56.

    Waldenfels (2009: 97) spricht diesbezüglich auch von der „Doppelheit unseres Leibes, der als Leib eine Welt eröffnet und vermittelt, in der er zugleich als Körper vorkommt.“ Mit Merleau-Ponty lässt sich diesbezüglich auch auf die grundlegende Ambiguität des Leibes verweisen. Den Ursprung ihrer philosophischen Wirkung findet die Unterscheidung von Leib und Körper bei Husserl. Zur sprachlichen Differenzierung schreiben Alloa/Depraz (2012: 11 f.): „Leiblichkeit gibt es sozusagen nur in der ersten Person. Um diesen Sonderstatus auszudrücken, bedient sich Husserl der Möglichkeit, terminologisch zwischen dem lateinischen und dem deutschen Wort zu unterscheiden: Anders als der Körper (von lat. ‚corpus‘), der in allen seinen Dimensionen objektiv feststellbar ist […] verweist der Leib (vom mhd. lîp, das noch ununterschieden Leib und Leben bezeichnet) allgemein auf lebendige Erfahrung.“

  57. 57.

    Ein extremes Beispiel dieses Verhältnisses führt Auster in seinem Roman The Book of Illusions vor Augen. Dort wird eine der Hauptfiguren vollends von ihrem Muttermal in Besitz genommen wird: „The birthmark is who she is. Make it vanish and she vanishes along with it“ (Auster 2002: 121). Die körperliche Konstitution bzw. ein einzelnes körperliches Merkmal kann dem Einzelnen in seinem Selbstbezug dabei als dasjenige erscheinen, was ihn vollständig bestimmt.

  58. 58.

    Auch wenn in der hier zitierten Forschungsliteratur eher von ‚Körper‘ gesprochen wird, so soll vor dem theoretischen Hintergrund der vorliegenden Studie in diesem Zusammenhang doch eher von ‚Leib‘ gesprochen werden: Sind die thematisierten Inschriften doch kulturelle Abdrücke auf dem natürlich-künstlichen Zentrum der menschlichen Lebensform.

  59. 59.

    Auf die Relevanz der Aneignung imaginärer und literarischer Formen für das Verhältnis zum eigenen Leib bzw. Körper macht Lindemann (2011: 601) aufmerksam. Sie führt aus, dass aus leib- bzw. körpertheoretischer Perspektive zu beachten ist, dass auch verbildlichtes und narrativ vermitteltes Wissen über den menschlichen Leib bzw. Körper in einem Wechselverhältnis mit den eigenen Leib- und Körpererfahrungen steht und dadurch nicht zuletzt das eigene leibliche Empfinden und körperliche Verhalten beeinflusst. Ein Beispiel dafür bietet wieder Austers The Book of Illusions. Die bereits oben kurz angesprochene Figur erzählt davon, wie sehr sie sich in der Erzählung The Birthmark von Nathaniel Hawthorne wiederfinden konnte: „You have no idea what that story did to me. I kept reading it, kept thinking about it, and little by little I began to see myself as I was. Other people carried their humanity inside them, but I wore my on my face. That was the difference between me and everyone else. I wasn’t allowed to hide who I was. Every time people looked at me, they were looking right into my soul. I wasn’t a bad looking girl – I knew that – but I also knew that I always would be defined by that purple blotch on my face. There was no use in trying to get rid of it. It was the central fact of my life, and to wish it away would have been like asking to destroy myself“ (Auster 2002: 121). Die Erzählung beeinflusst dabei in mindestens zweifacher Weise die Beziehung der Figur zu ihrem eigenen Körperleib: Sie vermittelt sowohl Verhaltensmuster als auch Emotionen.

  60. 60.

    Siehe z. B. auch Stillman Srs. verschriftlichte Gänge durch New York, auf denen sich sein Leib quasi in die Stadt einschreibt, durch dieses Einschreiben für Quinn jedoch überhaupt erst zugänglich wird – und zwar unabhängig von der Frage, ob die Lesbarkeit bloß von Quinn imaginiert oder doch real vorhanden ist.

  61. 61.

    Schmitz-Emans (2007c: 221) deutet die mühsamen Bewegungen Stillman Jrs. als gestisches Pendant zu seiner sprachlichen Unbeholfenheit.

  62. 62.

    Ähnlich ergeht es dem Ich-Erzähler in The Locked Room, der zugleich auch sein Körpergefühl verliert: „I began to find it unreal that I should be sitting there in my own body. I’m melting“ (NYT 264).

  63. 63.

    Klepper zufolge hat Quinn bis dahin mehrere Metamorphosen durchlebt, welche jedoch nicht allzu sehr auf körperlicher Ebene zu verorten sind, nichtsdestotrotz aber auch körperlichen Ausdruck fanden: Er wurde vom Autor zum Helden, vom Helden zum Leser und vom Leser zum Opfer (Klepper 1996: 265). Dabei könnte man den „Helden“ Quinn durchaus auch in Anführungszeichen setzen, denn eine wesentliche Charakteristik des Helden ist die, dass er es vermag, gegen Widerstände anzukämpfen und (evtl.) gar als Sieger vom Feld zu gehen. Quinn hingegen konnte keinerlei Widerstände ausmachen, gegen die er hätte ankämpfen können.

  64. 64.

    Dabei erfasst er nun in praktischer Weise dasjenige am eigenen Leib, was ihm Stillman Sr. zuvor in theoretischer Weise ausgeführt hat: die Unbeständigkeit und Unfestgestelltheit des menschlichen Lebens. So äußert Stillman in einem der Gespräche gegenüber Quinn: „One minute we’re one thing, and then another another“ (NYT 84).

  65. 65.

    So wird bspw. für den Erzähler in The Locked Room Sichtbarkeit zur Chiffre für die Beständigkeit und Ganzheit der Person, die er sich selbst im Vergleich zu Fanshawe abspricht: „Fanshawe was visible, whereas the rest of us were creatures without shape, in the throes of constant tumult, floundering blindly from one moment to the next. I don’t mean to say that he grew up fast – he never seemed older than he was – but that he was already himself before he grew up“ (NYT 210).

  66. 66.

    Assmann (1999: 95) führt in diesem Kontext auch aus, dass „das neuzeitliche Subjekt“ wesentlich Beobachter sei.

  67. 67.

    Mit Bachmann-Medick ließen sich die damit verbundenen literarischen Reflexionsprozesse in der New York Trilogy – in Anlehnung an Geertz’ bekannte Wendung der „dichten Beschreibung“ – auch als Formen einer „dichten Beobachtung“ verstehen: „Dabei handelt es sich um eine durch Kontextualisierung aufgeladene Form von Beobachtung, die ihre eigene Vorprägung durch Medien, Bilder und Machtverhältnisse ebenso miterfaßt wie die Kontingenz und Vernetzung der unterschiedlichen Beobachtungshorizonte“ (Bachmann-Medick 2004: 312). Wobei die Romane Austers, wie sich noch zeigen wird, nicht nur die medialen Vorprägungen des Beobachtens thematisieren, sondern auch die wahrnehmungsleitenden philosophisch-lebensweltlichen Grundannahmen und Zuschreibungen, die sowohl das Vermögen als auch die Technik des Beobachtens bestimmen.

  68. 68.

    Literarisches Vorbild der Verfolgungen Stillman Srs. durch Quinn ist Poes Kurzgeschichte The Man of the Crowd (siehe Kap. 4, Abschn. 8).

  69. 69.

