Zusammenfassung
Europa ist ein Begriff, der nicht aus ihm selber stammt, sondern aus seinem wesentlichen Gegensatze zu Asien. Die Unterscheidung von Europa und Asien haben die Griechen vermutlich von den Phöniziern übernommen, und auf assyrischen Denkmälern fand man die beiden Gegenbegriffe: »ereb« (das Land der Dunkelheit oder der untergehenden Sonne) und »asu« (das Land der aufgehenden Sonne). Europa ist ursprünglich, und solang es sich treu bleibt, politisch und geistig eine gegenasiatische Macht. Das deutsche Wort »Abendland« hat einen volleren Klang. Es meint, im Gegensatz zum Morgenland, eine Bewegung zum Ende hin, die zwar im Osten beginnt, sich aber im Westen vollendet. »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang […]. Hier geht die äußerliche, physische Sonne auf und im Westen geht sie unter; dafür ersteigt aber dort die innere Sonne des Selbstbewußtseins, die einen höheren Glanz verbreitet«1, nämlich den Glanz des absolut freien und darum auch kritischen Geistes, dessen Gefahren und Größe der Osten bis heute nicht kennt. Zwei Jünglinge, sagt Hegel2, haben im Jünglingsalter Europas die schönste und freieste Individualität entwickelt: Achilles und Alexander der Große. »Achilles als Hauptfigur im Nationalunternehmen der Griechen gegen Troja […]; Alexander, der sich als Nachbild des Achilles an die Spitze der Griechen stellt, und die Rache, welche Asien zugeschworen war, erfüllte.«
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Notizen
Hegel, Philosophie der Geschichte. Werke, Bd. IX; S. 102.
Ebenda, S. 232.
Siehe dazu M. Scheler, Der Genius des Krieges, 1915, S. 285ff.
Ku-hung-ming, Chinas Verteidigung gegen die Ideen Europas, 1911.
Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, 1757; siehe dazu Kaegis Abhandlung in der Zeitschrift »Corona« 1937/38, H. 1.
Kritisch wurde Hearn gegenüber Japan erst in seinem letzten Buch: Japan, an Interpreation, 1904. Vgl. dazu More letters from B. H. Chamberlain to L. Hearn, Tokyo 1937, S. 135 und 142.
Ein schönes Dokument dieser europäischen Gesinnung sind Rilkes Briefe von 1914 bis 1926 und H. v. Hofmannsthals Aufsätze: Die Berührung der Sphären, 1931.
Der Genius des Krieges, a.a.O., S. 317f.
Vom Ewigen im Menschen, 1. Band, 1923, S. 204ff.
Wir bezeichnen sie charakteristischerweise mit dem einen Wort »Nachkriegszeit«, weil diese Zeit in der Tat noch eine Phase des Krieges war.
Siehe dazu E. Rosenstock, Die europäischen Revolutionen, Jena 1931.
Siehe dazu B. Croce, Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, Kap. 10.
Scheler, Der Genius des Krieges, a.a.O., S. 311f. und 313f.
E. Jünger, Das abenteuerliche Herz, Berlin 1929, S. 186ff.
H. Rauschning, Die Revolution des Nihilismus, Zürich 1938, S. 409 und 458ff.
Dostojewskij, Politische Schriften, München 1917, S. 489.
C. Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (Anhang zum Begriff des Politischen, 2. Aufl. 1932, S. 66). Vgl. dazu O. Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 69.
Werke III, S. 8f.; vgl. Briefe I, S. 406ff. und 349, S. 365.
Siehe zum Folgenden die ausführliche Darstellung von Burkhardts Geschichtsauffassung in meinem Buch über Burckhardt, Luzern 1936 (Sämtliche Schriften 7, S. 39ff.).
Ein charakteristisches Dokument dafür ist die 1933 erschienene Schrift von G. Benn, Nach dem Nihilismus.
N. Berdiajew, Das Schicksal des Menschen in unserer Zeit, Luzern 1935.
Eine ausführliche Begründung und Darstellung des hier bloß Skizzierten enthält mein Buch Von Hegel zu Nietzsche, Zürich 1940 (Sämtliche Schriften 4, S. 1ff.).
Werke X/2, 2. Aufl., S. 231ff.; X/3, 579f.; X/1, 2. Aufl., S. 13ff., 132.
Zur Krisis des Christentums siehe: Philosophie der Religion, ed. Lasson, 1929, Bd. III, S. 229ff.
Philosophie der Weltgeschichte, ed. Lasson, S. 200 und 779.
Rosenkranz, Hegels Leben, S. 304f.
Vgl. dazu den Aufsatz: Die Revolution von 1848 und das Proletariat.
Vgl. zu Kierkegaards »Kritik der Gegenwart« den Aufsatz Das Eine was not tut, Zeitwende 1927, H. 1.
Rußland und das Germanentum, a.a.O., S. 121 und 77.
Über den Zusammenhang des russischen Nihilismus mit dem Marxismus siehe K. Nötzel, Die soziale Bewegung in Rußland, 1923, S. 170ff.
Werke (Groß- und Kleinoktavausgabe) XV, S. 141ff.
Fröhliche Wissenschaft, Aph. 377.
Siehe dazu mein Buch: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin 1935 (Sämtliche Schriften 5, S. 101ff.).
Siehe Zarathustra I, Vom Kriege und Kriegsvolke, und III, Von alten und neuen Tafeln. Diese beiden Kapitel enthalten bereits die ganze deutsche Ideologie der Gegenwart.
