Zusammenfassung
Die Idee einer postmetaphysischen oder poetisierten Kultur von Richard Rorty wurde noch nie in Verbindung mit dem Werk von Theodor W. Adorno diskutiert. Im Allgemeinen ist eine Diskussion über die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Philosophen noch ein Desideratum. In diesem Kapitel klärt Schulenberg, ob Adornos Denken zur Etablierung einer poetisierten Kultur beigetragen hat. Dies impliziert auch die Frage, ob es möglich ist, Adorno als antifundamentalistischen Theoretiker zu bezeichnen. Die Analyse ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst diskutiert Schulenberg Adornos Kritik an der prima philosophia und dem traditionellen Begriff der philosophischen Wahrheit. Im zweiten Teil argumentiert Schulenberg, indem er Adornos Idee der ästhetischen Form sowie seine Vorstellung vom Wahrheitsgehalt des Kunstwerks als einen der wichtigsten Begriffe seines ästhetischen Denkens analysiert, dass Adorno die traditionelle Vorstellung von philosophischer Wahrheit nicht radikal ablehnt, sondern vielmehr eine rekonstruierte Version davon entwickelt. Die Verbindung, die er zwischen ästhetischer Form und Wahrheit herstellt, findet sich nicht in Rortys Denken. Folglich kompliziert Adornos Denken die Vorstellung einer antifundamentalistischen Erzählung von Fortschritt und Emanzipation.
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Literatur
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Anmerkungen
Anmerkungen
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1.
Marcel spricht zum Beispiel von „der Falschheit der sogenannten realistischen Kunst, die nicht so unwahr wäre, wenn wir nicht im Leben die Gewohnheit erworben hätten, dem, was wir fühlen, eine Ausdrucksform zu geben, die so sehr von der Realität selbst abweicht und die wir dennoch nach kurzer Zeit für die Realität selbst halten“ (2000: 235). Weiter unten im Text kritisiert er die realistische Literatur noch radikaler: „Und deshalb ist die Art von Literatur, die sich damit begnügt, ‚Dinge zu beschreiben‘, die ihnen nur ein elendes Abstraktum von Linien und Flächen gibt, in Wirklichkeit, obwohl sie sich realistisch nennt, am weitesten von der Realität entfernt und hat mehr als jede andere die Wirkung, uns zu betrüben und zu verarmen, da sie jede Kommunikation unseres gegenwärtigen Selbst sowohl mit der Vergangenheit, deren Wesen in den Dingen bewahrt ist, als auch mit der Zukunft, in der die Dinge uns dazu anregen, das Wesen der Vergangenheit ein zweites Mal zu genießen, abrupt unterbricht. Doch genau dieses Wesen ist es, das eine Kunst, die diesen Namen verdient, auszudrücken versuchen muss; dann zumindest, wenn sie scheitert, gibt es eine Lehre aus ihrer Ohnmacht (während aus den Erfolgen des Realismus nichts zu lernen ist), die Lehre, dass dieses Wesen zum Teil subjektiv und unmitteilbar ist“ (2000: 241–242).
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2.
Für eine aufschlussreiche Diskussion über Prousts Gebrauch von Metaphern (oder „metaphorische Transposition“) siehe das Kapitel „Die entzauberte Welt: Flaubert, Zola, Proust“ in Peter Bürger, Prosa der Moderne (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987), 275–300, insbesondere 289–300.
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3.
In „Erster Teil: Von den Vorurteilen der Philosophen“ in Jenseits von Gut und Böse greift Nietzsche die Metaphysik als fundamentalistisches Denken an. Die Parallelen zu Rortys Version des Pragmatismus sind offensichtlich: „[…] die Dinge von höchstem Wert müssen eine andere Herkunft aus sich selbst haben – sie können nicht von dieser vergänglichen, verführerischen, trügerischen, kleinen Welt, von diesem Durcheinander von Begierde und Illusion abgeleitet sein! Im Schoß des Seins vielmehr, im Unvergänglichen, im verborgenen Gott, in der ‚Sache an sich‘ – dort muss ihre Ursache liegen und nirgendwo anders!’ Diese Art des Urteilens bildet das typische Vorurteil, an dem Metaphysiker aller Zeiten erkannt werden können; diese Art der Bewertung steht im Hintergrund all ihrer logischen Verfahren; es ist aufgrund dieses ‚Glaubens‘, dass sie sich mit ihrem ‚Wissen‘ beschäftigen, mit etwas, das schließlich feierlich ‘die Wahrheit’ getauft wird“ (2003: 33–34). Für eine ausführliche Diskussion der Rorty’schen Idee einer literarischen oder poetisierten Kultur siehe das Kapitel „Richard Rorty’s Notion of a Poeticized Culture“ in Ulf Schulenberg, Romanticism and Pragmatism: Richard Rorty and the Idea of a Poeticized Culture (Basingstoke und New York: Palgrave Macmillan, 2015), 31–41.
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4.
In diesem Zusammenhang siehe Ulf Schulenberg, „Auf der Suche nach den finsteren und fensterlosen Hauptquartieren: Adorno in der Postmoderne,“ Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, hrsg. von Johannes Angermüller et al. (Hamburg: Argument, 2001), 209–221.
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5.
In diesem Zusammenhang siehe Andrew Bowie, „Adorno, Pragmatism, and Aesthetic Relativism,“ Revue internationale de philosophie, Vol. 227, No. 1 (2004): 25–45; und Tom Rockmore, „Is Marx a Pragmatist?,“ Pragmatism Today, Vol. 7, No. 2 (2016): 24–32.
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6.
