Zusammenfassung
Welche Probleme werden heute in der allgemeinen oder theoretischen Soziologie in der Bundesrepublik vorherrschend diskutiert? Es sind Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung im Kleinen (phänomenologische und interaktionistische Theorien) und in komplexen Sozialsystemen (Parsons und Luhmann), nach den Bedingungen der Möglichkeit herrschaftsfreier Kommunikation und kommunikativer Kompetenz (Habermas), nach den Bedingungen der Möglichkeit der Stabilisierung bzw. Veränderung kapitalistischer Systeme (marxistische Staatstheorien). Diese existentiellen Fragen haben mit den Problemen der Gesellschaftspolitik nichts zu tun — auch ein Gesellschaftspolitiker, der sozialpolitische Probleme sehr allgemein und sehr langfristig versteht, kann zwischen seinen Problemen und den theoretischen Fragen nach den „Bedingungen der Möglichkeit“ kaum eine Verbindung herstellen. Er bleibt auf die empirische Sozialforschung angewiesen, die ihm, in der Regel als Auftragsforschung, zu partiellen Problemen Daten liefert, denen allenfalls ein Erklärungsansatz nach Schema F (Korrelationen der abhängigen Variablen mit Alter, Beruf, Einkommen etc. der Befragten) beigefügt ist, der den Namen Theorie nicht verdient1.
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Anmerkungen
Dabei soll nicht übersehen werden, daß es zu einzelnen Problemen der Gesellschaftspolitik politisch „verwertbare“ Untersuchungen gibt, die ihre besonderen Methoden und Einsichten gerade der Anleitung durch eine bestimmte Theorie-Sicht verdanken. Zu denken ist etwa an die Untersuchungen über abweichendes Verhalten und Randgruppen, die auf der einen Seite handlungstheoretisch orientiert sind (vgl. zum Beispiel Helge Peters und Helga Cremer-Schäfer, Die sanften Kontrolleure — Wie Sozialarbeiter mit Devianten umgehen, Stuttgart 1975. Hans Haferkamp, Kriminelle Karrieren. Handlungstheorie, Teilnehmende Beobachtung und Soziologie krimineller Prozesse, Reinbek bei Hamburg 1975) oder sich im Gegensatz dazu auf ein verhaltenstheoretisches Theorieverständnis berufen (vgl. zum Beispiel Karl-Dieter Opp, Die ‚alte ‘und die ‚neue ‘Kriminalsoziologie. Eine kritische Analyse einiger Thesen des Labeling Approach, in: Kriminologisches Journal, Bd. 4, 1972, S. 32-52; derselbe, Soziologie im Recht, Reinbek bei Hamburg 1973). Auf der makrosoziologischen Ebene gibt es jedoch solche theoretisch bestimmten und gesellschaftspolitisch relevanten Forschungen kaum. Vom theoretischen Konzept her könnten wohl Amitai Etzioni, Die aktive Gesellschaft, Köln und Opladen 1975 und Robert A. Dahl und Charles E. Lindblom, Politics, Economics and Welfare. Planning and Politico-Economic Systems Resolved into Basic Social Processes, New York 1953 am ehesten zu ihnen hin führen, wobei das letztere klassische Werk bezeichnenderweise außerhalb des Hauptstroms der soziologischen Theorie steht. Empirisch geht die Soziale-Indikatoren-Bewegung in diese Richtung, allerdings mit einem deutlichen theoretischen Defizit; vgl. für eine Übersicht über die einschlägigen Arbeiten und Probleme Wolfgang Zapf, Sozialberichterstattung: Probleme und Möglichkeiten. Eine Studie im Auftrag der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, im Druck.
Im folgenden wird der Begriff Sozialpolitik durch den der Gesellschaftspolitik ersetzt. Dies geschieht in programmatischer Absicht. Während Sozialpolitik historisch Anhängsel und Reparaturwerkstatt der Wirtschaftspolitik war, sind die Stabilitäts-und Entwicklungsprobleme moderner Gesellschaften nur in einer Konzeption zu begreifen und zu lösen, die die traditionell abgesteckten Grenzen zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik auflöst und an ihre Stelle eine umfassende Gesellschaftspolitik setzt.