    Dass es sich bei Beobachteten und Beobachter hier nur um eine Person handle, wird von Jakubzik vermutet, der Hinweise darauf findet, dass der Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und Fanshawe am Ende des Romans in Wahrheit ein bloßer Monolog sei (Jakubzik 1999: 243). Dafür spricht auch, dass sich der Ich-Erzähler in gewisser Weise das Leben Fanshawes durch die Übernahme von dessen sozialer Identität angeeignet hat; lebt er doch in Fanshawes Haus mit dessen Frau und Kind. Auch die Mutter Fanshawes identifiziert ihn als ihren Sohn (NYT 289). Zilcosky zufolge handelt es sich um den Versuch der Nachahmung eines anderen Lebens; der Erzähler „even plagiarizes Fanshaw’s life: marrying his wife, adopting his son, sleeping with his mother“ (Zilcosky 2004: 69). Shiloh (2002: 86 f.) fasst daher beide Figuren auch als Doppelgänger. Diese Deutung findet sich gewissermaßen auch bei Seiler wieder, der noch einmal Bezug auf die ersten Sätze des Romans nimmt: „Fanshawe war deshalb ‚schon immer da‘, weil er der ‚inspirierte, geniale Teil des Erzählers‘ ist. In diesem Zusammenhang koppelt sich das Schriftstellerego vom Ich-Erzähler ab und führt ein schizophrenes Eigenleben, bis dieser es mittels eines kreativen Akts – der Niederschrift von The Locked Room – verschwinden lässt“ (Seiler 2016: 278).

  70. 70.

    Das Motiv des Spiegels wird genauer von Herzogenrath (1999: 64 ff.) untersucht, welcher ein regelrechtes Spiegelkabinett ausmacht, das sich durch die gesamte Trilogie zieht.

  71. 71.

    Dieser Sachverhalt eröffnet Interpretationsweisen, die von verschiedenen philosophischen Theorien ausgehen. Shiloh bspw. deutet vor dem Hintergrund der Theorien von Lacan und Sartre, welche sie u. a. zu folgendem Schluss führen: „subjectivity is not a pre-existing essence; it constitutes itself through action. And this action consists, chiefly, of personal engagement with the Other“ (Shiloh 2002: 42).

  72. 72.

    Viele Auster-Interpreten stellen fest, dass es in den Romanen nur so vor Doppelgängerfiguren wimmelt. Zum Motiv des Doppelgängers vgl. z. B. Chénetier (1996: 38), der diese Figur als ein literarisches Mittel deutet, mit dem Inneres nach außen gebracht werden soll; Klepper (1996: 257), laut dem sich im Doppelgänger Ich-Ideale realisieren; und Jakubzik (1999: 102), der durch die multiplen Spaltungen den „kafkaesken Untergang Quinns“ eingeleitet sieht. Grundsätzlich seien die Doppelgänger allesamt verkleidete Versionen von Erzählern und Protagonisten, die jedoch unkontrollierbar und unberechenbar werden (Klepper 1996: 251).

  73. 73.

    Vgl. dazu auch Barone (1996: 16), der von der Angewiesenheit des Menschen auf einen Beobachter spricht; weshalb es auch die Tragödie Quinns sei, dass er nicht über solch einen Beobachter verfügt. Die damit angesprochene Verwiesenheit von Beobachteten und Beobachtenden aufeinander zieht sich durch das gesamte Werk Austers. So wird im ersten Teil von The Invention of Solitude Austers Vater deshalb einsam, weil er in seiner Zurückgezogenheit nicht mehr von Anderen gesehen wird: „Solitary. But not in the sense of being alone. Not solitary in the way Thoreau was, for example, exiling himself in order to find out where he was […]. Solitary in the sense of retreat. In the sense of not having to see himself, of not having to see himself being seen by anyone else“ (IS 17). Ebenso wird in Leviathan die Geschichte einer Figur, Maria, erzählt (die auch einige Parallelen mit Ghosts aufweist): „She returned to New York, sold her van, and moved into the loft on Duane Street, a large empty room located on the floor above a wholesale egg-and-butter business. The first months were lonely and disorienting for her. She had no friends, no life to speak of, and the city seemed menacing and unfamiliar, as if she has never been there before. Without any conscious motives, she began following strangers around the streets, choosing someone at random when she left her house in the morning and allowing that choice to determine where she went for the rest of the day. It became a method of acquiring new thoughts, of filling up the emptiness that seemed to have engulfed her. Eventually, she began going out with her camera and taking pictures of the people she followed“ (Auster 1992: 69 f.). Diese Obsession entwickelt sich soweit, dass Maria, die mittlerweile zur Künstlerin geworden ist, einen Detektiv engagiert, der ihr selbst folgt und jeden ihrer Schritte festhält: „When he handed in his report at the end of the week and she studied the photographs of herself and read the exhaustive chronologies of her movements, she felt as if she has become a stranger, as if she had been turned into an imaginary being“ (ebd., 70). Das reale Vorbild zu dieser Geschichte fand Auster in der Künstlerin Sophie Calle und deren 1981 geschaffenem Werk The Detective (vgl. Longolius 2016: 173 ff.).

  74. 74.

    So schreibt auch Shiloh (2002: 47): „Quinn is characterized by an evergrowing invisibility. His agent has not seen him; his photographs have never figured on any of his books; his tail job requires self-effacement; and when he does show himself to Stillman, the latter does not recognize him from one meeting to the next.“ Martin (2008: 109) spricht auch von „Quinn’s metaphysical disappearance“, die sich in den Straßen New Yorks manifestiere.

  75. 75.

    Herzogenrath zufolge ist der Detektiv in seiner Existenz immer notwendigerweise auf den Kriminellen angewiesen: „By commiting a crime, the criminal ‚creates‘ the detective: the detective is made possible because the criminal exists“ (Herzogenrath 1999: 19). Stillman Sr. bildet damit das Zentrum der Existenz Quinns; indem dieses Zentrum aber verschwindet, verliert Quinn auch sein Zentrum (ebd., 67, Anm. 34).

  76. 76.

    Als reiner Beobachter vor dem Apartment der Stillmans ist Quinn vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen: „He had nothing to fall back on anymore but than himself“ (NYT 117). Da er sich nun keine Personen mehr entgegensetzen kann, beginnt er mit der Betrachtung und Untersuchung des bestirnten Himmels über ihm: „These all had to be investigated, measured, and deciphered“ (NYT 117). Erst mit der Beobachtung der Natur zeichne sich, so Klepper (1996: 265), für Quinn Einheit und Ganzheit der Welt ab.

  77. 77.

    Dadurch geht auch das Versprechen, das Quinn Virgina gab (nämlich: den Fall aufzuklären und alles in Ordnung zu bringen), als ein Mittel zur Herstellung von Beständigkeit ins Leere. Denn wo weder Versprechensinhalt (Stillman Sr.) noch Versprechensadressat (Virgina) vorhanden sind, da kann auch nicht versprochen werden. Zum Konzept des Versprechens als eine Möglichkeit, die Identität des Selbst durch die Zeit hindurch zu konstituieren, siehe auch Kap. 5, Abschn. 2.

  78. 78.

    Shiloh zufolge nehme The Invention of Solitude bereits viele der folgenden Werke Austers vorweg, da im dort enthaltenen Portrait seines Vaters (der erste Teil des Romans heißt Portrait of an Invisible Man) schon ein Großteil der Figuren vorgezeichnet seien: „They all are invisible men, fragmented, fluid, interchangeable, donning masks and personas and losing themselves in the progress. They are studies in absence, in the lack of identity, which was the principle characteristic of Auster’s father, as experienced by the son“ (Shiloh 2002: 40). Darauf aufbauend deutet Shiloh (ebd., 47) Quinn als eine Projektion von Austers Vater. Klepper (1996: 265) hingegen meint, dass es sich bei City of Glass weder um einen Schlüsselroman noch um eine Autobiografie handle.

  79. 79.

    Und von den Lesern der hier vorliegenden Studie (als einer weiteren Verschriftlichung der Verschriftlichung der Verschriftlichung des Quinnschen Lebens).

  80. 80.

