Zusammenfassung
Gegen Ende der 1970er Jahre kündigte sich im Luhmannschen Forschungsprogramm ein Paradigmenwechsel an. Ausgehend von empirischen Befunden neurophysiologischer Forschungen entwickelten Humberto Maturana und Francisco J. Varela eine allgemeine Theorie des Lebendigen, die Selbstreproduktion und rekursive Geschlossenheit aller Operationen (Autopoiesis und Selbstreferentialität) zu Basismerkmalen eines jeden biologischen Systems erhob (vgl. Kap. 2.2.3). Luhmann übertrag in der Folge die von Maturana und Varela formulierten Annahmen über biologische Systeme auf seine eigene Theorie sinngesteuerter, komplexitätsreduzierender Sozialsysteme und stellte 1984 auf dieser Grundlage eine neue allgemeine Theorie sozialer Systeme vor. Ging es seiner alten soziologischen Theorie umweltoffener Handlungssysteme primär um die Frage, wie sich in einer invarianten Umwelt komplexitätsreduzierende Sinnstrukturen als Systeme bilden und im Kontakt mit dieser Umwelt erhalten, um letztlich den Menschen die Orientierung in der Welt zu ermöglichen, so wählte sich die neue Theorie selbstreferentiell-ge-schlossener Kommunikationssysteme ein neues funktionales Bezugsproblem: die Frage, wie ein System überhaupt kontinuiert, das heißt, wie es ohne direkten Umweltkontakt von einem (selbst produzierten) Zustand und von einem Ereignis zum Nächsten kommt.419 Dabei ersetzt Luhmann das Problem der Komplexität sozialer Tatsachen durch das Problem ihrer „Unwahrscheinlichkeit“. Dass z.B. Egos Handeln an Alters Handeln sinnvoll anknüpfen kann, dass Interaktion überhaupt stattfindet, und erst recht, dass es so etwas wie Funktionssysteme geben kann, gilt Luhmann nun als höchst unwahrscheinlich. Dass Sozialität dennoch vorkommt, lässt sich laut Luhmann nur noch durch die Phänomene Autopoiesis, strukturelle Kopplung und Evolution erklären. Die wichtigsten Aspekte dieser Umpolung des theoretischen Bezugsrahmens auf „closure type analysis“ werden im Folgenden vorgestellt und im Kontext der hier interessierenden Gesellschafts- und Politiktheorie Luhmanns expliziert.
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References
Luhmann, Niklas, 1985: Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Soziale Welt, 36. Jg., S. 402–446 (403).
Vgl. Durkheim, Emil, 1885: Regeln der soziologischen Methode, Darmstadt/ Neuwied, 1970: Luchterhand, S. 125f.
Luhmann, Niklas, 1991b: Selbstorganisation und Information im politischen System, in: Niedersen, Uwe/ Pohlmann, Ludwig (Hrsg.), Der Mensch in Ordnung und Chaos, Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Bd. 2, Berlin: Duncker & Humblot, S. 11–26 (16).
Siehe Luhmann, Niklas, 1990a: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a.M., 1994: Suhrkamp, S. 31.
Luhmann bezieht sich in diesem Punkt weniger auf die Generalisierungen der Allgemeinen Systemtheorie als auf empirische Befunde der amerikanischen Attributionsforschung. Vgl. hierzu die Studien von Jones, Edward E./ Nisbet, Richard E., 1971: The Actor and the Observer. Divergent Perceptions of the Causes of Behavior, in: Jones, Edward E. et al. (eds.), Attribution: Perceiving the Causes of Behavior, Morristown, N.Y, 1972.: General Learning Press, S. 79–94
vgl. Ross, Lee/ Anderson, Craig A., 1982: Shortcomings in the Attribution Process, in: Kahneman, Daniel/ Slovic, Paul/ Tversky, Amos (eds.), Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases, Cambridge, MA.: Cambridge University Press, S. 129–152 (135f.).
Luhmann, Niklas, 1984c: Widerstandsrecht und politische Gewalt, in: SozAuf 4, a.a.O., S. 161–170 (162).
„Ein autopoietisches System kann nicht seinen eigenen Anfang beobachten, sondern nur, mit Hilfe einer vorher/ nachher Unterscheidung, sein Schon-angefangen-Haben.“ Siehe Luhmann, Niklas, 2000a: Organisation und Entscheidung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 133, FN 20.
Vgl. Durkheim, Emile, 1893: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M., 1992: Suhrkamp, insbes. S. 314ff.
Im Gegensatz zur frühen Theorie des Funktionsstrukturalismus heißt es bei Luhmann jetzt: „Die Ausdifferenzierung dieser Systeme wird nicht durch den Einheitsgesichtspunkt der Funktion, sondern durch das Differenzschema eines Codes ausgelöst.“ Siehe Luhmann, Niklas, 1986b: „Distinctions directrices“. Über Codierung von Semantiken und Systemen, in: SozAuf 4, a.a.O., S. 13–31 (20). Auch in späteren biographischen Selbstauskünften bezeichnet Luhmann die Hinwendung seines Erkenntnisinteresses von Funktion zu binärer Codierung als die wesentlichste Veränderung, die seine Analysen im Rahmen des autopoietischen Paradigmas von denen des funktionsstrukturalistischen Paradigmas unterscheidet. Vgl. Luhmann, Niklas, 1994a: Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview, in: ders., Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hrsg. und eingel. von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt a.M., 1996: Suhrkamp, S. 175–200 (192f.). Gleichwohl sind die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Makro-Sinnzusammenhänge weiterhin als Funktionssysteme zu begreifen; daran hat auch der autopoietische Luhmann keinen Zweifel gelassen. Die internalistische Code-Orientierung überlagert zwar die auch an Umweltbezügen orientierte Funktionserfüllung, ersetzt sie aber nicht.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1974b: Der politische Code. „Konservativ“ und „progressiv“ in systemtheoretischer Sicht, in: ZfP, 21. Jg., S. 253–271 (255).
Vgl. GesellGesell, a.a.O., S. 749 sowie hieran anknüpfend Schimank, Uwe, 2003: Theorie der modernen Gesellschaft nach Luhmann — Eine Bilanz in Stichworten, in: Giegel, Hans-Joachim/ Schimank, Uwe (Hrsg.), Beobachter der Moderne — Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 261–300 (268).
Luhmann, Niklas, 1983a: Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht, in: Herder-Dorneich, Philipp/ Schuller, Alexander (Hrsg.), Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt?, Stuttgart: Kohlhammer, S. 28–49 (31).
Vgl. auch die Veranschaulichung dieses Sachverhalts in Türk, Klaus, 1995: Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, in: ders., „Die Organisation der Welt“: Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 155–216 (173).