Die Kategorien „Abwanderung“ und „Widerspruch“ sind von A. O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974 in die Diskussion eingeführt worden und haben sich als fruchtbar erwiesen. Sie sind von Wolfgang Scholl, Kurt Gerl und Günter Paul, Theoretische Ansätze der Bedürfnisartikulation und-berücksichtigung zur Beurteilung von Mitbestimmungsregelungen, unveröffentlichtes Manuskript, München 1976 mit der bedürfnis-theoretischen Diskussion in Zusammenhang gebracht worden.
Ein großer Teil der politikwissenschaftlichen, insbesondere der demokratietheoretischen Literatur enthält Aussagen zu diesem Problem. Vgl. dazu Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur, Die Transformation individueller Bedürfnisse in kollektiven Bedarf. Zur Demokratisierung und Rationalisierung kommunaler Planungsprozesse (Vorstudie, hektographiert), Frankfurt 1974. Insbesondere aus kommunikations-und systemtheoretischen Ansätzen könnten sich dazu in der Tradition von Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik, Freiburg 1969 und David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York 1965 zusätzliche Perspektiven ergeben. Vgl. zu einem entsprechenden Versuch gesamtgesellschaftlicher Konzeptualisierung insbesondere Alfred Kuhn, The Study of Society. A Multidisciplinary Approach, London 1966; derselbe, The Logic of Social Systems. A Unified, Deductive, System-Based Approach to Social Science, San Francisco-Washington-London 1974. Im Bereich der Betriebswirtschaft sei auf die noch nicht abgeschlossene Arbeit von Günter Paul, Bedürfnisberücksichtigung bei unternehmenspolitischen Entscheidungen unter dem Einfluß von Partizipationsregelungen. Bestandsaufnahme und Perspektiven (hektographiertes Manuskript), München 1976 verwiesen.
Darstellung von und Auseinandersetzung mit verschiedenen Definitions-und Klassifikationsversuchen scheint mir auf einer allgemeinen Ebene wenig fruchtbar und nur im Hinblick auf ganz bestimmte Fragestellungen sinnvoll, etwa im Hinblick auf die Frage, ob es wirklich, wie Milton Rokeach, The Nature of Human Values, New York-London 1973 annimmt, eine für alle Menschen einer bestimmten Kulturstufe etwa gleichgroße Anzahl von (18 bzw. 36) zentralen Werten gibt. Zur forschungspragmatischen Bestimmung des Bedürfnisbegriffs vgl. auch Karl Otto Hondrich, Bedürfnisorientierungen und soziale Konflikte, in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 3, 1973, S. 263-281; derselbe, Menschliche Bedürfnisse und soziale Steuerung. Eine Einführung in die Sozialwissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1975; Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur, Bürgererwartungen und Kommunalpolitik (Zwischenbericht im Rahmen des Förderungsschwerpunkts des Bundesministeriums für Forschung und Technologie „Bürgernahe Gestaltung der sozialen Umwelt“) hektographiert), 1976.
Angesichts der Belastung des Bedürfnisbegriffs mit Vorstellungen von einer fixierten Menge natürlicher oder gar wahrer Bedürfnisse wurde neuerdings empfohlen, unter Bedürfnissen nur noch „unverzichtbare biogene Antriebe (deren langfristige Deprivation zur Vernichtung des Systems führt), unter Einschluß des Strebens nach Komplexität und Konsistenz“ zu verstehen und alle soziologisch inspirierte Forschung, insbesondere auch die im Hinblick auf Sozialpolitik und Planung betriebene, unter der Rubrik „Wertforschung“ laufen zu lassen Peter Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Manuskript ausgefertigt im Auftrag der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, Berlin 1976, S. 158 ff.). Obwohl Kmieciak beizupflichten ist, daß Bedürfnis-und Wertbegriff oft schwer zu trennen sind und daß es dann — im Hinblick auf bestimmte Problemstellungen! — sinnvoll ist, den Wertbegriff vorzuziehen, läßt sich zeigen, daß „etwas für wertvoll halten“ und „etwas erstreben oder gern haben“ zwei ganz unterschiedliche Dimensionen sind und daß man gerade im Hinblick auf Planungs-und sozialpolitische Fragestellungen die zweite, nämlich die Bedürfnisdimension braucht. Dazu ein empirischer Befund über Präferenzen von Freizeitaktivitäten (DIVO-Umfrage 1963, zitiert nach Erwin K. Scheuch, Soziologe der Freizeit, in: René König, Hrsg., Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Stuttgart 1969, S. 786 f. abgedruckt bei Kmieciak, a.a.O., S. 363, von mir in vereinfachter Form wiedergegeben)
Den Versuch, einen Mittelweg zwischen der direkten Erfassung von fünf abstrakten Grundbedürfnissen gemäß A. H. Maslow, Motivation and Personality, 2. Aufl„ New York-Evanston-London 1970 und der Ermittlung von Bedürfnisorientierungen auf konkretester Ebene (Bestreben, als Lehrer in einer bestimmten Schule zu arbeiten, in einer bestimmten Gegend zu wohnen etc.) stellt die folgende Frage mit Vorgaben-Liste dar. Jeweils drei bis vier der verschiedenen items können dabei auch als Indikatoren für je ein Maslowsches Grundbedürfnis angesehen werden. Die Liste ist im Fragebogen der Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur zum Projekt Bürgererwartungen und Kommunalpolitik enthalten. — Es gibt Dinge, die einen oft beschäftigen und es gibt Dinge, die einem mehr oder weniger unwichtig sind. Sagen Sie bitte, welche Bedeutung folgende Dinge für Sie persönlich im Augenblick haben. Sind das für Sie weniger wichtige, wichtige, sehr wichtige oder ganz besonders wichtige Dinge?