    Eine solche motivische Verschränkung von Erinnerung und Bekleidung findet sich auch in Ghosts. Dort tauscht etwa Blue seine alte getragene Kleidung gegen die ihm neu zur Verfügung gestellte ein (NYT 137). Jakubzik (1999: 125) zufolge ließe sich der Zustand Quinns im gesamten Roman an dessen Kleidung ablesen.

  81. 81.

    In seiner Interpretation von The Invention of Solitude führt Fredman (2004: 18) mit Blick auf die Schreibweise Austers aus: „He portrays memory in architectural terms, comprised of rooms in which contiguous impressions are stored; in addition, A. explores the principles that determine such contiguity – chance, coincidence, free association.“

  82. 82.

    In diesem Sinne ließe sich dann auch das von Dallmann angesprochene ‚Traumhafte‘ der New Yorker Erinnerungslandschaft verstehen: „Die Protagonisten bewegen sich durch ein New York, das einer Traumlandschaft gleicht, in der Raum besonders deutlich den Status eines Erinnerungsortes annimmt, in dem das Individuum gefangen ist“ (Dallmann 2009: 390).

  83. 83.

    Hier zeigt sich in einer extremen Form, dass individuelle Erinnerung immer auch ein soziales Phänomen ist (vgl. Assmann 1992: 47 und 52). Stillman wird mit einer Erinnerungserzählung versorgt, kann diese jedoch nicht ins Verhältnis zu einer eigenen Erinnerung setzen. Derjenige, der Stillman ist, soll von einer fremden Erinnerung bestimmt werden.

  84. 84.

    Zu diesem Schluss kommt auch Shiloh in ihrer Interpretation von City of Glass: „The subject’s sense of a coherent self is dependent on his recollection of himself; without memory, the subject experiences his being as a series of truncated moments“ (Shiloh 2002: 48). Dementsprechend habe Stillman Jr. auch ein verzerrtes Konzept von Identität (ebd.).

  85. 85.

    Zwar bildet sich Stillman Jr. eine Vorstellung dessen, was er in Zukunft sein könnte (ein Feuerwehrmann, ein Arzt, ein Drahtseilläufer), doch ist ihm selbst schon bewusst, dass dies für ihn keinen Unterschied machen wird; und zwar nicht etwa, weil er dann (wie von ihm angegeben) genügend Geld besitzen würde, sondern weil er den Unterschied nicht wahrnehmen kann (NYT 19).

  86. 86.

    Dass diese nur von außen kommende Zuschreibung eines Namens als Identitätshalt nicht ausreicht und auf eine Selbstzuschreibung angewiesen ist, wird auch anhand der Figur Stillman Jr. vor Augen geführt. Äußert dieser doch wiederholt: „I am Peter Stillman. That is not my real name“ (NYT 22 u. ö.).

  87. 87.

    „In Auster’s work, the small things – baseball, a bit of money, food, one’s proper name, the car, one’s relations and lovers – stand against the constant eroding force of ontological slippage and going under“ (Baxter 2004: 4).

  88. 88.

    Das tun sie, indem sie entweder direkt auf einen anderen Text verweisen (William Wilson als Figur einer Kurzgeschichte Poes, Fanshawe als Figur des gleichnamigen und zunächst anonym publizierten Romans von Nathaniel Hawthorne) oder, indem sie sich analytisch entschlüsseln lassen (Jakubzik 1999: 302). So bietet z. B. der Name Stillman mehrere Möglichkeiten, etwa in Hinsicht auf die Sprachgestörtheit oder Menschlichkeit (‚still man‘) der Figur. Vgl. dazu auch Schmitz-Emans (2007c: 148): „Still-man: das ist auch der Noch-Mensch, der Mensch am Rande des menschlichen Daseins – ein Randphänomen im Katalog menschlicher Selbstbilder.“

  89. 89.

    So befindet sich bspw. der Ich-Erzähler im Roman The Locked Room in einer Bar und probiert solange verschiedene Namen für einen der Anwesenden aus, bis er den passenden gefunden hat, der aus seiner Sicht auch zugleich wesentliche Eigenschaften der Bezeichneten enthüllt (NYT 295 f.). Diese Eigenschaften ändern sich jedoch mit den unterschiedlichen Namen, die für den Namensgeber nicht arbiträr, sondern direkt mit der Welt verbunden sind – jedoch in solcher Weise, dass sich der oder das Bezeichnete nach dem Bezeichnenden richtet: „I was the sublime alchemist who could change the world at will. This man was Fanshawe because I said he was Fanshawe“ (NYT 296).

  90. 90.

    Vgl. dazu auch Austers Roman The Book of Illusions, in dem die Hauptfigur verschiedene Namenswechsel vollzieht, mit Hilfe derer sowohl Beständigkeit als auch Veränderung, Gleichheit als auch Einzigartigkeit der Person hergestellt wird: „Hector turned it [eine gefundene Mütze, M.W] over to make sure there was nothing inside it, that it wasn’t too dirty or too foul for him to put it on. That was when he saw the owner’s name written out in ink along the back of the interior leather band: Hermann Loesser. It stuck Hector as a good name, perhaps even an excellent name, and in any event a name no worse than any other. He was Herr Mann, was he not? If he took to call himself Hermann, he could change his identity without altogether renouncing who he was. That was the important thing: to get rid of himself for others, but to remember who he was for himself“ (Auster 2002: 144).

  91. 91.

    Unter Rollenmustern können ganz basal die mit der jeweiligen Rolle verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen und Handlungsanweisungen verstanden werden, die die Person, so sie eine Rolle übernimmt, zu erfüllen hat (aber in gewisser Weise auch verändern kann). Der Begriff der Rolle meint immer etwas Objektives. Sie, die Rolle, „steht mitsamt den von ihr ausgehenden und an sie geknüpften Erwartungen einer Leistung dem Individuum objektiv gegenüber“ (GS X 229).

  92. 92.

    Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit auch ein wenig: Die Problematik der Zeitlichkeit der Person tritt hier zugunsten der Frage nach dem Verhältnis zwischen Person und Mitwelt in den Hintergrund. Es geht also vermehrt auch um sozialwissenschaftlich orientierte Kontexte und Diskussionen. Dabei lässt sich im Blick auf die Frage nach der personalen Identität des Menschen zunächst einmal eine grundlegend paradoxe Beziehung feststellen, die Jan Assmann (1992: 130 f.) anhand von zwei sich widersprechenden Thesen erläutert: Zum einen erschafft sich das Individuum vermittels seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern einer Gruppe durch die Identifikation mit dem kollektiven Selbstbild dieser Gruppe sein personales Selbstbild – die Wir-Identität des Kollektivs hätte in diesem Fall Vorrang vor der Ich-Identität des Einzelnen. Demzufolge wäre Identität zunächst einmal ein soziales Phänomen. Zum anderen jedoch kann ein kollektives Selbstbild und damit eine Wir-Identität nicht außerhalb der jeweiligen Individuen existieren, die dieses ‚Wir‘ konstituieren, tragen und vermitteln – die Ich-Identität des Einzelnen hätte in diesem Fall Vorrang vor der Wir-Identität des Kollektivs. Demzufolge wäre Identität zunächst einmal ein Phänomen des individuellen Wissens und Bewusstseins.

  93. 93.

    Eine ähnliche Struktur mitsamt ähnlichen Inhalten zeigt sich auch im Konzept Assmanns (1992: 131 ff.), der jedoch seine Begrifflichkeiten etwas anders gewichtet und füllt.

  94. 94.

