Zusammenfassung
In Europa neigt man zu der Ansicht, im Selbstportrait sei der Maler ganz anwesend, hier zeige er sein wahres Wesen und spreche sich rückhaltlos aus. Besondere Bewunderung fanden immer die Selbstportraits Rembrandts, die das bürgerliche Individuum schlechthin zeigen. Wir glauben aber zu bemerken, daß auf diesen Bildern das Antlitz des Malers oft einen spöttischen Ausdruck aufweist. Der Schein der Anwesenheit trügt nämlich, die Illusion der Nähe enthüllt sich als ein mit dem Betrachter getriebenes Spiel. Anwesend ist nicht der Maler, sondern sein täuschend ähnliches, aber spukhaft leeres Abbild, ein äffendes Phantom. Das lateinische illusio bedeutet „Verspottung”.
Notizen
Aus Pro domo et mundo (1911), zitiert nach: Das Karl Kraus Lesebuch, hrsg. von Hans Wollschläger, Zürich 1980, S. 171
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Breier, A. (2002). Über Anwesenheit. In: Die Zeit des Sehens und der Raum des Hörens. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02777-1_22
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