Im Grund beruht die gesamte Einstellungsforschung — und darum handelt es sich methodologisch gesehn auch bei der Bedürfnisforschung — auf dieser Annahme. Bedürfnisorientierungen werden — wie jede andere Einstellung auch — in reaktiven Verfahren aus verbalem Verhalten (zum Beispiel Antworten auf Fragen) oder in nicht-reaktiven Verfahren aus Verhaltensbeobachtungen erschlossen.
Die folgenden drei Thesen orientieren sich an denjenigen, die Georg Caspar Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, Köln und Opladen 1968, für soziologische Zwecke aus der Lerntheorie übernommen hat. Vgl. zu der Gesamtproblematik insbesondere Hans J. Hummell, Psychologische Ansätze zu einer Theorie sozialen Verhaltens, in: René König, Hrsg., a.a.O., S. 1207.
So ergab sich in einer Explorativstudie beim Vergleich von Kurzarbeitern mit anderen in ökonomisch relativ gutgehenden Betrieben mit von Kurzarbeit betroffenen Arbeitern, daß letztere alle Bedürfnisse relativ weniger wichtig nahmen — der auf Grund der Ergebnisse der Arbeitslosenforschung zu erwartenden Effekt — und daß bei etwa gleicher Rangfolge der Wichtigkeiten in beiden Gruppen doch die Kurzarbeiter die sogenannten höheren Bedürfnisse relativ noch unwichtiger nahmen, als sie es bisher schon waren. Vgl. Arbeitsgruppe Soziale Infrastruktur, Wirtschaftliche Rezession, Konfliktpotential und Reformbestrebungen in der Arbeitnehmerschaft (hektographiert), Frankfurt 1975.
So wirft zum Beispiel Peter Kmieciak, a.a.O., S. 162 f., der Maslowschen Sequenzregel vor, „daß ein derartiges auf Falsifikationsimmunität angelegtes generelles Erklärungsschema differenzierte Erkenntnis effektiv blockiert“, und verweist an gleicher Stelle auf Überprüfungsversuche, aus denen sich zum Beispiel eine Reihe „von kritisch relativierenden Aussagen“, etwa zur „Verstärkung ‚niedrigerer ‘Bedürfnisse bei Blockierung der Befriedigung des. ‚höheren ‘Bedürfniss bei Blockierung der Befriedigung des ‚höheren ‘Bedürfnisses“ ergibt.
Vgl. dazu Anmerkung 10).
Das Material aus empirischen Studien, zum Beispiel über Steuermentalität im internationalen Vergleich, gibt darauf Hinweise, die allerdings in systematischen Untersuchungen im Hinblick auf das hier formulierte Problem zu qualifizieren wären.
Vgl. dazu Karl Otto Hondrich, Solidaritätsprobleme in modernen Gesellschaften, Vortrag in der Universität Bochum, 1976, noch unveröffentlicht.
Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1968.
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Hondrich, K.O. (1977). Soziologische Theorieansätze und ihre Relevanz für die Sozialpolitik. In: Von Ferber, C., Kaufmann, FX. (eds) Soziologie und Sozialpolitik. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, vol 19. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83545-1_8
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-11410-1
Online ISBN: 978-3-322-83545-1
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