    So ist der Nutzen, den Schriftsteller in den Augen von Quinns Vermieter haben, nicht vorhanden – ganz im Gegensatz zu den Kosten, die sie verursachen. Auch bekommt Quinn von der Figur, die sein Apartment in seiner Abwesenheit übernimmt, mitgeteilt: „The landlord told me he was glad to get rid of you anyway. He doesn’t like tenants who don’t have jobs. They use too much heat and run down the fixtures“ (NYT 125). Der Künstler als eine soziale Randfigur wird auch in Austers Essays immer wieder thematisiert (Springer 2002: 2).

  95. 95.

    Durch ihre leibliche Existenz kann eine Person Goffman (1994: 81) zufolge zwar nur eine biografische, dagegen jedoch eine Vielzahl sozialer Identitäten haben. Von Bedeutung ist hier auch die persönliche Biografie – im Sinne des noch ungeschriebenen Lebens – als Konstituente und Beweis für die Einzigartigkeit des Individuums: „Ob die biographische Lebenslinie eines Individuums in den Köpfen seiner engen Freunde oder in den Personalakten einer Organisation aufbewahrt wird und ob es die Dokumentation seiner persönlichen Identität mit sich herumträgt oder ob sie in Aktendeckeln aufbewahrt wird, das Individuum ist eine Ganzheit, über die eine Akte hergestellt werden kann – eine Weste, die es beflecken kann, steht bereit“ (Goffman 1994: 80f.). Straub (2004: 283, Anm. 28) zufolge sei der Aspekt der Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit personaler Identität in der Forschung und Theorie vernachlässigt.

  96. 96.

    Der Begriff der Ich-Identität beschreibt schließlich in Goffmans Konzeption das subjektive Gefühl und Reflexionen des Individuums bezüglich seiner selbst als sozialer und persönlicher Identität: „Beide Identitätstypen können besser verstanden werden, wenn man sie gleichstellt und mit dem kontrastiert, was Erikson und andere ‚empfundene‘ oder Ich-Identität genannt haben, nämlich das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt“ (Goffman 1994: 132).

  97. 97.

    Sicher ist diese v. a. durch die Synchronisation von personaler und kollektiver Identität (vgl. Keupp u. a. 2006: 29). Dies geschieht durch das Ineinanderüberführen und Aneinanderangleichen von sozialer und persönlicher Identität der Person. Damit wird nicht nur die Beständigkeit und Individualität der Person gewahrt, sondern zugleich auch ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Kollektiv etabliert.

  98. 98.

    In ihrer Kritik an diesem Identitätskonzept heben Keupp u. a. Begriffe wie Fragmentierung, Bruch, Kontingenz, Diskontinuität und Zerstreuung etc. als Beschreibung der modernen Lebenssituation hervor (Keupp u. a. 2006: 30) und führen zehn „Umbruchserfahrungen“ des Subjekts in der Spätmoderne – u. a. das Brüchig-Werden von Erwerbsarbeit als Basis von Identität und die zunehmenden Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft (vgl. ebd., 46–53) – an, um die Unangemessenheit des Konzeptes vor dem Hintergrund der empirischen Gegebenheiten herauszustellen. Das Konzept Eriksons sei aus der Vorstellung von gesellschaftlicher Kontinuität und Berechenbarkeit entstanden und auch nur vor deren Hintergrund denkbar (ebd., 30). Ob die angeführten Begriffe (der Fragmentierung etc.) angemessenen sind, um die moderne Lebenswirklichkeit per se beschreiben zu können, sei hier dahingestellt. Vor dem Hintergrund der plessnerschen Theorie muss allerdings festgestellt werden, dass dem Menschen aufgrund seiner exzentrischen Positionalitätsform die Welt wie auch er selbst nie ganz zugänglich sein kann und ihm immer entgleiten muss. Daher treffen die genannten Begriffe auch zu. Da der Mensch mit künstlichen Mitteln diese Situation auszugleichen versucht – und dieser Ausgleich durchaus (jedoch nicht endgültig) gelingen kann –, so treffen auch ihre Gegenbegriffe zu.

  99. 99.

    Darüber hinaus stellt auch die biologisch orientierte literarische Anthropologie die Frage nach der Funktion des Rollenspiels u. a. als Modus der Organisation von Erfahrungen auf Basis allgemein anthropologischer und/oder biologischer Ausstattungen und Dispositionen (Zymner 2004: 18).

  100. 100.

    Iser (1990: 15 f.) schreibt: „Es gilt, in der Maske die Person zu inszenieren, um zu erreichen, was noch nicht ist. Deshalb wird die Person in der Maske auch nicht hinter sich gelassen, sondern hat sich als etwas, das sie als Person nicht sein kann. Im Gegensatz zum Traum, in dem der Schlafende der gefangene seiner Bilder ist, fächert sich hier durch die Bilder der Maske die Person in ihre Möglichkeiten aus.“ Dabei argumentiert Iser am Beispiel des Schäferromans in gleicher Weise wie schon Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft (1924), und zwar mit der dialektisch ausgearbeiteten Denkfigur des gleichzeitigen Verhüllens und Entbergens des Menschen im Medium des sozialen Masken- bzw. Rollenspiels – um letztlich zu der Schlussfolgerung zu kommen: „Diese von den Protagonisten vorgeführte duale Einheit von Verhüllen und Entschleiern erwiese sich dann als eine Verbildlichung des Fingierens, das es erlaubt, Verdecktes durch Täuschung offenbar zu machen“ (Iser 1990: 15, vgl. auch Iser 1991: 136 ff.). Das Fingieren wiederum enthüllt für Iser, wie bereits angesprochen (siehe Kap. 2, Abschn. 3), die anthropologische Doppelgängerstruktur – auf die er auch mit einem längeren Plessner-Zitat aus Soziale Rolle und menschliche Natur verweist (Iser 1990: 18). Damit ermöglicht die Funktion des verhüllenden Entschleierns auch Einblicke in die Struktur des menschlichen Selbstverhältnisses.

  101. 101.

    Dabei zeigt sich Plessner auch erstaunt und verwundert, dass die schauspielerische Leistung des Menschen noch nicht im Rahmen einer umfassenden Anthropologie thematisiert wurde. Er schreibt: „Wenn sich die anthropologische Analyse an die Auslegung hält, welche der Mensch von sich selbst gibt, indem er von sich und anderen und von der Welt spricht, handelt, urteilt, bildet; zu sich, zur Gesellschaft, zu Natur und Gott ein Verhältnis findet; warum soll sie dann, ja wie darf sie dann an einem Verhalten vorübergehen, das menschliches Sein selber gestaltet?“ (GS VII 404).

  102. 102.

    So verweisen auch einige Deutungen ganz explizit auf das Problem der Nachahmung: „The Locked Room is about the dangers of imitation“ (Peacock 2010: 76). „Thus the central form of quest in The Locked Room is usurpation: usurpation of the Other’s self and existence. The narrator does not wish to find Fanshawe: he wants to become Fanshaw“ (Shiloh 2002: 83).

  103. 103.

    Beide Begriffe verweisen auf Konzepte der kognitiven Semantik, die zu klären sucht, wie Weltwissen mental organisiert ist. Frame und script werden Quinn sowohl vom klassischen als auch vom hard-boiled Detektivroman (siehe Kap. 4, Abschn. 8) vorgegeben.

  104. 104.

    Dabei verwendet Plessner im Kontext seiner Anthropologie des Schauspielers auch, und dies ermöglicht eine weitere systematische Verschränkung mit Ricœur, explizit den Begriff der Konfiguration. Denn indem der Schauspieler sich selbst als etwas oder jemand Anderes „figuriert“ (GS VII 413) und damit auf die anthropologisch konstitutiven (und somit auch naturgegebenen) körperleiblichen Darstellungsmöglichkeiten verweist, enthüllt er zugleich auch „in besonderer Hinsicht die menschliche Konfiguration“ (ebd., 410).

  105. 105.