Luhmann schließt hier an Überlegungen des Philosophen Gotthard Günther an, der den Versuch unternommen hat, Aristoteles’ zweiwertige Logik zu Gunsten einer mehrwertigen Logik zu überwinden. Der klassische Grundsatz der aristotelischen Logik lautet bekanntlich: tertium non datur! Gotthard Günthers Vorstellung geht nun dahin, den Lehrsatz vom ausgeschlossenen Dritten in logischen Behauptungen nicht mehr universell für alle logischen Aussagen zu behaupten, sondern auf Aussagen über eine endliche Zahl von Ereignissen zu begrenzen. Eine solche Einschränkung des Anwendungsbereichs der zweiwertigen Logik würde differenziertere logische Behauptungen über ausgewählte Ereignisketten ermöglichen. Wendet man Günthers Überlegungen auf eine Unterscheidung im Sinne Spencer Browns an, dann öffnet eine Unterscheidung, die jeweils nur für eine endliche Zahl von Ereignissen Gültigkeit beansprucht, ein Fenster auf die zu beobachtende Welt. Mit dem Öffnen dieses Fensters bleiben aber gleichzeitig alle Aspekte verborgen, die jenseits der Perspektivität, die der Fensterausschnitt ermöglicht, liegen. Für einen Beobachter der durch dieses Fenster schaut, gilt nun die zweiwertige Logik mit dem tertium non datur-Gebot uneingeschränkt. Für andere Beobachter von Welt, die durch die Wahl anderer beobachtungsleitender Unterscheidungen andere Fenster öffnen, besitzt das tertium non datur, dem der erste Beobachter durch seine Unterscheidung unterliegt, nicht. Sie können möglicherweise das vom ersten Beobachter ausgeschlossene Dritte sehen, da sie die Welt aus der Perspektivität einer anderen „Kontextur“ betrachten, die freilich wiederum ihrer eigenen zweiwertigen Logik mit eigenen „blinden Flecken“ unterliegt. Vgl. Luhmann 1990a, a.a.O., S. 666 und vgl. Günther, Gotthard, 1979: Life as Poly-Contexturality, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik Bd. 2, Hamburg: Meiner, S. 283–306 sowie Fuchs, Peter, 1992: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, insbes. S. 48 und vgl. Bode 1999, a.a.O., S. 36ff.
Luhmann, Niklas, 1987a: Die Differenzierung von Politik und Wirtschaft und ihre gesellschaftlichen Grundlagen, in: SozAuf 4, a.a.O., S. 32–48 (35).
Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass die Gesamtmenge aller gesellschaftlichen Kommunikationen nach Beobachterstandpunkten paritätisch verteilt wäre. Bestimmte Ereignisse befördern immer wieder die Wahrnehmung einer zeitweiligen Dominanz eines Funktionssystems, wie z.B. der Wirtschaft auf den Gipfeln und in den tiefen Tälern des Konjunkturzyklus, der Politik beim Hereinbruch von großflächigen Katastrophen, der Erziehung bei der massenmedialen Kunde von exorbitantem Bildungsversagen etc. Insgesamt bleibt aber auch bei solchen Ereignissen die Leistung jedes einzelnen der gerade nicht thematisierten Systeme wichtig, um die Autopoiesis der Gesamtgesellschaft fortsetzen zu können.
Nassehi nennt als Beispiele Durkheim, Parsons, Habermas und Münch. Vgl. Nassehi, Armin, 1999: Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 47.
Jedes Funktionssystem „verleiht dem eigenen Realitätsanspruch Ausschließlichkeit, wenn auch nur im Sinne einer operationsnotwendigen Illusion.“ Siehe Luhmann 1986a, a.a.O., S. 205.
Göbel 2000b, a.a.O., S. 112 und vgl. Luhmann, Niklas, 1987b: Tautologie und Paradoxie in der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, in: ZfS, 16. Jg., S. 161–174.
Vgl. Hirschman, Albert O., 1994: Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?, in: Leviathan, 22. Jg., S. 293–304.
Vgl. Luhmann, Niklas, 2000b: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7ff. (im Folgenden abgekürzt zitiert als PolGesell) und vgl. MacIntyre 1981, a.a.O., S. 325ff.
Vgl. auch Göbel 2000b, a.a.O., S. 160. Barben kennzeichnet diesen normativen Bias der Luhmannschen Gesellschaftstheorie gar als „theoriepolizeilichen Einsatz“ für die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, deren Intention es sei, „anderen Beschreibungsansätzen, abweichenden Bewertungen und alternativen Handlungsperspektiven“ die Grundlage zu entziehen. Siehe Barben 1996, a.a.O., S. 249 und die nahezu gleiche Einschätzung bei Martin, Dirk, 2001: Moralische Kommunikation in der funktional differenzierten Gesellschaft. Zur Kritik der Soziologie der Moral von Niklas Luhmann, in: Demirovic (Hrsg.), a.a.O., S. 177–198 (191f.).
Diese Aufgabe, die binären Codes der Funktionssysteme gleichzeitig moralisch zu rechtfertigen und gegen eine Moralverwendung zu verteidigen, die die „höhere Amoralität“ der Codes in Frage stellen würde, weist Luhmann der philosophischen Disziplin der Ethik zu. Das Arbeitsfeld von Ethikern stellt Luhmann sich dann offenkundig analog zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, die beim Verdacht politischer Korruption ermitteln, oder wie bei Anti-Doping-Kommissionen im Sport vor, die die Codes ihrer Systeme im Sinne von Faimessregeln behandeln und diese vor unlauterer Intervention schützen. Vgl. hierzu Luhmann, Niklas, 1990b: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 40f.
sowie Luhmann, Niklas, 1993a: Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik, in: Kemper, Peter (Hrsg.), Opfer der Macht. Müssen Politiker ehrlich sein?, Frankfurt a.M., 1994: Suhrkamp, S. 27–41.
Am Beispiel des Verhältnisses der Moral zum Code des politischen Systems kann dies im Folgenden noch genauer expliziert werden.
Schimank geht sogar so weit zu behaupten, dass selbst das utopische Denken das Regiment der teilsystemischen Codes nicht mehr in Frage stelle. Vgl. Schimank 2003, a.a.O., S. 271. Mir scheint das keine überzeugende Annahme zu sein. So versucht z.B. Ulrich Beck den Beweis zu führen, dass Luhmann seine Codes durch pure Dezision gewinnt: Warum sollte statt Macht und Ohnmacht nicht Gemeinwohlzuträglichkeit und -abträglichkeit der Code des politischen Systems sein? Luhmann behandelt seine Codes wie Parsons seine „pattem variables“ durchaus im Sinne „evolutionärer Universalien“. Allerdings hatte Parsons diesen Universalien von vornherein nur analytische Geltung zugestanden, während Luhmann ja die Faktizität seiner Codes behauptet, ohne für die Auswahl Argumente Vorbringen zu können, die über eine gewisse Übereinstimmung mit der alltagsweltlichen Phänomenologie hinausgehen. Den politischen Code auf die Machtphänomenologie festzulegen ist natürlich sinnvoll, aber andere Ausgangsunterscheidungen könnten ebensoviel Recht für sich beanspruchen. Vgl. auch Greven, Michael Th., 2001a: Luhmanns „Politik“ im Banne des Systemzwangs der Theorie, in: Demirovic (Hrsg.), a.a.O., S. 197–216 (201). Davon einmal abgesehen akzeptiert die von Beck formulierte „konkrete Utopie“ der Subpolitik in der Risikogesellschaft Luhmanns Differenzierungstheorie generell nicht, sondern plädiert ausdrücklich für (bereichsweise) Entdifferenzierung — Beck nennt dies „Code-Synthesen“ — als politische Problemlösungsstrategie. Vgl. hierzu Beck, Ulrich, 1996: Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: ders./ Giddens, Anthony/ Lash, Scott, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 19–112 (42ff.) und meine Ausführungen in Kap. 6.4.
