Zusammenfassung
Ludwig Rosenberg, DGB-Vorsitzender von 1962 bis 1969, hat sich gegen Ende eines langen Dienstes für die deutsche Gewerkschaftsbewegung bitter über das schlechte Ansehen seiner Berufsgruppe beklagt: „Funktionäre von Arbeitgeberverbänden und Industrie- und Handelskammern sind grundsätzlich vernünftiger als Funktionäre von Gewerkschaften. Das macht offenbar das Milieu. Funktionäre der Kirchen sind aufgrund allgemeiner Übereinkunft überhaupt keine. Funktionäre der Bauernverbände sind nur gelegentlich unvernünftig — im allgemeinen treten sie nur etwas zu massiv auf. Ganz schlimm sind eigentlich nur die Funktionäre der Arbeiter, Angestellten und Beamten. Sie sind grundsätzlich dumm, frech, unverantwortlich und bringen in regelmäßigen Abständen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Gefahr.“ (Rosenberg 1969: 94) Vielleicht war diese Beobachtung schon damals etwas übertrieben, aber sie drückte doch den Kern einer weit verbreiteten und nicht zuletzt von der Journaille gern genährte Zuschreibung aus: Gewerkschaftsfunktionäre repräsentieren eine Organisation mit rückwärtsgewandten Zielen, überlebten Strukturen und einem eher muffigen Verbandsleben. Ihre Hauptamtlichen sind „unverantwortlich“, weil sie nicht das Ganze, sondern bornierte Einzelinteressen im Blick haben. Sie agieren dabei „dumm“ und „frech“, weil sie sich nicht auf das treffliche Ringen um gute Argumente verstehen, sondern am liebsten mit dem Holzhammer ideologischer Verbohrtheit auf den Gegner einschlagen. Rosenberg musste die Verweigerung sozialer Anerkennung um so mehr treffen, als er sich selbst durch Statur und Erscheinung sehr bemühte, seinen Funktionärskollegen das Image von Ballonmützenagitatoren früherer Jahrzehnte zu nehmen. Die Zeiten haben sich geändert, und die Öffentlichkeit hat nicht mehr so sehr häufig Gelegenheit, sich über Funktionäre der Gewerkschaften aufzuregen, wenngleich der CDU-Politiker Friedrich Merz in bewährter Diktion am 5.4.2001 im Deutschlandfunk erklärte: „Wir wollen die Freiheit der Betriebe anstelle der Gängelung durch die Funktionäre der Gewerkschaften.“ Jetzt droht ihnen eine ganz andere Gefahr. Falls es den Gewerkschaften nicht gelingen sollte, mit dem gesellschaftlichen Wandel Schritt zu halten, „könnte die folgende kafkaeske Situation durchaus Wahrheit werden: der Gewerkschaftssekretär stellt eines Tages fest, dass die Arbeit, die er die ganze Zeit unauffällig und gewissenhaft in seinem kleinen Büro geleistet hat, zu nichts mehr nütze ist, da sich die Gesellschaft in der Zwischenzeit an ihm vorbei entwickelt hat.“ (Van Gyes/De Witte/Van der Hallen 2001: 98). Vielleicht erinnert dieser Eremit sich dann wehmütig an die Zeiten zurück, in denen er mit dem Etikett einer Skandalfigur behaftet war.
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Literatur
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Prott, J. (2003). Funktionäre in den Gewerkschaften. In: Schroeder, W., Weßels, B. (eds) Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80389-4_10
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