    Hier zeigt sich eine Denkfigur, die längst Eingang in unser Alltagsdenken gefunden hat: Um das Eigene und Alltägliche vermeintlich adäquat wahrnehmen zu können, muss man erst aus diesem heraustreten in das Fremde und Unalltägliche. Wittgenstein führt dazu aus: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heisst: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf“ (Wittgenstein PU § 29).

  106. 106.

    In seinen Ausführungen zur Rollentheorie unterscheidet Plessner zwischen drei verschiedenen, aber aufeinander verwiesenen Aspekten des Rollenbegriffs. Er hebt dabei einen elementaren, einen funktionalen und einen anthropologischen Rollenbegriff voneinander ab. Den an Dahrendorfs Theorie des homo sociologicus orientierten funktionalen Rollenbegriff gilt es Plessner zufolge insofern zu kritisieren, als er den Menschen nur als Träger einer gesellschaftlichen Rollenfigur verstehe, hinter der die Individualität des Einzelnen zu verschwinden drohe (vgl. GS X 233). Demgegenüber bietet der anthropologische Rollenbegriff durch das mit ihm gegebene ‚Doppelgängertum‘ des Menschen eine Erweiterung, die ihm sowohl eine soziale als auch eine private Existenzweise sichert.

  107. 107.

    Es zeigt sich hierbei nicht mehr dasjenige, was Iser im Rahmen seiner literarischen Anthropologie herausarbeitet: „es gilt, die Person durch die Maske hindurchscheinen zu lassen“ (Iser 1990: 13).

  108. 108.

    Schmitz-Emans (2007c: 153) bspw. interpretiert City of Glass als einen Montageroman, der aus verschiedenen Sprachkonzepten zusammengesetzt ist.

  109. 109.

    Wodurch Stillman Sr. in gewisser Weise auch Descartes Grundannahme der unmittelbaren Selbstgewissheit des Ichs vertritt.

  110. 110.

    Diese Mehrdeutigkeit von Sprache wird im Roman nicht nur thematisiert, sondern auch formal dargestellt: „Immer wieder bestätigt sich in der Romanwelt die Beliebigkeit von Wortetiketten: Ein und derselbe Gegenstand hat mehrere Namen, ein und derselbe Name gehört zu verschiedenen Dingen. Nichts wird aus den Namen der Dinge erkennbar. Diese enthüllen keine Wahrheit, provozieren ständige Ambiguitäten und Missverständnisse“ (Schmitz-Emans 2007c: 153, Anm. 362).

  111. 111.

    Da Quinn ebenso zersplittert erscheint, wie die Objekte, die Stillman Sr. auf seinen Spaziergängen sammelt, lässt sich wohl auch sagen, dass Quinn selbst als eines der von Stillman gefundenen Objekte angesehen werden kann. Quinns Verlust seiner sozialen Identität geht einher mit dem Verlust seiner Funktion. Wie auch die zerbrochenen Dinge auf der Straße, so verschwindet auch Quinn unbemerkt vor den Augen seiner Mitwelt und hört damit für diese auf, als Person zu existieren. Aus dieser Perspektive lässt sich der Roman durchaus auch auf eine sozialkritische Weise lesen: Die Bestimmung des Menschen auf der Basis seiner Funktion innerhalb der Gesellschaft macht ihn in den Augen seiner Mitmenschen selbst zu einem Ding, dem Menschlichkeit nicht mehr zuerkannt wird.

  112. 112.

    Dadurch, dass Stillman es ist, der den Dingen ihren Namen gibt, und dass demzufolge die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat auch nicht anders als arbiträr und konventionell sein kann, ist das Unternehmen aus rein logischen Gründen zum Scheitern verurteilt: „Was bleibt, ist die Nostalgie, bzw. das Begehren, eine Sprache zu finden, die Bezeichnendes und Bezeichnetes, Quinn und Auster, Konstruktion und Welt, Symbolisierung und Wunsch zueinander finden lassen. Der Roman bezeugt stattdessen die Unmöglichkeit dieses Traums, wie auch gleichzeitig den Zwang, den Versuch immer wieder zu wiederholen“ (Klepper 1996: 266 f.).

  113. 113.

    Wobei Humpty Dumpty als Vertreter des Nominalismus gesehen und als Ausdruck der sprachtheoretischen Ansichten Carrolls verstanden werden kann; denn in seinem Fachartikel The Stage and the Spirit of Reference schreibt dieser: „no word has a meaning inseparably attached to it; a word means what the speaker intends by it, and what the hearer understands by it, and that is all.“ (zit. nach Carroll 1999: 213, Anm. 10). Demgegenüber vertritt Stillman Sr. einen sprachtheoretischen Realismus, der jedoch paradoxerweise darauf beruht, dass er es ist, der die universellen Begriffe (quasi nominalistisch) setzt. Das alltägliche Sprachverständnis der Protagonisten Quinn und Blue schließlich kann ebenfalls als realistisches gekennzeichnet werden, das in fortlaufender Handlung zunehmend erschüttert bzw. fraglich wird.

  114. 114.

    Stillman Jr. sieht sich dabei selbst als Poet, der etwas nur aus sich selbst heraus schafft – wofür er später auch einmal große Anerkennung bekommen werde (NYT 19). Da in Stillmans Sprache der soziale Faktor jedoch vollkommen ausgeschaltet ist (und es sich daher genau genommen auch gar nicht um eine Sprache handeln kann), so müsste ihm diese Anerkennung logischerweise auch verwehrt bleiben.

  115. 115.

    Wie Eco ist auch der Erzähler der Meinung, dass sprachlich bereits massenhaft Reproduziertes nicht grundsätzlich den Ausdruck einer eigenen Empfindung behindert, wenn die vermeintliche Naivität, mit der das bereits Gesagte nun wiederholt wird, durchbrochen wird. Eco (1986: 78 f.) schreibt dazu: „Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe dich inniglich‘, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ‚Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.‘ In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe.“

  116. 116.

    So interpretiert bspw. Russel (2004: 98) Quinn als „a pilgrim searching for correspondences between signifiers and signifieds.“

  117. 117.

    Vgl. dazu auch Fredman (2004), der der von Auster in diesem Zusammenhang auch verwendeten Metapher von Sprache als „infinitely complex organism“ (Auster 1988: 172) nachgeht und dabei zu der Interpretation kommt, dass Sprache hierbei „not just a mode of existence in the world but a replacement for life in the body“ (Fredman 2004: 25) sei.

  118. 118.

    Vgl. z. B. Lethens Interpretation Plessners: „Erst in den Distanz-Medien der symbolischen Ausdrucksformen, erst in den gesellschaftlichen Ritualen des Austauschs findet der Mensch zu sich selbst“ (Lethen 2008: 27).

  119. 119.

    Vgl. z. B. Hildebrandt in Bezug auf Plessner (Stufen 239): „In using language, which allows a person to address, what is not here and what is not now, human beings have developed the capacity to decentralize their position in space and time, thereby ‚liberating‘ themselves from the here and now that holds together the animal self“ (Hildebrandt 2014: 414).

  120. 120.

    Dies lässt sich einerseits aus der Perspektive des Lesers thematisieren. In den Augen von Schmitz-Emans etwa ist der Protagonist Quinn nichts anderes als „eine Kunstfigur aus Zitaten und […] geborgten Namen, die Kunstfiguren erschuf und ihnen zitathafte Namen gab“ (Schmitz-Emans 2007c: 221). Die literarischen Figuren Austers erscheinen dabei in ihrer sprachlichen Konstruiertheit immer auch als sprachliche Konstrukte, die in ihrer intertextuellen Anlage auf literarische Vorgänger verweisen. Andererseits wird aber auch innerhalb der Texte von den jeweiligen Figuren auf ihre möglicherweise existenzielle Abhängigkeit von Sprache und Wörtern reflektiert. So findet sich bspw. im Roman Timbuktu folgende Reflexion aus der Perspektive der Figur wiedergegeben: „Willy had written the last sentence he would ever write, and there were no more than a few ticks left in the clock. The words in the locker were all he had to show for himself. If the words vanished, it would be as if he had never lived“ (Auster 1999: 10).

