Einleitung

Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) hat sich die Bundesrepublik zu einem „Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung“ für über 7,7 Mio. Menschen mit amtlich anerkannten Schwerbehinderung (9,4 % der Gesamtbevölkerung) und ca. 2,7 Mio. Menschen mit leichter Behinderung (3,2 % der Gesamtbevölkerung) in Deutschland verpflichtet [4, 5, 28]. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation wird fast jede*r einmal kurz- oder längerfristig von einer individuellen Beeinträchtigung betroffen sein [31]. Unter Beeinträchtigungen werden dabei eingeschränkte Körperfunktionen und -strukturen verstanden [4, 5, 12]. Eine Behinderung liegt dagegen vor, wenn eine Beeinträchtigung durch umweltbedingte Barrieren verursacht wird und in einer eingeschränkten Teilhabe resultiert [4, 5, 12].

Trotz des zehnjährigen Bestehens der UN-BRK und des im Jahr 2016 verabschiedeten Bundesteilhabegesetzes (BTHG) mit stufenweisem in Kraft treten bis 2024 haben Menschen mit Behinderung nach wie vor einen erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung und sind diesbezüglich in verschiedener Hinsicht benachteiligt [1, 5, 17, 22, 23]. Bislang sind bspw. <5 % der Arztpraxen in Deutschland barrierefrei [5]. Außerdem haben Menschen mit Behinderung häufig einen schlechten Gesundheitszustand, ein erhöhtes Risiko für Begleit- und Folgeerkrankungen, einen hohen und frühen Pflegebedarf sowie folglich eine häufige Inanspruchnahme des Gesundheitswesens [5, 6, 32]. Barrieren im Gesundheitswesen und in der Gesundheitsversorgung sind z. B. physikalische (bauliche) Barrieren, unangemessene medizinische Hilfsmittel, finanzielle Einschränkungen, ein nicht wertschätzender Umgang mit Menschen mit Behinderung, ein Mangel an Wissen und Fähigkeiten des medizinischen Personals aber auch Barrieren in der Information und in der Kommunikation [9, 10, 18, 21,22,23, 25, 29]. Das Vorhandensein von Barrieren im Gesundheitswesen kann sich negativ auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auswirken, weshalb ein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitswesen ohne Barrieren elementar für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung ohne Diskriminierung ist [5, 22, 29]. Im zweiten Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-BRK wurde deshalb ein Handlungsschwerpunkt auf die „Bedarfsgerechte Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung und Pflege für Menschen mit Behinderung“ gelegt [7].

Um Aussagen über zukünftige Bedarfe in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung zu treffen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen und die Effektivität und Effizienz von Gesundheitsleistungen zu verbessern, ist es notwendig, Daten zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens zu erheben und auszuwerten [2]. Bislang liegen allerdings kaum Studien zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch Menschen mit Behinderung in Deutschland vor. Ebenso besteht Bedarf nach konkreten Daten und Zahlen zu den wahrgenommenen Barrieren im Gesundheitswesen von Menschen mit Behinderung [22].

Die repräsentative Studie „Gesundheit in Deutschland Aktuell (GEDA)“ aus dem Jahr 2014/2015 erfasst die Inanspruchnahme von Allgemein- bzw. Hausärzt*innen, Fachärzt*innen, psychologischen Fachärzt*innen, Physiotherapeut*innen, häuslichen Pflegediensten bzw. sozialen Hilfsdiensten, zahnmedizinischen Untersuchungen sowie stationären und ambulanten Krankenhausaufenthalten. Als Barrieren wurden die Nicht-Bezahlbarkeit von benötigten medizinischen, zahnärztlichen und psychologischen Untersuchungen bzw. Behandlungen und verordneten Medikamenten, sowie Untersuchungsverzögerungen aufgrund langer Wartezeiten auf einen Untersuchungstermin und der Entfernung zur Untersuchung bzw. Behandlung, herangezogen. Bislang wurden diese Angaben nicht für Menschen mit Behinderung ausgewertet. Im Fokus dieses Beitrags steht daher die Analyse

  1. 1.

    der Inanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitswesen und

  2. 2.

    der wahrgenommenen Barrieren im Gesundheitswesen bei Menschen mit im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung anhand der Daten des GEDA 2014/2015-EHIS-Surveys.