Siehe Genealogie der Moral, III, Aph. 27.
Siehe Genealogie d. Moral, III; Aph. 24; vgl. XII, S. 406, S. 410; XIII S. 361.
XIV, 420; Briefe I, 534.
Jenseits von Gut und Böse, Aph. 242; vgl. Wille zur Macht, Aph. 128.
Wille zur Macht, Aph. 956; vgl. S. 954f.
Notizen
Siehe auch J. E. Spenle, La pensée allemande de Luther à Nietzsche, Paris 1934.
Hegel, Briefe, I. S. 194.
Vgl. Rilke: »Mir scheint als ob nur noch Eines, ein letztes Gültiges, das Eine das not tut, mich zur Aussprache berechtige.«
Siehe dazu H. Fiala [Pseud. K. Löwith], Politischer Dezisionismus: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 1935, H. 2 (hier S. 19ff.).
Schlageter, ein Student der Freiburger Universität, hatte sich nach dem Krieg an den Aufständen gegen die französische Besatzungsarmee beteiligt, wurde wegen Sabotage erschossen und vom Nationalsozialismus heilig gesprochen.
Der japanische Leser wird vielleicht darüber erstaunen, daß ich meinen »sensei« einer so scharfen und öffentlichen Kritik unterziehe. Aber auch diese Kritik am eigenen Lehrer ist nur ein besonderer Fall jener prinzipiell kritischen Geisteshaltung, welche uns Europäer kennzeichnet. Die Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer widerspricht bei uns nicht der schärfsten Auseinandersetzung mit ihm, vielmehr werden wir oft gerade das, wodurch wir am meisten gelernt haben, auch der strengsten Kritik unterziehen. Im Grunde ist die Kritik am eigenen Lehrer zugleich eine solche an einen selbst, denn sie bedeutet eine kritische Unterscheidung und Trennung des Schülers von der eigenen, durch den Lehrer bedingten Vergangenheit. Als eine solche indirekte Kritik ihrer selbst muß man auch die radikale Polemik von Schelling gegen Fichte, von Hegel gegen Schelling, von Marx und Kierkegaard gegen Hegel und von Nietzsche gegen Wagner verstehen.
Siehe Nietzsche, Antichrist, Aph. 10 und H. Ball, Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919.
Siehe Nietzsches Äußerung über Friedrich den Großen: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 209.
Notizen
Siehe dazu die treffliche Bemerkung von B. H. Chamberlain an L. Hearn: More letters von B. H. Chamberlain to L. Hearn, Tokyo 1937, S. 135.
Siehe Chamberlains Briefe an Hearn, a.a.O., S. 107: »Patriotism comes before everything, before Christianity, before humility, before even fair play and truth.«
In der Zeitschrift »Dosetsu« 1938, Nr. 14.
Siehe das bekannte Gedicht von Fujita Tōko.
Siehe dazu Hegels Analyse der theoretischen Bildung, XVI, S. 142f.
Hegel, XIII, S. 172; vgl. IX, S. 234.
Siehe Burckhardts Vortrag Über das wissenschaftliche Verdienst der Griechen, Gesamtausgabe XIV, S. 244ff.
Einen natürlichen, weil geographischen und geschichtlich naheliegenden Anlaß und Anreiz zur Selbstunterscheidung und Selbstkritik bietet für Japan nicht das weit entfernte und christliche Europa, sondern nur China. Die geistigen Konsequenzen der militärisch-politischen Auseinandersetzung mit China werden Japan vielleicht zum ersten Mal in entscheidender Weise von einem Andern auf sich selber zurückbringen und zugleich aus sich selber herausstellen — ein Vorgang, der ebenso viele Chancen wie Gefahren für eine insulare Kultur enthält. In Europa war dagegen die Nötigung, sich mit andern zu vergleichen, sich von ihnen zu unterscheiden und dadurch kritisch gegen sich selber zu werden von jeher gegeben, weil Europa eine Mannigfaltigkeit von verschiedenen Nationen umfaßt, die unmittelbar aneinander grenzen.
Die gegensatzlose Einheit und Einförmigkeit der japanischen Kultur beruht positiv auf der Ausbildung feststehender Traditionen. Innerhalb dieser einförmigen Einheitlichkeit hat sich aber eine unendliche Mannigfaltigkeit feinster Variationen und Modifikationen der stabilen Grundformen entwickelt. Sie scheinen dem europäischen Auge und Ohr mehr oder minder unbedeutend, weil unsere Sinne weniger solche erfühlbaren Nuancen als vielmehr entschiedene Gegensätze erfassen, oder im Gleichnis gesagt: weil unsere geistige Lebensluft trockener ist als in dem feuchten Klima von Japan, wo die harten und klaren Formen der Farben und Dinge wie in einem alles umfassenden und durchdringenden Dunst und Nebel verschwimmen. Wer einmal die marmornen Tempel auf dem kahlen Felsen der Akropolis und die hölzernen Schreine im Walde von Ise sah, wird verstehen, was ich hier meine.
Eine vortreffliche Charakteristik der japanischen Inanspruchnahme von Mittelspersonen in allen entscheidenden Angelegenheiten des politischen und privaten Lebens gibt, vom europäischen Gesichtspunkt aus, E. Lederer, Japan-Europa, 1929, S. 77f., 119f. und 232.
W. VII, 368ff.
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Löwith, K. (1990). Der europäische Nihilismus. In: Lutz, B. (eds) Der Mensch inmitten der Geschichte. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03324-6_3
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