  121. 121.

    Auch hierbei nimmt Auster wieder eine autobiografische Beobachtung aus The Invention of Solitude auf. Schreibt er doch in Erinnerung an seine Kindheit: „Playing with words in the way A. did as a schoolboy, then, was not so much a search for the truth as a search for the world as it appears in language“ (IS 172 f.). Diese Erinnerungen führen schließlich auch zu sprachtheoretischen Überlegungen; geben solche ‚Sprachspiele‘ nach Auster doch Aufschluss über die Funktion des menschlichen Geistes: „Playing with words is merely to examine the ways the mind functions, to mirror a particle of the world as the mind perceives it“ (IS 173).

  122. 122.

    Der auch als Selbstkommentar Austers gelesen werden kann (Shiloh 2002: 52).

  123. 123.

    Klepper (1996: 256) zufolge wird Work von Quinn auch deshalb favorisiert, weil er seine Bindung zur Welt und zu den Anderen noch nicht verloren hat.

  124. 124.

    Wodurch sich im Selbstverhältnis Quinns in gewisser Weise auch Isers Trias von Realem, Imaginären und Fiktiven ins Verhältnis gesetzt findet.

  125. 125.

    Eine typische Szene ist bspw.: „Then he thought about what Max Work might have been thinking, had he been there. He decided to light a cigarette“ (NYT 14).

  126. 126.

    Martin (2008: 106) liest dieses Zitat als Symptom und Beleg für Quinns „dislocation“; demgegenüber ist jedoch festzustellen, dass sich diese Aussage im Kontext einer umfassenderen Wahrheitstheorie befindet, die wiederum in Relation zu Austers Sprachtheorie und Ontologie steht. Vorgeprägt ist das Zitat durch die von Auster vertretenen Sprachtheorie. In The Invention of Solitude wendet er sich gegen semantische Theorien, die die Bedeutung eines Wortes durch dessen Verhältnis zu seinen Referenten bestimmen. Demgegenüber verfolgt er einen strukturalistischen Ansatz, für den gewissermaßen auch die Wortfeldtheorie Jost Triers (1931) Pate gestanden haben könnte: „For each word is defined by other words, which means that to enter any part of language is to enter the whole of it“ (IS 172). Allerdings nimmt Auster dabei eine entscheidende Parallelität wahr, die ihn Sprachtheorie mit Ontologie verbinden lässt – und die schließlich Quinn in die Irre führen wird. Diese Parallelität besteht in der Übertragung des strukturalistischen Modells auf die Erscheinungen der Wirklichkeit: „In the same way, the world is not just the sum of the things they are in it. It is the infinitely complex network of connections among them. As in the meaning of words, things take on meaning only in relationship to another“ (ebd.). Dabei ist, und dies ist besonders zu beachten, nicht notwendigerweise gesagt, dass die Strukturen der Sprache mit den Strukturen der Wirklichkeit korrespondieren (wie es von Quinn angenommen wird), sondern lediglich, dass die Erscheinungen der Wirklichkeit nicht als Dinge, sondern als Sachzusammenhänge (Relationen) erscheinen. Hierbei lässt sich auch eine gewisse Nähe zu Wittgensteins (1980: 11) berühmten ersten Satz im Tractatus (1921/1922) sehen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ – der schließlich im zweiten Satz näher erläutert wird: „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.“ Dabei ist auch davon auszugehen, dass Auster mit den sprachphilosophischen Überlegungen Wittgensteins, den er in einem anderen Kontext auch zitiert (AH 263), vertraut ist.

  127. 127.

    Über Quinn wird bspw. bereits auf der ersten Seite gesagt, dass er sehr viele Bücher liest, Bilder betrachtet und Filme anschaut (NYT 3).

  128. 128.

    Laut Košenina (2008: 54) gewinnt das Genre der Kriminalliteratur in der Aufklärung dadurch an Kontur, dass insbesondere die Psychologie des Verbrechens und die Fortschritte der Rechtsreformen einerseits und die Figur des Täters als negativer Maßstab der menschlichen Natur andererseits in das Blickfeld treten. Dadurch trägt die frühe Kriminalliteratur „maßgeblich zur Entwicklung anthropologischer Erzählkunst bei“ (ebd.); wobei bereits seit der Frühen Neuzeit ein reges Interesse an der Darstellung und Verbreitung von Kriminalgeschichten zu beobachten ist (ebd., 55).

  129. 129.

    Einen ihrer Ursprünge hat die klassische Form in Edgar Allan Poes Erzählungen, auf die in Austers Roman mehrfach explizit und implizit verwiesen wird. Die v. a. in Amerika entwickelte Form des hard-boiled Detektivs lässt sich prototypisch in den Romanen Raymond Chandlers finden. Beide Formen sind durch das enorme Anwachsen der Massenmedien nach dem Zweiten Weltkrieg einer ständigen Reproduktion und damit auch Verfestigung ausgesetzt, welche schließlich dazu führt, dass sie mehr und mehr in den Bereich der Trivialliteratur Einzug hielten (Herzogenrath 1999: 23). Die Figuren der New York Trilogy sind zum größten Teil Rezipienten dieser Literatur. Blue ist ein leidenschaftlicher Leser des Magazins True Detective (NYT 141). Quinn entwickelt einen regelrechten Hunger nach Detektivgeschichten (NYT 8); wobei die Metaphorik des Hungers hierbei eine doppelte ist: Zum einen zieht es Quinn nahezu lebensnotwendig zu etwas hin, mit dem er, zum anderen, durch den Akt des Einverleibens schließlich verschmilzt. Der Erzähler von The Locked Room schließlich liest neben Reisegeschichten auch französische Übersetzungen amerikanischer Detektivgeschichten (NYT 292). Russel (2004: 110) schreibt dazu: „they are all bewitched by books, especially of romantic nature.“ Daher seien alle Protagonisten schließlich auch Parodien romantischer Helden (ebd.).

  130. 130.

    Dem entspricht auch die typische „Doppelstruktur“ (Todorov 1998: 209) des klassischen Detektivromans, der immer zwei Geschichten enthält: „die Geschichte des Verbrechens und die seiner Untersuchung“ (ebd.).

  131. 131.

    Daher kommen Russell (2004: 97) und Herzogenrath (1999: 24) auch zu dem Schluss, dass der Detektivroman immer „end-dominated“ sei.

  132. 132.

    So meint auch Quinn: „The detective is one who looks, who listens, who moves through this morass of objects and events in search of the thought, the idea that will pull all these things together and make sense of them“ (NYT 8). Daher wird der Detektivroman von Herzogenrath (1999: 24 f.) auch als Ausdruck des Glaubens an die metaphysische Einheit der Welt gedeutet.

  133. 133.

    So berichtet der Erzähler über Quinn: „His excursions through the city had taught him the connectedness of inner and outer“ (NYT 61). Und etwas später wird noch beispielhaft angegeben: „on his best days he could bring the outside in and thus usurp the sovereignty of inwardness. By flooding himself with externals, by drowning himself out of himself, he had managed to exert some small degree of control over his fits of despair“ (NYT 61).

  134. 134.

    Quinn ist dadurch, so könnte man etwas zugespitzt sagen, auch ein Gegner des Cartesianismus, da er nicht im Rahmen der klassischen Dualismen (Geist vs. Körper, Leib vs. Seele) denkt und handelt.

  135. 135.