Erstmalig werden die selbstberichtete Inanspruchnahme und wahrgenommenen Barrieren im Gesundheitswesen bei Menschen mit Behinderung, differenziert nach dem GdB (GdB <50 vs. GdB ≥50), analysiert und in Vergleich zu jenen der Menschen ohne Behinderung gesetzt. Diese Unterscheidung ist notwendig, um zielgruppenadäquate Bedarfe im Gesundheitswesen und wahrgenommene Barrieren in der Gesundheitsversorgung ableiten zu können und folglich zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung beizutragen.

Material und Methoden

Beschreibung der Datenbasis

Die Datenbasis bildet der repräsentative Survey GEDA 2014/2015-EHIS. Im Rahmen der Befragungsstudie wurden bundesweit Daten zum Thema Gesundheit durch das Robert Koch-Institut erhoben [20]. Für die nationalen Auswertungen stehen die Daten der über 18-jährigen Wohnbevölkerung zur Verfügung [20]. In der Studiendurchführung der Jahre 2014/2015 wurden erstmalig zusätzlich Module des „European Health Interview Survey“ (EHIS) in den Fragebogen (online und Papierform) integriert [10]. Die Stichprobe umfasst 24.016 Personen [20]. Personen ohne Angabe zu ihrem Behinderungsstatus wurden ausgeschlossen, weshalb die Stichprobe letztendlich 23.481 Personen mit und ohne Behinderung umfasst, wovon 1295 bzw. 5,5 % einen GdB <50 und 2395 bzw. 10,2 % einen GdB ≥50 haben. Die Analysen umfassen zwischen 23.380 und 11.865 Fälle. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass bei den Variablen zur Nicht-Bezahlbarkeit von Untersuchungen bzw. Behandlungen und Medikamenten diejenigen, die keinen Bedarf angegeben hatten, nicht in den Analysen berücksichtigt wurden. Aufgrund der hohen Anzahl an fehlenden Angaben pro abhängige Variable wurde auf die Verwendung eines Missing-Filters über alle verwendeten Variablen verzichtet.

Wie der Stichprobenbeschreibung (Tab. 1) entnommen werden kann, befinden sich unter den Menschen ohne Behinderung etwas mehr Frauen, wohingegen bei den Menschen mit Behinderung der Anteil an Männern höher ausfällt. Außerdem weisen Menschen mit Behinderung in der Stichprobe häufiger ein höheres Alter auf, geben häufiger einen schlechten Gesundheitszustand und das Vorhandensein einer chronischen Erkrankung an als Menschen ohne Behinderung.

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung

Variablenbeschreibung

Die unabhängige Variable „Behinderungsstatus“ (1 = keine Behinderung, 2 = GdB <50, 3 = GdB ≥50) wurde herangezogen, um zwischen Menschen mit und ohne Behinderung sowie nach dem GdB vergleichen zu können. Als abhängige Variablen dienen für die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens der Besuch von Allgemein- bzw. Hausärzt*innen, Fachärzt*innen, Physiotherapeut*innen, psychologischen Fachärzt*innen, ambulante und stationäre Krankenhausaufenthalte, die Inanspruchnahme eines häuslichen Pflegedienstes bzw. sozialen Hilfsdienstes und einer zahnmedizinischen Untersuchung innerhalb eines Jahres. Die Variablen wurden binär zusammengefasst (0 = seltener als jährlich oder nie, 1 = innerhalb eines Jahres). Barrieren finanzieller Art wurden mit der Frage: „Kam es in den letzten 12 Monaten vor, dass Sie eine Untersuchung oder Behandlung benötigt hätten, Sie sich diese aber nicht leisten konnten?“ erhoben [20]. Die Subkategorien dieser Fragestellung umfassen ärztliche, zahnärztliche bzw. kieferorthopädische, psychologische Untersuchungen bzw. Behandlungen und verordnete Medikamente. Des Weiteren wurden Barrieren zu Untersuchungs- bzw. Behandlungsverzögerungen innerhalb der letzten 12 Monaten aufgrund von „zu langem Warten auf einen Termin“ und einer „zu weiten Entfernung oder Probleme dorthin zu gelangen“ ausgewertet. Das ursprüngliche Antwortformat dieser Variablen (1 = ja, 2 = nein, 3 = kein Bedarf) wurde dichotomisiert (0 = nein, 1 = ja) und Personen, die keinen Bedarf angegeben haben, von weiteren Analysen ausgeschlossen.