Peter Bürgers Versuch, die Grenzen von Adornos moderner Ästhetiktheorie aufzuzeigen, ohne ihn zu den postmodernen Theoretikern avant la lettre zu zählen, verdient nach wie vor unsere Aufmerksamkeit. Bürger setzt das Argument fort, das er in Theorie der Avantgarde (1974) entwickelt hat, in Das Altern der Moderne: Schriften zur bildenden Kunst (Frankfurt am Main. Suhrkamp, 2001); siehe insbesondere die ersten beiden Essays: „Das Altern der Moderne“ (10–30) und „Der Anti-Avantgardismus in der Ästhetik Adornos“ (31–47).
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7.
Siehe Martin Jay, Marxismus und Totalität: Die Abenteuer eines Begriffs von Lukács bis Habermas (Berkeley: University of California Press, 1984). Siehe auch Michael Ryan, Marxismus und Dekonstruktion: Eine kritische Artikulation (Baltimore: The Johns Hopkins UP, 1982).
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8.
Für eine detaillierte Diskussion des Adorno’schen und Benjamin’schen Begriffs der Konstellation siehe Jamesons Spätmarxismus: Adorno, oder, Die Beharrlichkeit der Dialektik (New York: Verso, 1990), 49–58, und Susan Buck-Morss, Die Herkunft der negativen Dialektik: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und das Frankfurter Institut (New York: The Free Press, 1977), 90–95.
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9.
In diesem Zusammenhang siehe Peter Bürger, „Über den Essay: Ein Brief an Malte Fues“, Das Denken des Herrn: Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992), 7–14. Darüber hinaus siehe das interessante Kapitel „The Dialectic of the Scriptible: Barthes and Adorno“ in Steven Helmling, The Success and Failure of Fredric Jameson: Writing, the Sublime, and the Dialectic of Critique (Albany, NY: SUNY Press, 2001), 21–46, und Jan Philipp Reemtsma, „Der Traum von der Ich-Ferne: Adornos literarische Aufsätze“; Dialektik der Freiheit: Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, hrsg. Axel Honneth (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005), 318–362.
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10.
Für eine Diskussion von Adornos ästhetischer Theorie ist der folgende Band immer noch besonders wertvoll: Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke, Hrsg., Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos: Konstruktion der Moderne (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980). Siehe auch Albrecht Wellmer, The Persistence of Modernity (Malden, MA: Polity, 1991).
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11.
Siehe zum Beispiel Jamesons Postmodernismus, oder, Die kulturelle Logik des Spätkapitalismus, Die Samen der Zeit (New York: Columbia UP, 1994) und Die kulturelle Wende: Ausgewählte Schriften zur Postmoderne, 1983–1998 (New York: Verso, 1998). In diesem Zusammenhang siehe auch Perry Anderson, Die Ursprünge der Postmoderne (New York: Verso, 1998) und das Kapitel „Von der Konsumgesellschaft zur Postmoderne“ in Douglas Kellner, Kritische Theorie, Marxismus und Moderne (Baltimore: The Johns Hopkins UP, 1989), 146–175.
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12.
In diesem Zusammenhang siehe David Jenemann, Adorno in Amerika (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2007). Siehe auch Martin Jay, „Adorno in Amerika“, Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983), 354–387.
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13.
Für interessante Diskussionen über Adornos Idee des Wahrheitsgehalts des Kunstwerks siehe das Kapitel „Contradiction as Truth-Content: Adorno and Kant“ in Andrew Bowie, Adorno and the Ends of Philosophy (Malden, MA: Polity, 2013), 38–53; und Jameson, Late Marxism, 220–225.
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14.
In diesem Zusammenhang siehe Adorno, Metaphysik: Begriff und Probleme und mein Schlusswort. Siehe auch Max Horkheimer, „Materialismus und Metaphysik“ in Kritische Theorie: Ausgewählte Aufsätze, 10–46.
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15.
Für eine Diskussion von Adornos Metaphysik siehe Brian O’Connor, Adorno, 86–109; und das Kapitel „Materialismus und Metaphysik“ in Simon Jarvis, Adorno: Eine kritische Einführung (Malden, MA: Polity, 1998), 193–216. In diesem Zusammenhang siehe auch Alfred Schmidt, „Begriff des Materialismus bei Adorno,“ Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983), 14–34.
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16.
In einer berühmten Passage am Anfang der Negativen Dialektik entwickelt Adorno eine klare Opposition zwischen traditioneller Metaphysik und dem Interesse der zeitgenössischen Philosophie an Besonderheit, Nichtbegrifflichkeit und vergänglichen Zeichen: „Die Angelegenheiten von wahrem philosophischem Interesse zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte sind diejenigen, an denen Hegel, im Einklang mit der Tradition, sein Desinteresse ausdrückte. Sie sind Nichtbegrifflichkeit, Individualität und Besonderheit – Dinge, die seit Platon als vergänglich und unbedeutend diskutiert wurden und die Hegel als ‚faule Existenz‘ bezeichnete“ (2007: 8). In „Materialismus und Metaphysik“ behauptet Horkheimer, dass „[d]er Materialismus, im Gegensatz zum Idealismus, das Denken immer als das Denken bestimmter Menschen in einer bestimmten Zeitperiode versteht. Er stellt jeden Anspruch auf die Autonomie des Denkens in Frage“ (1999: 32). Bezüglich Adornos Verständnis von Besonderheit und Kontingenz siehe auch seine „Kurzen Kommentare zu Proust“, Noten zur Literatur, Bd. 1, übers. Shierry Weber Nicholsen (New York: Columbia UP, 1991), 174–184.
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Schulenberg, U. (2024). „Kunst hat soviel Chance wie die Form“: Theodor W. Adorno und die Idee einer poetisierten Kultur. In: Marxismus, Pragmatismus und Postmetaphysik. J.B. Metzler, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-031-52842-2_4
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