Vgl. zu dieser Vorstellung der gesellschaftlichen Evolution als „autopoietischer Prozess mit katastrophalem Ausgang“ Breuer, Stefan, 1992: Götterdämmerung, in: ders., Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg: Junius, S. 173–175 (174).
Vgl. zum Problem der Staatlichkeit in Afrika Trotha, Trutz von, 2000: Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit, in: Leviathan, 28. Jg., S. 253–279.
Colomy, Paul, 1990: Revisions and Progress in Differentiation Theory, in: Alexander, Jeffrey C./ Colomy, Paul (eds.), Differentiation Theory and Social Change. Comparative and Historical Perspectives, New York: Columbia University Press, S. 465–497 (470).
Vgl. hierzu detaillierter Schimank, Uwe/ Lange, Stefan, 1998: Wissenschaft in Mittel- und Osteuropa: Die Transformation der Akademieforschung, in: Leviathan, 26. Jg., S. 109–136.
Vgl. zu diesem Punkt auch Luhmann, Niklas, 1987c: Partizipation und Legitimation: Die Ideen und die Erfahrungen, in: SozAuf 4, a.a.O., S. 152–160 (157)
sowie Luhmann, Niklas, 1992b: Die Unbeliebtheit der Parteien. Wie soll es ohne Organisation gehen?, in: Hofmann, Gunter/ Perger, Werner A. (Hrsg.), Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, Frankfurt a.M.: Eichhorn, S. 177–186 (179).
Luhmann, Niklas, 1995b: Probleme mit operativer Schließung, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 12–24 (16).
Vgl. Luhmann, Niklas, 1994b: Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien, Hans-Ulrich/ Gerhardt, Uta/ Scharpf, Fritz W. (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden: Nomos, S. 189–201 (195f.). Vgl. hierzu meine detaillierten Ausführungen in Kap. 6.1.1.
Vgl. hierzu detailliert Brodocz, André, 1996: Strukturelle Kopplung durch Verbände, in: Soziale Systeme, 2. Jg., S. 361–388.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1983b: Evolution — kein Menschenbild, in: Riedl, Rupert J./ Kreuzer, Franz (Hrsg.), Evolution und Menschenbild, Hamburg: Hoffmann & Campe, S. 193–205 (201).
Luhmann, Niklas 1992a: Beobachtungen der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 47.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1970d: Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a.M., 1981: Suhrkamp, S. 11–34 (32).
Luhmann, Niklas, 1993b: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 407ff.
sowie sekundäranalytisch auf Boisinger, Eckard, 2001: Autonomie des Rechts? Niklas Luhmanns soziologischer Rechtspositivismus — Eine kritische Rekonstruktion, in: PVS, 42. Jg., S. 3–29.
Art. 20 (2) GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ wird häufig in dieser Hinsicht interpretiert. Eine herrschaftskategoriale Auslegung ist aber in Luhmannscher Perspektive abzulehnen. Der Verfassungsartikel würde Luhmann lediglich als Legitimationsformel gelten, die die selbstreferentielle Schließung des politischen Systems als Demokratie ermöglicht. Durch die Wahlen wird die Staatsgewalt des Volkes als expressive Handlung und Legitimierungsgrund der Kommunikationen im politischen System zwar sichtbar gemacht. Zwischen den Wahlen ist sie aber lediglich eine Fiktion, die von der strukturellen Kopplung zwischen Berufspolitik und Massenmedien erzeugt wird. Die Annahme, das Volk könne gleichzeitig Herrschaft ausüben und sich selbst durch diese Herrschaft binden, gilt Luhmann als Paradoxie, die sich im theoretischen Anschluss an den Herrschaftsbegriff, der Kausalität unterstellen muss, nicht auflösen lässt. Sofern man das Paradoxon der „Volkssouveränität“ in einem reziproken Machtkreislauf des politischen Systems aufgehen lässt, wird die Orientierung von Demokratie am Begriff der Herrschaft obsolet: Im verschränkten Machtkreislauf moderner Demokratien zeigt sich nur die Selbstreferentialität der politischen Machtgenese, nicht aber das Phänomen der Herrschaft. Auch im Wahlakt findet keinerlei Herrschaft des Volkes über das Volk statt, da ja z.B. die verfassungsmäßigen Strukturprinzipien des politischen Systems zu keinem Zeitpunkt zur Disposition des gesamten Volkes stehen. Herrschaft wird im politischen System durch reziproke Verschränkung der Machtkommunikation und die Verdoppelung der kommunizierten politischen Realitätssubstrate im Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ersetzt. Wie weit dieses Konzept trägt, wird weiter unten zu erörtern sein.
Luhmann, Niklas, 1986c: Die Zukunft der Demokratie, in: SozAuf 4, a.a.O., S. 126–132 (126).
Luhmann, Niklas, 1989a: Theorie der politischen Opposition, in: ZfP, 36. Jg., S. 13–26 (17).