    So zumindest das Verständnis des Flaneurs von Zygmunt Bauman (siehe oben), der auch von der „Reduktion des Ichs auf eine Oberfläche“ (Bauman 1997: 219) spricht. Gerade die Großstadt konfrontiert dabei den Flaneur nicht nur mit einer Unmenge an Oberflächen, sondern macht ihn selbst auch als Oberfläche sichtbar: „Im Straßenleben der Stadt sind die Leute füreinander Oberflächen; jeder Spaziergänger ist selbst stets ausgestellt, während er sich bewegt“ (ebd., 218).

  136. 136.

    Jakubzik (1999: 309 ff.) führt diesbezüglich aus, dass die Figuren Austers in dieser Grundannahme direkt von den Schriftstellern des amerikanischen Transzendentalismus beeinflusst sind, ihnen dies jedoch gar nicht bewusst ist. Auch wenn Blue Thoreaus Walden liest, weil das Objekt seiner Beobachtungen, Black, dieses Werk liest und dabei vom Erzähler explizit angedeutet wird, dass Blue damit den Schlüssel zum Verständnis seines Falls in den Händen und vor Augen hält, so gelingt es ihm dennoch nicht, einen Sinn im Geschriebenen zu finden und es auf sich zu applizieren (NYT 162 f.). Dabei kann einerseits natürlich auch angenommen werden, dass diese Ansicht auf einer Missinterpretation des Erzählers beruht. Andererseits bezieht sich Auster selbst immer wieder positiv auf Walden und baut implizite wie auch explizite Verweise in der New York Trilogie ein. Die von Auster anhand der Walden-Verweise verfolgte Idee des einsamen Lebens – die seit The Invention of Solitude immer wieder thematisiert wird – ist dabei auch mit einer bestimmten anthropologischen Grundannahme verbunden, die das ‚eigentliche‘ Leben abseits der menschlichen Zivilisation verortet und dort, so Auster, einen stabilen Kern und Halt des menschlichen Selbst aufzufinden erhofft: „The determination to reject everyday American life, to go against the grain, to discover a more solid foundation for oneself“ (AH 263). Dabei geht es Thoreau – gemäß der Maxime, das eigene Leben so einfach zu gestalten wie die Natur selbst (Thoreau 1992: 220) – letztlich, ähnlich wie auch Quinn, um die essenziellen Dinge des menschlichen Lebens: „I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it has to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived“ (ebd., 222). Wie auch die Detektivfiguren Austers befindet sich Thoreau auf der Suche nach den „essential laws of man’s existence“ (ebd., 153) – die ihm zufolge jedoch relativ unabhängig von den historischen und kulturellen Entwicklungen zu denken sind (vgl. ebd.). Dabei findet sich, dies sei noch kurz ergänzend angesprochen, jedoch nicht nur ein quasi-rousseauistisches Denken bei Thoreau, sondern auch moderne anthropologische Ideen (die ebenso auch das Werk Austers kennzeichnen); so z. B. die Vorstellung von der (als grundsätzlich erwerbbar und zur ‚ersten Natur‘ hinzukommend gedachten) „second nature“ (ebd., 154) des Menschen und die Vorstellung von der (freilich nicht so bezeichneten) menschlichen Exzentrizität einerseits und dem damit verbundenen distanzierten und vermittelten menschlichen Weltbezug andererseits (ebd., 266): „With thinking we may be beside ourselves in a sane sense“ (ebd.).

  137. 137.

    Dies hat für Neumann auch evolutionäre Vorteile, insbesondere mit Blick auf die Selbsterhaltung des Individuums: „Ein Mensch, der sich in Andere ‚hineinzuversetzen‘ vermag, kann das Verhalten anderer Personen nicht nur in vielen Fällen verstehen, er kann solches Verhalten in gewissem Umfang sogar voraussehen und sich darauf einstellen“ (Neumann 2013: 60).

  138. 138.

    Quinn bezieht sich hierbei auf Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The Purloined Letter (1844), in der Dupin Folgendes zu seiner Methodik ausführt: „When I wish to find out how wise, or how stupid, or how good, or how wicked is any one, or what are his thoughts at the moment, I fashion the expression on my face, as accurately as possible, in accordance with the expression of his, and then wait to see what thoughts or sentiments arise in my mind or heart, as if to match or correspond with the expression“ (Poe 2000b: 264). Der von Quinn zitierte Satz wird direkt im Anschluss geäußert (ebd.). Durch die intertextuellen Verweise auf die Detektivgeschichten Poes bezieht sich die New York Trilogy zugleich auch auf die Urtexte des Genres der Detektivgeschichte; kann die Figur des Detektivs doch als eine Erfindung Poes gelten (Stierle 1993: 609). Auch Walter Benjamin (1991a: 550) betont, dass sich bereits in Poes The Man of the Crowd (1840) „das Röntgenbild einer Detektivgeschichte“ finden ließe.

  139. 139.

    Dabei beruht dieses Verhältnis auf Gegenseitigkeit und wirkt daher auch umgekehrt: Blue denkt zwar, er hätte durch sein geheimes Beobachten eine gewisse Macht über Black, doch stellt sich später heraus, dass er von eben jenem (in der Verkleidung als White) eben gerade dazu engagiert wurde – eine ähnliche Konstellation wie sie im Roman Leviathan und im konkreten Vorbild der Künstlerin Sophie Calle und deren Werk The Detective zu finden ist. De facto wird daher tatsächlich auch Blue unbemerkt beobachtet. Black äußert dazu: „I’ve been watching him for so long now that I know him better than I know myself. All I have to do is think about him, and I know what he’s doing, I know where he is, I know everything. It’s come to the point that I can watch him with my eyes closed“ (NYT 181).

  140. 140.

    Dementsprechend findet Benjamin in der Figur des Flaneurs auch bereits die Figur des Detektivs „präformiert“ (Benjamin 1991b: 554).

  141. 141.

    Der letzte Satz lautet: „The worst heart of the world is a grosser book than the ‚Hortulus Animae‘, and perhaps it is but one of the greatest mercies of God that ‚es lässt sich nicht lesen‘“ (Poe 2000a: 129). Dass das Sehen und Lesen das dominierende Motiv der Kurzgeschichte Poes ist, wird von Hayes (2002) herausgearbeitet.

  142. 142.

    Dabei ist davon auszugehen, dass Poe den Text selbst nie zu Gesicht bekommen hat, sondern lediglich in Isaac D’Israelis Curiosities of Literature davon gelesen hat. Üblicherweise wird das deutschsprachige Zitat als Verweis auf die vermeintliche Schrecklichkeit und Abscheulichkeit der Darstellungen innerhalb Grüningers um 1500 erschienen Gebetsbuch verwiesen, dessen Texte und Abbildungen von D’Israeli als ungebührlich und unziemlich herabsetzt werden: „both of a very uncommon nature for a religious publication“ (D’Israeli 1798: 99); insbesondere die Abbildungen seien „to be condemned in all ages“ (ebd.). Allerdings, das zeigen u. a. die von den Herausgebern in Poe (2000a: 128) eingesetzten charakteristischen Abbildungen Grüningers, sind diese gänzlich der damaligen Ikonografie verpflichtet. Mabbott spekuliert, dass sich Poes deutschsprachiges Zitat aus einer anderen, noch unentdeckten, Quelle heraus erklären lasse, die möglicherweise lediglich darauf verweise, dass Grüningers Buch schlecht gedruckt und dementsprechend eben unleserlich sei (Poe 1978: 516, Anm. 19). Dabei ist aber auch auf die grundsätzliche Unzuverlässigkeit des Poeschen Erzählers (Cantalupo 2014: 62) hinzuweisen, der sich nach langer Krankheit in einem rauschhaften Zustand befindet; dementsprechend können auch seine Referenzen auf andere Werke – wie auch seine Wahrnehmung der Geschehnisse – als unglaubwürdig erscheinen und verstanden werden.

  143. 143.

