Zusammenfassung
Kleists Texten, deren Figurationen und Defigurationen, deren Notation von Sprach-Bewegung, deren Choreo-Graphie ist ein außergewöhnliches gestisches Potential eingeschrieben. »Ein zweiter Dialog der Gesten verdoppelt«, so Paul de Mans Lektüre von Kleists ›Über das Marionettentheater‹, »den der Worte, aber die Parallelität zwischen beiden ist weit davon entfernt, eindeutig zu sein.«1 Was in Kleists Texten zu lesen ist, ist das Nie-Geschriebene, was präsent wird — die Abwesenheit als Modus der Graphie, als schwindelerregende Bewegung eines Verschwindens, als notiertes Fehlen: »das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz«, so Kleists ›Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft‹ (SW9 II, 327): in all der Doppeldeutigkeit, ob die Landschaft, indem sie fehlt, abwesend ist oder abwegig, fehlerhaft, daneben. Denn bei Kleist ist das Fehlen doppeldeutig zu lesen, d.h. die Texte markieren die Latenz dieser Doppeldeutigkeit oder sie kann nie ausgeschlossen werden. »Nimm mir, o Herr, das Leben, wenn ich fehlte«,2 beteuert Käthchen. »Ich werd mich selbst verdammen, wenn ich fehlte«,3 sagt und verfehlt Sosias. Vielleicht weil jede Lektüre — »ach!« — nur verspricht, sich verspricht, und verfehlt, und ohnmächtig fällt, ihre Aufgabe aufgibt. Und Kleists »unsichtbares Theater«, so Goethes Formulierung,4 ist als Benennen eines Theaters des Versprechens interessant, das den textuellen Ab-Grund freilegt und ironisch jede momentane szenische Sicht destabilisiert, als Benennen des choreo-graphischen Begehrens, Unsichtbares in Szene und in Schrift zu setzen: Kleists Choreographien als markierte Absenzen, als unsichtbare Seelandschaften, unsichere Landschaften des Sehens, voller Seh(n)sucht nach einer »See, die fehlte ganz«.
Auf dieser Bühne hat Kleists Marionettentheater einen Spielraum, Brecht einen Tanzplatz.
Heiner Müller (über Robert Wilsons Theater)
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Anmerkungen
Paul de Man, Ästhetische Formalisierung. Kleists ›Über das Marionettentheater‹. In: Ders., Allegorien des Lesens [1979], aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme, mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt a.M. 1988, S. 205— 233), hier S. 211.
Vgl. dazu Monika Meister, Eves beschämte Rede und die Wendungen der Szene. Zum »unsichtbaren Theater« Kleists. In: Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists, Heilbronn 2000 (Heilbronner Kleist-Kolloquien; II), S. 52–68. 5 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, Frankfurt a.M. 1979, S. 58f.
Gerhard Neumann, Theatralität der Zeichen. Roland Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik. In: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann, Caroline Pross und Gerald Wildgruber, Freiburg i. Br. 2000, S. 76.
Giles Deleuze, Ein Manifest weniger. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck u.a., Leipzig 1990, S. 379–405, hier S. 404.
Tröstung werden können; denn eins zerstreute mich vom andern.«. (SW9 II, 772); sowie Kleists ›Penthesilea‹ (SW9 I, 367, Vs. 1349f.): »Steh, steh fest, wie das Gewölbe steht, / Weil seiner Blöcke jeder stürzen willk‹; sowie die Figur des ›zufälligen Gewölbes‹ in ›Das Erdbeben von Chili‹: die Öffnung, die »der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnissses eingerissen hatte« (SW9 III, 146). Vgl. dazu die »chiliastische« Lektüre von Werner Hamacher, Das Beben der Darstellung. Kleists ›Erdbeben in Chili‹. In: Ders.. Entferntes Verstehen. Frankfurt a.M. 1998. S. 235–279.
Antonin Artaud, zit. nach Jacques Derrida, Das Subjektil ent-sinnen. In: Paul Thévenin und Tacques Derrida, Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits, München 1986, S. 108.
Antonin Artaud, Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 1980, S. 78.
Zum Begriff des »anagrammatischen Körpers« in Le Roys ›Self Unfinished‹ vgl. noch: Krassimira Kruschkova, Actor as/and Author as ›Afformer‹ (as J#x00E9;rome Bel as Xavier Le Roy). In: Dies., Frakcija, Zagreb 2001, S. 58–65; Krassimira Kruschkova, Szenische Anagramme: Zum Theater der Dekonstruktion. In: TheaterKunstWissenschaft, Wien, Köln und Weimar 2004, S. 229–238; Krassimira Kruschkova, Defigurationen. Zur Szene des Anagramms in zeitgenössischem Tanz und in Performance. In: www.corpusweb.net/index.php?option=com_content&task=view&id=256&Itemid=32 (24.7.2007).
Vgl. Antonin Artaud, Le théâtre de la cruauté. In: 84, Nr. 5–6, Paris 1948, S. 101. Übersetzung zit. nach Jacques Derrida, Die soufflierte Rede. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz, übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt a.M. 2003, S. 259–301, hier S. 288.
Hans Bellmer, Kleine Anatomie des körperlichen Unbewußten oder Die Anatomie des Bildes. In: Ders., Die Puppe, Berlin 1962, S. 158.
Vgl. Ingeborg Harms, Wortbruch. Niedergeträumt. Kleists Anagramme. In: Modern Language Notes 110 (1995), Nr. 3, S. 518–539, hier S. 536.
Vgl. Jacques Derrida, Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders., Die Schrift und die Differenz, übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt a.M. 2003, S. 351–379.
Vgl. dazu Gabriele Brandstetter, Still/Motion: Zur Postmoderne im Tanztheater In: Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, hg. von Claudia Jeschke und Hans-Peter Bayerdörfer, Berlin 2000, S. 122–136; sowie: André
Vgl. Heiner Müller, Herakles 2 oder Die Hydra. In: Heiner Müller Material, hg. von Frank Hörnigk Leipzig 1989, S. 76f.
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Kruschkova, K. (2007). Als tanzten sie nach Kleists Choreographie. In: Blamberger, G., Brandstetter, G., Breuer, I., Doering, S., Müller-Salget, K. (eds) Kleist-Jahrbuch 2007. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00319-5_14
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