Ebd., S. 270. Insofern verschwinden auch Anti-System-Protagonisten wie die APO oder die RAF nicht im „blinden Fleck“ von Luhmanns Theorie, wie z.B. Wirtz meint. Siehe Wirtz, Thomas, 1999: Entscheidung. Niklas Luhmann und Carl Schmitt, in: Koschorke, Albrecht/ Vismann, Cornelia (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin: Akademie Verlag, S. 175–197 (189). Ihre „theoretische Dignität“ finden solche Phänomene allerdings nicht im politischen System, sondern als anschlusslose Politikimitationen in der Ortlosigkeit der Umwelt des politischen Systems. Ein Beleg für die Stimmigkeit von Luhmanns Politik-Imitatsthese ist der Wunsch klassischer Terrorgruppen, in staatlicher Gefangenschaft nicht als gewöhnliche Kriminelle, sondern als Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention behandelt zu werden. Die terroristische Vereinigung beschreibt sich in der Regel selbst als Staat und imitiert Verfassungen, Gesetze, legislative Verfahren, exekutive Maßnahmen, das Recht zur Kriegsführung etc. Neben dem Terror müsste man mit Luhmann freilich auch alle Formen der „Subpolitik“ und „Life-Politics“ à la Ulrich Beck und Martin Albrow als unpolitisch disqualifizieren. Für Luhmann gibt es schlicht keine „Politik zwischen Mann und Frau, Herrschaft und Dienstboten, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Künstler und Auftraggeber“, wie dies z.B. Helmuth Plessner phänomenologisch aus den anthropologischen Grunddispositionen des Menschen abgeleitet hatte. Siehe Plessner, Helmuth, 1931: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V: Macht und menschliche Natur, Frankfurt a.M., 1981: Suhrkamp, S. 135–234 (194f.). In einer „dehumanisierten“ Theorie der Politik Luhmannscher Machart lassen sich stattdessen ausschließlich die Kommunikationen im Rahmen des Funktionssystems für kollektiv bindendes Entscheiden als politisch qualifizieren. Käme es zur Politik zwischen Mann und Frau oder Herrschaft und Dienstboten, dann hätte die Politik ihre von der funktionalen Differenzierung gezogenen Grenzen in Richtung einer Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft überschritten.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1992c: Die Beobachtung der Beobachter im politischen System. Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Wilke, Jürgen (Hrsg.), Öffentliche Meinung. Theorie, Methoden, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg i.Br. et al.: Alber, S. 77–86 (85). Vgl. hierzu auch Carl Schmitts gleich lautende Diagnose, die er aber als Zerrbild einer faktischen Entartung des konkurrenzdemokratischen Betriebs von seinen ideengeschichtlichen Ursprüngen gegen den Legitimationsanspruch des parlamentarischen politischen Systems wendet, in: Schmitt, Carl, 1923: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 7. Aufl., Berlin, 1991: Duncker & Humblot. Im Gegensatz dazu argumentiert Luhmann ja genau andersherum: Wenn die politische Realität ihre ideengeschichtlichen Leitideen abgehängt hat, dann sollte man die Ideen der Historisierung anheim geben und sich um neue Theorien bemühen, die die Faktizität des Gegenwärtigen besser erklären können. Eine Kritik der politischen Realität am Maßstab nicht eingelöster normativer Ideale zu vollziehen — ein Duktus, in dem sich bekanntlich die „konservative“ politische Theorie Schmitts mit der „progressiven“ politischen Theorie à la Habermas einig ist — wird von Luhmann, meines Erachtens völlig zurecht, als zu billige, zu bequeme Lösung abgelehnt. Neue politische Lagen erfordern auch neue politische Denkanstrengungen und nicht das beharrliche Recyclen des ewig gleichen Ideenvorrats. Vgl. zu den verblüffenden Parallelitäten im politischen Denken von Schmitt und Habermas auch Becker 1994, a.a.O.
Unpolitisch gemäß Luhmanns konstruktivistischer Definition der Politik: „Als politisch ist nur erkennbar und zurechenbar, was die Chancen für Regierung bzw. Opposition betrifft und modifiziert“. Siehe Luhmann 1989a, a.a.O., S. 24. Der klassische Dezisionismus nach Schmitt und Forsthoff sieht die Problematik genau umgekehrt. Danach ist das Politische an die Peripherie des gesellschaftlichen Selbstverständnisses abgedrängt worden und lässt einen kraftlosen Staat zurück, der „nicht mehr Subjekt, sondern nur noch Objekt des Weltgeschehens“ sein kann. Siehe Forsthoff 1933, a.a.O., S. 60.
Luhmann, Niklas, 1990c: Dabeisein und Dagegensein. Anregungen zu einem Nachruf auf die Bundesrepublik, in: Luhmann 1996, a.a.O., S. 156–159.
Dem klassischen Politikverständnis gilt die Öffentlichkeit als ein Raum der Erfahrung einer allen Politen gemeinsamen Wirklichkeit. Vgl. Arendt, Hannah, 1967: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, 1992: Piper, S. 49ff.
Luhmanns Theorie löst diesen gemeinsamen Wirklichkeitsraum auf in eine Dichotomie von Beobachtungsperspektiven. Die virtuelle Anwesenheit des allgemeinen Guten in der öffentlichen Debatte wird abgelöst durch die Differenzdeutung dessen, was das Publikum für das imaginierte allgemeine Gute halten könnte. Dem auch durch Öffentlichkeit konstituierten Polity-Rahmen schenkt Luhmann keine Beachtung. Vgl. zu einer Theorie der politischen Öffentlichkeit bei Luhmann: Marcinkowski, Frank, 2002: Politische Öffentlichkeit. Systemtheoretische Grundlagen und politikwissenschaftliche Konsequenzen, in: Hellmann/ Schmalz-Bruns (Hrsg.), a.a.O., S. 85–108.
Die Pazifizierung und De-Existenzialisierung der Freund-Feind-Dichotomie zu einer verzeitlichten politischen Gegnerschaft durch die Möglichkeit des Alternierens von Regierung und Opposition unterscheidet Luhmann deutlich von Schmitt, lässt aber gleichwohl die Traditionslinie des Denkens in binären Gegenbegriffen in der politischen Theorie von Schmitt zu Luhmann erkennen. Vgl. hierzu auch Beyme 1992b, a.a.O., S. 239: „Was bei Schmitt noch Ausnahmezustand schien, wurde bei Luhmann Normalzustand.“ In Carl Schmitts Welt konnte politische Gegnerschaft gerade nicht als Intrasystem-Problem begriffen werden, da mangels hinreichend stabiler demokratischer Institutionen und der sie tragenden Gesinnungen die Inkorporation des Gegners nicht gelingen wollte. Um Frieden zu schaffen musste der politische Gegner zum Feind erklärt und mit physischer Gewalt niedergeworfen werden. Der Schmittsche Code treibt also zur Selbstauflösung durch Vernichtung der als negativ bewerteten Seite. Ist der innere Feind besiegt, verliert der Staat seine politische Aura und betreibt im Wesentlichen Polizei statt Politik. Vgl. Schmitt, Carl, 1932: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 3. Aufl. der Ausgabe von 1963, Berlin: Duncker & Humblot, S. 10. In Luhmanns Erfahrungswelt, mit etablierten demokratischen Institutionen und stabilen demokratischen Gesinnungen, ist die Transformation politischer Gegnerschaft von existentiellem Kampf zum friedlichen Regierungswechsel dagegen möglich, sofern es gelingt, Regierung und Opposition in Verfahren einzubinden, die der einen Seite die Legitimität der Existenz der jeweils anderen Seite als Erfahrungswert zugänglich machen.
Die Annahme der prinzipiellen funktionalen Äquivalenz von pluralistischer Demokratie mit der „Einparteiendemokratie“ sozialistischen Typs war freilich schon im Kontext von Luhmanns altem Theoriedesign wenig plausibel: Die von ihm 1967 entworfene Soziologie des politischen Systems mit reziprokem Machtkreislauf beschreibt offenkundig die Sinnkomplexität demokratischer Strukturen, wie sie nur in Verfassungsstaaten nach westlichem Vorbild, und noch genauer: nur in den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten möglich sind. Ich komme später hierauf zurück.