    Dementsprechend sind auch je nach verwendeter Ausgabe unterschiedliche Deutungsangebote in der Forschung vertreten. Dallmann (2009: 354) bspw. bezieht sich auf „er“, Stierle (1993: 609) hingegen auf „es“.

  144. 144.

    Zum Beispiel: „There were many individuals of dashing appearance, whom I easily understood as belonging to the race of swell pick-pockets, with which all great cities are infested“ (Poe 2000a: 123).

  145. 145.

    Karlheinz Stierle (1993: 609) beschreibt die Erfahrung des Ich-Erzählers in Poes Man of the Crowd auch als „Choc der Unlesbarkeit“. Die Eingangs- und Abschlusswendung bezeichnet ihm zufolge „die Perspektive einer nachwirkenden tiefen Erschütterung über die verborgenen Abgründe des Menschlichen, die sich dem Erzähler unerwartet eröffnen“ (ebd.).

  146. 146.

    Einige Interpreten verstehen den vom Ich-Erzähler Verfolgten auch als dessen Doppelgänger – was dann auch zur grundsätzlichen Unlesbarkeit des eigenen Selbst führen würde. So schreibt etwa Voss (1988: 39): „Poes Text läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß der ‚Massenmensch‘ das abgespaltene und verdrängte ‚Alter ego‘ des Verfolgten ist – der klassische Fall des unheimlichen Doppelgängers“. Auch Stierle (1993: 613) deutet mit Verweis auf Freud den Verfolgten anhand der Kategorie des Unheimlichen, überträgt dann jedoch schließlich diese Zuschreibung auf die Großstadt: „Es ist das Unheimliche, das den Erzähler erfaßt, und zwar das Unheimliche der großen Stadt.“

  147. 147.

    Vgl. dazu auch folgende Aussage Austers: „So the detective really is a very compelling figure, a figure we all understand. He’s the seeker after truth, the problem-solver, the one who tries to figure things out. But what if, in the course of trying to figure it out, you just unveil more mysteries?“ (AH 262).

  148. 148.

    Auch der Leser kann nie wissen, was überhaupt geschehen ist. „Es gibt keinerlei Garantie, dass die Zusammenhänge, die Quinn in sein Notizbuch notiert, irgendetwas mit den Zusammenhängen der Welt zu tun haben“ (Klepper 1996: 261). Insofern der Erzähler auf die Notizbucheinträge Quinns angewiesen ist, wird eine mehrfache Ungewissheit hergestellt. Letztlich interpretiert der Leser die Interpretationen des Erzählers, der die Interpretationen Quinns interpretiert, welcher wiederum die Geschehnisse auf der Basis des ihm aus den Detektivgeschichten bekannten und zutage tretenden Weltbilds interpretiert.

  149. 149.

    So verweist Stierle (1993: 627) nicht nur auf den Charakter Dupins, sondern auch auf die von Poe gezielt eingesetzte Farbmetaphorik, die freilich auch in Austers Ghosts allein schon anhand des von Blue zu lesenden Figurenpaars Black und White explizit wiederaufgenommen wird: „Nicht nur ist Dupin ein passionierter Leser, auch die Stadt wird ihm zum Buch. Nur weil alles in der Stadt als absolut fremd und ohne Zusammenhang mit dem eigenen Leben erscheint, kann sie die faszinierende Qualität der Verweisung annehmen, die dem analytischen Ingenium offensteht. So ist es die Stadt in Schwarz und Weiß, die nächtliche Stadt mit ihren Lichtinseln, die Dupin fasziniert. Die farblose Stadt in Schwarz und Weiß ist selbst schon zur Lesbarkeit reduziert. Sie ist gleichsam eine Folge ihrer Seiten. Die schwarz-weiße Magie der Stadt ist ein Bild der schwarz-weißen Magie des gedruckten Buches als einer Quelle, der das Imaginäre entspringt“ (ebd.).

  150. 150.

    So schreibt auch Schmidt (2014: 9): „Die Lesbarkeit der Welt und die Sinnhaftigkeit der gefundenen Spur sind Voraussetzungen für den Erfolg der klassischen Detektivfigur und Grundlage ihrer Aufgabe, das durch die Störung des Verbrechens in Unordnung geratene Gefüge der erzählten Welt zu korrigieren und die Ordnung zu restituieren. Jede Tat, jedes Ereignis hinterlässt Spuren, schreibt sich ein in diese Welt, die der Detektiv zu deuten versteht.“

  151. 151.

    Ebenso agiert auch Blue, wenn er erkennen muss, dass bloße Beobachtung nicht die von ihm gewünschten Resultate liefert. Darüber hinaus sei er sowieso nie der Sherlock-Holmes-Typ gewesen: „Give me something I can sink my teeth into“ (NYT 139).

  152. 152.

    Dadurch kann man City of Glass (und ebenso die gesamte New York Trilogy) auch als sprachkritisches Werk lesen: „Der Roman problematisiert den Akt des Lesens und zeigt dadurch immer wieder, dass die Sprache nicht in der Lage ist, dem System der Erscheinungs- oder Sinneserfahrungen zu entsprechen“ (Hennings 2003: 65).

  153. 153.

    Probleme bezüglich seiner eigenen Identität ergeben sich für Blue allerdings dadurch, dass er sich zwar unzählige Geschichten über Black, nicht jedoch über seine private Existenz erdenken und erzählen kann (NYT 146).

  154. 154.

    In der Figur des Schriftstellers finde sich nach Shiloh (2002: 68) die menschliche Existenzweise im Spannungsverhältnis von Absenz und Präsenz in besonderer Weise verdichtet: „But the writer is not yet another ghost; he is the ultimate ghost. His nature and his life are the epitome of human nature and of the human condition. If human self consists of absence, of a nothingness coming into being, this is doubly true of the writer, his self dispersed and lost among the creatures of his imagination.“

  155. 155.

    Vgl. auch Sorapure (1999: 80): „Quinn reads Stillman’s actions as significant simply because he wants them to be significant“.

  156. 156.

    So stellt Herzogenrath der klassischen Detektivfigur die durch Quinn verkörperte postmoderne Detektivfigur entgegen und unterscheidet beide folgendermaßen: „Whereas the classic detective based his investigations on the reading and decoding of symbols, with their assumedly natural, fixed relation to the referent, between cause and effect, crime and corpse, going backward (reconstruction of crime) and forward (solution) in time on a straight and logical line, the postmodern detective is faced with the arbitrariness of the sign and its endless proliferation, based on the profound split between sign and referent as well as between signifier and signified. In fact, this movement cannot come to rest in a closure, since there is no stable signified: every signified is always already subverted by/as a signifier. Not presence, but absence – not identity, but difference is the realm of the detective. There is no final signified, no ‚Truth‘ to unravel“ (Herzogenrath 1999: 25).

  157. 157.

    Lange (2008: 215) deutet die New York Trilogy als repräsentatives Werk dieses Genres: „In ihm bündeln sich etliche Motive, die dieses Genre ausmachen, von der Erfolglosigkeit der Detektion oder seiner Transposition auf eine andere Bedeutungsebene bis zur Problematisierung oder Tilgung des Verbrechens, vom intertextuellen Bezug auf die einschlägigen literarischen Traditionen bis zum Spiel mit strukturellen Möglichkeiten der Fiktion“. Lavender (2004: 77) dagegen interpretiert die in der New York Trilogy gefundene Form des Detektivromans als Allegorie auf den Roman im Allgemeinen: „City of Glass […] posits the detective novel as an allegory for novels in general and then uses it to examine the possibilities of the form.“

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Weiland, M. (2019). Paul Austers New York Trilogy aus den Perspektiven Philosophischer und literarischer Anthropologie. In: Mensch und Erzählung. Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, vol 9. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_4

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  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

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