Vgl. Beyme 1992b, a.a.O., S. 241 sowie Waschkuhn, Arno, 1994: Systemtheoretische Ansätze, in: Kriz/ Nohlen/ Schultze (Hrsg.), a.a.O., S. 463–469 (467).
So z.B. die Deutung bei Max Weber. Vgl. Weber 1921, a.a.O., S. 6f. Aber auch der ganz frühe Luhmann der verwaltungssoziologischen Schriften hat den Staat durchaus noch im Weberschen Sinne als anstaltsförmigen Betrieb begriffen (vgl. Kap. 4.3).
Luhmann, Niklas, 1983c: Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität, in: SozAuf 4, a.a.O., S. 104–116(112).
Luhmann, Niklas, 1991c: Soziologie des Risikos, Berlin/ New York: de Gruyter, S. 173.
Luhmann 1983c, a.a.O., S. 108. Aus diesem Grand müssen, wie in Kap. 5.3.1 bereits angeführt, in der Regel auch konservative Parteien zumindest in Wahlkampfzeiten ein expansives Politikverständnis zur Schau tragen, mindestens aber versprechen, die Daseinsvorsorge- und Versorgungsschraube nicht signifikant zurückzudrehen.
Vgl. nur das Phänomen des Aufstiegs der Liste Pim Fortuyn in den Niederlanden. Hier waren allerdings nicht zuvorderst Verteilungsfragen, sondern ein breiter Orientierungskonsens zur Nicht-Politisierung der Ausländerfrage unter den bis dato staatstragenden Volksparteien Auslöser für einen zumindest zeitweiligen Erdrutsch in der niederländischen Berufspolitik.
Ebd., S. 95. In dieser Formel expliziert Luhmann — alteuropäisch gesprochen — geradezu das Wesen des Wohlfahrtsstaates.
Und dies, wie man weiß, nicht nur von den klassischen Sozialhilfeempfängermilieus, in denen Anspruchshaltungen ohne eigene Leistung ‚vererbt‘ werden, sondern auch in der Mittelschicht mit Blick auf Kindergeld, Förderung des Wohneigentums, vermögenswirksamen Leistungen etc. sowie bei den Vermögenden hinsichtlich der Strategien zur Steuervermeidung.
Realtypisch für beiderlei Schicksale von Kommissionsergebnissen stehen a) die Gutachten der Hartz-Kommission zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit („Umsetzung“ in einer Weise, die den Protest des Namenspatrons auf sich gezogen hat) und b) die Gutachten der von Weizsäcker-Kommission zur Reform der Bundeswehr (Schublade).
Auch für dieses „Politikberatungsangebot“ gibt es Vorläufer. Im Prinzip ist Luhmanns Unterscheidung zwischen expansivem und restriktivem Politikverständnis eine Variation von Schelskys Dichotomie „Betreuung“ versus „Selbständigkeit“. Vgl. Schelsky, Helmut, 1976: Der selbständige und der betreute Mensch. Politische Schriften und Kommentare, Stuttgart: Seewald, S. 17.
Wobei das Problemfeld der negativen Externalitäten, das dem ganz frühen Luhmann noch als Begründung für politische Entscheidungsprogramme vor Augen stand, ausgeblendet wird.
Eine ähnliche normative Falle hat Brodbeck in der evolutionären Wirtschaftstheorie Hayeks entdeckt: „Woher kommt eine Störung der Naturordnung, wenn alle Ordnungen durch Evolution natürlich entstanden sind und auch das Denken sich so entwickelt hat? Ist der Sozialismus (oder Keynesianismus, (…) nur ‚evolutionär‘ entstanden, so ist die Kritik an ihm nur eine konstruktivistische Anmaßung von Wissen. Ist er nicht evolutionär entstanden, dann ist Hayeks Theorie der unbewussten, evolutionären Regelselektion falsch — aus diesem Zirkel gibt es keinen Ausweg.“ Siehe Brodbeck, Karl-Heinz, 2001: Die fragwürdigen Grundlagen des Neoliberalismus. Wirtschaftsordnung und Markt in Hayeks Theorie der Regelselektion, in: ZfP, 48. Jg., S. 49–71 (67). Ein Autor, der sich zum theoretischen Anwalt einer evolutionären Beschreibung von sozialen Prozessen der Selbstorganisation erhebt, gerät offenbar immer in die Mühlen der Paradoxie, wenn er das vermeintlich evolutionär Entstandene von anderem, nicht evolutionär Entstandenem trennt, und letzteres kritisiert. Hier stellen sich gleich drei kritische Fragen: 1. Woher kommt das überlegene Wissenskriterium, das es erlaubt, evolutionäre von nicht-evolutionären Prozessen, die als Abweichungen von einem gottgleichen Masterplan interpretiert werden müssten, zu unterscheiden? 2. Darf ein Evolutionstheoretiker überhaupt sozialen Wandel unterstellen, der nicht Produkt von Evolution ist? 3. Müsste sich ein Evolutionstheoretiker mit Kritik am Status quo und mit Beratungsangeboten jeder Art nicht gänzlich zurückhalten? Seine Kritik, seine Beratung und seine Prognose müssten doch selbst wieder als evolutionswidriger Eingriff in das Evolutionsgeschehen aufgefasst werden.
„Funktionsautonomie und Anspruch verzahnen sich ineinander, begründen sich wechselseitig, steigern sich im Bezug aufeinander und gehen dabei eine Symbiose ein, der gegenüber es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt.“ Siehe Luhmann, Niklas, 1987d: Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum, in: SozAuf 6, a.a.O., S. 125–141 (140). Diese Diagnose gilt für alle Funktionssysteme. Insofern müssten sie dann auch alle zur Selbstüberschreitung und Entropie übergehen. Meines Wissens stellt Luhmann aber nur für das politische System eine solche Diagnose, und nur hier scheint die Argumentation in den normativen Duktus eines gerade für Zeitdiagnosen typischen Therapeutentums umzuschlagen.
Vgl. Luhmann 1987a, a.a.O., S. 47. Allerdings setzt auch das Phänomen Thatcher neben einer historisch günstigen Gesamtkonstellation eine konkrete Institutionenordnung voraus, von der der Universalismus der politischen Systemtheorie Luhmanns keine Kenntnis nehmen will: im konkreten Fall eine unitarische Staatsordnung und ein Wahlsystem nach dem „the winner takes all“-Prinzip. Meines Erachtens ist eine solche charismatische Politikoption jenseits aller historisch günstigen Möglichkeiten bereits durch die staatliche Institutionenordnung zumindest in Deutschland unmöglich.
Kostede, Norbert, 1982: Luhmann im Wohlfahrtsstaat. Funktionalismus, politische Theorie und Politik, in: Das Argument, 32. Jg., S. 224–233 (228).
Vgl. Mirbach 1990, a.a.O., S. 112f. und Greven, Michael Th., 1982: Vom Wohlfahrtsstaat zum autoritären Staat der „Reinen“ Politik?, in: PVS, 23. Jg., S. 143–152 (150). Das Plädoyer für einen Verzicht auf wohlfahrtsstaatliche Integrationsleistungen muss sich Greven zufolge schon die Frage nach den funktionalen Äquivalenten gefallen lassen, die in der Lage wären den Übergang zu einem restriktiven Politikverständnis gewaltfrei abzupuffern. Möglicherweise wären gerade die wirtschaftlichen Kosten eines staatlichen Rückzugs sowohl aus der Daseinsvorsorge wirtschaftlich nicht integrierter Bevölkerungsteile oder auch aus Versuchen einer präventiven Umweltpolitik zur Dämpfung von Angstkommunikation höher, als die heutige ebenso parasitäre wie zugegebenermaßen ineffektive Verwendung des Geldes durch den Wohlfahrtsstaat.
Vgl. Windhoff-Héritier, Adrienne, 1994: Die Veränderung von Staatsaufgaben aus politikwissen-schaftlich-institutioneller Sicht, in: Grimm, Dieter (Hrsg.) unter Mitw. von Evelyn Hagenah, Staatsaufgaben, Baden-Baden: Nomos, S. 75–91 (79).
Unrealistisch natürlich auch deshalb, weil Luhmanns offenkundiges normatives Ideal des reinen Rechtsstaates ein relativ einfach strukturiertes gesellschaftliches Umfeld voraussetzte, das sich mit retrospektiver Ordnungswahrung und punktuellen Eingriffen im Modus von Konditionalprogrammen zufrieden gab. Vgl. Ritter 1979, a.a.O., S. 390. Diese Voraussetzungen existieren nicht mehr — wie ja gerade Luhmanns Theorie der polykontexturalen Gesellschaft in besonders radikaler Weise bestätigt.
Als vierte (Kontroll-)Gewalt im Staate zu dienen, gehört heute zur Hybris und Selbstbeschreibung nahezu aller parteiunabhängigen Massenmedien mit politischer Berichterstattung und Kommentaren. Vgl. zur Belagerungsthese Habermas, Jürgen, 1989: Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff von Öffentlichkeit, in: Merkur, 43. Jg., S. 465–477.
Wird diese Entlastungsmögliehkeit durch stetige Übermoralisierung und daraus folgende Skandalisierung der Politik überstrapaziert, stellt sich allerdings ein unerwünschtes Phänomen auf Seiten des Publikums ein, das heute allseits als „Politikverdrossenheit“ beklagt wird. Vgl. Münkler, Herfried, 1994: Die Moral der Politik. Politik, Politikwissenschaft und die sozio-moralische Dimension politischer Ordnungen, in: Leggewie (Hrsg.), a.a.O., S. 228–242.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1991d: Die Form ‚Person‘, in: SozAuf 6, a.a.O., S. 142–154 (insbes. 153f.).
Vgl. nur den hohen Stellenwert, den die physische Verfasstheit von politischen Führern für die Deckung des Machtmediums haben kann: Jelzin in Russland, Ecevit in der Türkei, aber auch ein kleiner Ohnmachtsanfall des amerikanischen Präsidenten Bush, der kurzzeitig tiefe Besorgnis über die Führungsfähigkeit der letzten Supermacht aufkommen ließ, mögen als Beispiele der jüngsten Geschichte ausreichen.
Die diesbezüglich eingängigsten Darstellungen finden sich in Luhmann 1981c, a.a.O., S. 166ff. sowie Luhmann 1986a, a.a.O., S. 125.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1988a: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 337f.
Vgl. Offe, Claus, 1975: Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 13ff.
Vgl. auch Luhmann 1991b, a.a.O., S. 11 ff. und die Darstellung in Luhmann, Niklas, 1993c: Politische Steuerungsfähigkeit eines Gemeinwesens, in: Göhner, Reinhard (Hrsg.), Die Gesellschaft für morgen, München/ Zürich: Piper, S. 50–65 (53f.). Luhmann vertritt diesbezüglich allerdings keine einheitliche Terminologie und gebraucht „Selbststeuerung“ und „Selbstorganisation“ gleichermaßen zur Bezeichnung desselben Sachverhalts.
Vgl. Beyme, Klaus von 1991a: Regierungslehre zwischen Handlungstheorie und Systemansatz, in: Hartwich, Hans-Hermann/ Wewer, Göttrik (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik III: Systemsteuerung und „Staatskunst“, Opladen: Leske + Budrich, S. 19–34 (30).
Vgl. Noetzel, Thomas/ Brodocz, André, 1996: Konstruktivistische Epistemologie und politische Steuerung, in: ZfP, 43. Jg., S. 49–66 (55).
Luhmann greift hier auf ein Konzept zurück, das der schwedische Organisationssoziologe Nils Brunsson zur Beschreibung jener Dissonanz entwickelt hat, die typischerweise in Organisationen zwischen dem von außen wahrnehmbaren faktischen Handeln und der Selbstbeschreibung dieses Handelns in der Organisation liegt. Vgl. Brunsson, Nils, 1985: The Irrational Organization. Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change, Chichester et al.: Wiley sowie ders., 1989: The Organization of Hypocrisy — Talk, Decisions, and Actions in Organizations, Chichester et al.: Wiley.
Vgl. Luhmann, Niklas, 1989b: Politische Steuerung: Ein Diskussionsbeitrag, in: PVS, 30. Jg., S. 4–9 (5)
Als kursorische Beispiele können die abrupte Vermehrung wirtschaftlich unproduktiver Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im letzten Amtsjahr der Regierung Kohl und — mangels hinreichender Haushaltsmittel — der Kommissions- und Personalaktivismus der Regierung Schröder im Wahljahr 2002 gelten.
Vgl. ebd., S. 26. Dass beim autopoietischen Luhmann die Zeitdimension in der Gesellschaftstheorie einen absoluten Primat über die Sachdimension und die Sozialdimension erhält, betont Kleger 1989, a.a.O., S. 383.
Vgl. zum Vorwurf eines technokratischen Konservatismus Habermas 1971a, a.a.O., S. 145, detailliert ab S. 239ff. und Münch, Richard, 1996: Risikopolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 44.
Vgl. Nahamowitz, Peter, 1988: Autopoiesis oder ökonomischer Staatsinterventionismus?, in: ZfRsoz, 9. Jg., S. 36–73 (40ff.).
Vgl. Glotz, Peter/ Schultze, Rainer-Olaf, 1995: Reformismus, in: Nohlen/ Schultze (Hrsg.), a.a.O., S. 526–532 (531).
Ebd., S. 10. Dass Luhmanns Theorie in diesem Sinne eine „Weltbildfunktion“ erfülle, ist seit Habermas‘ einschlägigem Diktum von 1985 geradezu ein Allgemeinplatz der ‚linken‘ Kritik an Luhmann. Vgl. Habermas, Jürgen, 1985: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, 4. Aufl., Frankfurt a.M., 1993: Suhrkamp, S. 443.
Vgl. Greven, Michael Th., 2001b: Anmerkungen zur Kritik eines funktionalistischen und finalistischen Politikbegriffs, in: Lietzmann (Hrsg.), a.a.O., S. 331–340 (333). Natürlich entspringt das mögliche Fellachentum der Luhmann-Welt vollständig anderen Ursachen als dasjenige der Weber-Welt: loose coupling divergierender Beobachterstandpunkte und daraus resultierende Lähmung durch Kontingenzerfahrung versus strict coupling einer vereinheitlichenden Bürokratie und daraus resultierender Lähmung durch Routinisierung.
Vgl. Köcher, Renate, 2000: Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus. Die Überzeugung der eigenen Machtlosigkeit stört die Leute nicht besonders, in: FAZ v. 16.8.00, S. 5.
Vgl. hierzu Luhmanns Vorwurf gegen eine neoklassizistische Wirtschaftstheorie in Luhmann, Niklas, 1995c: Interventionen in die Umwelt? Die Gesellschaft kann nur kommunizieren, in: de Haan, Gerhard (Hrsg.), Umweltbewußtsein und Massenmedien: Perspektiven ökologischer Kommunikation, Dresden/ Berlin: Akademie Verlag, S. 37–46 (38).
Hayek, Friedrich August von, 1971: Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen, 1991: Mohr, S. 455f.; kritisch zu dieser verkappten Kausalitätsvermutung: Brodbeck 2001, a.a.O., S. 60f.
Vgl. Lipp, Wolfgang, 1987: Autopoiesis biologisch, Autopoiesis soziologisch. Wohin führt Luhmanns Paradigmawechsel?, in: KZfSS, 39. Jg., S. 452–470 (453f.).
Vgl. Druwe, Ulrich, 1989: Rekonstruktion der „Theorie der Autopoiese“ als Gesellschafts- und Steuerungsmodell, in: Görlitz, Axel (Hrsg.), Politische Steuerung sozialer Systeme. Rechtspolitologische Texte Bd. 2, Pfaffenweiler: Centaurus, S. 35–58 (47).
Vgl. auch Beyme, Klaus von, 1991b: Ein Paradigmawechsel aus dem Geist der Naturwissenschaften: Die Theorien der Selbststeuerung von Systemen (Autopoiesis), in: Journal für Sozialforschung, 31. Jg., S. 3–24 (16).
Vgl. Druwe, Ulrich/ Görlitz, Axel, 1992: Politikfeldanalyse als mediale Steuerungsanalyse, in: Bußhoff (Hrsg.), a.a.O., S. 143–164 (151f.).
Münch, Richard, 1990: Symposium: Die Wirtschaft der Gesellschaft — ein autopoietisches System?, in: Soziologische Revue, 13. Jg., S. 381–388 (381).
Vgl. Haferkamp, Hans, 1987: Autopoietisches soziales System oder konstruktives soziales Handeln? Zur Ankunft der Handlungstheorie und zur Abweisung empirischer Forschung in Niklas Luhmanns Systemtheorie, in: Haferkamp/ Schmid (Hrsg.), a.a.O., S. 51–88 (58).
Vgl. Galtung, Johan, 1983: Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische und nipponische Wissenschaft, in: Leviathan, 11. Jg., S. 303–338.
Siehe z.B. Lange, Stefan/ Schimank, Uwe, 2001: A Political Sociology for Complex Societies: Niklas Luhmann, in: Nash, Kate/ Scott, Alan (eds.), The Blackwell Companion to Political Sociology, Oxford: Blackwell, S. 60–70.
Vgl. Münch, Richard, 1991: Modernisierung als Differenzierung? Empirische Anfragen an die Theorie der funktionalen Differenzierung, in: Glatzer, Wolfgang (Hrsg.), 25. Deutscher Soziologentag 1990. Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 375–377 (375).
Münch, Richard, 1982: Basale Soziologie: Soziologie der Politik, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 477f.
Vgl. Schwinn, Thomas, 1996: Zum Integrationsmodus moderner Ordnungen: Eine kritische Auseinandersetzung mit Richard Münch, in: Schweiz.Z.Soziol., 22. Jg., S. 253–283 (278).
Vgl. mit Blick auf andere Beispiele Bendel, Klaus, 1993: Funktionale Differenzierung und gesellschaftliche Rationalität. Zu Niklas Luhmanns Konzeption des Verhältnisses von Selbstreferenz und Koordination in modernen Gesellschaften, in: ZfS, 22. Jg., S. 261–278 (267f.). Sehr instruktiv ist in diesem Sinne auch Nassehis Explikation am Beispiel des Wissenschaftssystems: „Wie viele wissenschaftliche Aussagen auch immer durch Intuition zustande kommen, ausschließlich der Karriereplanung geschuldet oder gar käuflich sind, all dies kann nur funktionieren, wenn sich eine wissenschaftliche Aussage in die Autopoiesis wissenschaftlicher Kommunikation einreihen kann, um damit diese Autopoiesis fortzusetzen.“ Siehe Nassehi 1999, a.a.O., S. 16.
Wie Heidorn richtig bemerkt, vermengen sich in Luhmanns Analysen „häufig eine empirischanalytische und eine normativ-wertende Ebene und bilden ein schwer differenzierbares Konglomerat“. Siehe Heidorn 1982, a.a.O., S. 114.
Vgl. auch Waschkuhn 1994, a.a.O., S. 467 und vgl. Gotsch, Wilfried, 1984: Neokorporatismus in steuerungstheoretischer Perspektive, in: Glagow, Manfred (Hrsg.), Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, Bielefeld: AJZ, S. 54–88 (63f.).
Vgl. mit Bezug auf die Luhmannrezeption bei Mayntz und Scharpf: Schwinn, Thomas, 1995: Funktionale Differenzierung — wohin? Eine aktualisierte Bestandsaufnahme, in: Berl J.Soziol., 5. Jg., S. 25–39 (33).
Vgl. Braun, Dietmar, 1993: Zur Steuerbarkeit funktionaler Teilsysteme: Akteurtheoretische Sichtweisen funktionaler Differenzierung moderner Gesellschaften, in: Héritier (Hrsg.), a.a.O., S. 199–222 (217f.).
Vgl. Mayntz, Renate, 1988: Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: dies./ Rosewitz, Bernd/ Schimank, Uwe/ Stichweh, Rudolf, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt a.M./ New York: Campus, S. 11–44 (21) sowie Schimank 2001, a.a.O.
Vgl. Schimank, Uwe, 1985: Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung — Ein Diskussionsvorschlag, in: ZfS, 14. Jg., S. 421–434 (427ff.).
Vgl. Schimank, Uwe, 1992a: Determinanten sozialer Steuerung — akteurtheoretisch betrachtet. Ein Themenkatalog, in: Bußhoff (Hrsg.), a.a.O., S. 165–192 (174f.).
Vgl. Schimank, Uwe, 1992b: Spezifische Interessenkonsense trotz generellem Orientierungsdissens. Ein Integrationsmechanismus polyzentrischer Gesellschaften, in: Giegel, Hans-Joachim (Hrsg.), Kommunikation und Konsens in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 236–275 (258ff.).
Vgl. zur detaillierten Auseinandersetzung vor allem mit den erstgenannten Positionen Lange/ Braun 2000, a.a.O., S. 107ff.
Vgl. Willke, Helmut, 1992b: Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 183.
Vgl. ebd., S. 243ff. Die operative Zuordnung bezeichnet dann das Hauptbetätigungsfeld der Organisation: als Schule z.B. im Erziehungssystem. Darüber hinaus sind alle Organisationssysteme qua definitionem mindestens an Personen, Wirtschaft und Recht strukturell gekoppelt. Eine Einsicht, die Luhmann zwar schon recht früh selbst entwickelt, aber für eine Theorie politischer Steuerung lange Zeit nicht nutzbar gemacht hat. Vgl. zu Luhmanns organisationssoziologischen Überlegungen in der autopoietischen Phase vor allem Luhmann, Niklas, 1988c: Organisation, in: Küpper, Willi/ Ortmann, Günther (Hrsg.), Mikropolitik: Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 165–185 sowie meine Ausführungen in Kap. 6.1.1.
Willke, Helmut, 1989: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation, Weinheim/ München: Juventa, S. 129.
Vgl. Willke, Helmut, 1994a: Systemtheorie II: Interventionstheorie, Stuttgart/ Jena: Gustav Fischer, S. 215.
So die Quintessenz von Willkes Staatstheorie in: Willke, Helmut, 1997: Supervision des Staates, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Es werden also explizite Anleihen bei Habermas’ Diskurstheorie gemacht. Im Unterschied zu Habermas suchen die Willke‘schen Diskursteilnehmer aber keinen Konsens. Dies ist, sofern man die Autopoiesis- und Differenzierungsperspektive Luhmannscher Provenienz nicht gänzlich verlassen will, ausgeschlossen. Der einzige Konsens der Supervision ist, wie in Luhmanns alter Theorie der Legitimation durch Verfahren, derjenige über die Verfahrensregeln, also ein formaler Konsens. Inhaltlich wird der unaufhebbare Dissens zwischen den unterschiedlichen Beobachterstandpunkten der Funktionssystem-Repräsentanten gepflegt. Willkes Hoffnung besteht darin, dass auch die Dissenskommunikation Reflexionspotentiale auslöst, indem jedes Funktionssystem von den anderen über die blinden Flecke der eigenen Beobachtungs- und Operationskriterien informiert wird. Vgl. zur Vermählung von Habermas- und Luhmann-Anteilen in der „reflexiven Steuerungstheorie“ Teubner, Gunther/ Willke, Helmut, 1984: Kontext und Autonomie. Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, in: ZfRsoz, 6. Jg., S. 4–35 (29). Unklar bleibt in dieser Konzeption, wie Willke und Teubner einerseits Habermas’ ‚alteuropäischen’ Rekurs auf eine universelle Moral als Bedingung der Ausbildung einer „vernünftigen Identität“ der Gesellschaft überwinden, andererseits aber den appellativen Optimismus einer regelgeleiteten Verständigungsbereitschaft aufrechterhalten wollen.
Als Beispiele für diese „wissensbasierte Infrastruktur“ nennt Willke für Deutschland z.B. die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, Großforschungseinrichtungen des Bundes und der Länder, die Institute der „blauen Liste“ etc. Vgl. Willke 1992b, a.a.O., S. 262ff.
Insofern ist dieser Vorschlag ein alter Hut. Ein Lieblings-Topos der technokratischen Planungsdebatte der 1960er und 70er Jahre wird hier wieder aufgegriffen: Das politische System möge der überbordenden Komplexität seiner Umwelt genügend analytische Binnenkomplexität entgegensetzen und die Schranken der Planung wären so gut wie überwunden.
Vgl. Teubner, Gunther, 1982: Reflexives Recht. Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, in: ARSP, 69. Jg., S. 13–59 sowie Teubner/ Willke 1984, a.a.O.
Vgl. Willke, Helmut, 1998: Soziologische Aufklärung der Demokratietheorie, in: Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 13–34 (13). Demokratie in Willke‘scher Lesart läuft — in politikwissenschaftlicher Terminologie — auf die Ergänzung der bislang in föderalen politischen Ordnungen praktizierten vertikalen Subsidiarität (in Analogie zu den normativen Vorgaben der römisch-katholischen Soziallehre) durch das „Prinzip horizontaler Subsidiarität“ (gemäß der normativen Vorgaben, die laut Willke durch den Tatbestand der funktionalen Differenzierung geschaffen werden) hinaus. Vgl. zu Letzterem Willke 1997, a.a.O., S. 308.
Dies ist eine Weichenstellung, die gerade von Luhmann unter dem Gesichtspunkt der Selbstlegitimation des politischen Systems äußerst kritisch eingeschätzt wird: „Die Absicht, an der Möglichkeit gesellschaftlicher Steuerung festzuhalten, führt Willke dazu, den Begriff der Demokratie auf Verhandlungssysteme, ‚Kanzlerrunden‘ und Ähnliches zu beziehen. Damit reißt freilich jeder Kontakt zur Institution der politischen Wahl ab [Hervorhebung S.L.].“ Siehe PolGesell, a.a.O., S. 137, FN 72. Diese Engführung von Politik auf die Dimension des Problemlösens und die damit einhergehende Entkopplung des Politischen von Fragen der Legitimitätsgewinnung werden im folgenden Kap. 6 noch von eingehendem Interesse sein.
Willkes Überlegungen lassen sich ideengeschichtlich noch am ehesten mit den Konzepten des französischen Syndikalismus oder der souveränitätskritischen Pluralismustheorie Harold J. Laskis in Verbindung bringen. Allerdings nimmt Willke selbst keinen Bezug auf solche Autoren. Jenseits der Systemtheorie kommt heute die Idee der „assoziativen Demokratie“ solchen Vorstellungen am nächsten. Vgl. Hirst, Paul, 1994: Associative Democracy. New Forms of Economic and Social Governance, Cambridge: Polity Press sowie Cohen, Joshua/ Rogers, Joel, 1995: Secondary Associations and Democratic Governance, in: dies. (Hrsg.), Associations and Democracy, London: Verso, S. 7–98.
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Lange, S. (2003). Luhmann II: Radikaler Steuerungsskeptizismus. In: Niklas Luhmanns Theorie der Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80510-2_5
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