Analysestrategie

Die Datenanalyse erfolgte unter Verwendung einer Design- und Anpassungsgewichtung [20]. Es wurden univariate Häufigkeitstabellen sowie kreuztabellarische Auswertungen mit χ2-Signifikanzprüfung und multivariate Analysen in Form von binär-logistischen Regressionen adjustiert nach Alter, Geschlecht, allgemeinem Gesundheitszustand, Kreissiedlungstyp und chronischen Erkrankungen durchgeführt. Die Ergebnisse der binär-logistischen Regression berücksichtigen das Chancenverhältnis in Form der Odds Ratios (OR) unter Angabe des jeweiligen 95 %-Konfidenzintervalls (KI). Alle Analysen erfolgten mit dem Datenauswertungsprogramm SPSS (Version 25).

Ergebnisse

Tab. 2 zeigt die 12-Monats-Prävalenz der selbstberichteten Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch Menschen mit Behinderung (differenziert nach dem GdB) im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung. Menschen mit Behinderung geben häufiger an, Allgemein- bzw. Hausärzt*innen (GdB ≥50: 93,4 %, GdB <50: 90,7 %), Fachärzt*innen (GdB ≥50: 84,1 %, GdB <50: 77,1 %), psychologische Fachärzt*innen (GdB ≥50: 20,3 %, GdB <50: 18,1 %) und Physiotherapeut*innen (GdB ≥50: 35,1 %, GdB <50: 33,2 %) innerhalb eines Jahres zu besuchen sowie ambulant (GdB ≥50: 15,9 %, GdB <50: 12,7 %) und stationär (GdB ≥50: 36,9 %, GdB <50: 22,3 %) in einem Krankenhaus zu sein als Menschen ohne Behinderung. Häusliche Pflegedienste bzw. soziale Hilfsdienste werden am häufigsten durch Menschen mit Schwerbehinderungen (11,5 %) und nur selten durch Menschen mit leichter (1,8 %) oder keiner Behinderung (1,6 %) in Anspruch genommen. Bei der Inanspruchnahme von zahnmedizinischen Untersuchungen zeigen sich geringfügige aber dennoch signifikante Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Insgesamt wird für die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens ein behinderungsspezifischer Gradient nach dem GdB ersichtlich.

Tab. 2 12-Monats-Prävalenz der selbstberichteten Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch Menschen mit einem GdB <50, mit einem GdB ≥50 und keiner Behinderung (in %, n in Klammern, χ2-Signifikanzprüfung)

Wie in Tab. 3 dargestellt nehmen Menschen mit Behinderung außerdem häufiger Barrieren im Gesundheitswesen wahr als Menschen ohne Behinderung. Menschen mit Behinderung geben bspw. häufiger an, sich benötigte ärztliche (GdB ≥50: 6,1 %, GdB <50: 6,4 %), zahnärztliche (GdB ≥50: 10,2 %, GdB <50: 12,1 %), psychologische Untersuchungen bzw. Behandlungen (GdB ≥50: 4,2 %, GdB <50: 5,2 %) sowie verordnete Medikamente (GdB ≥50: 6,7 %, GdB <50: 6,7 %) innerhalb eines Jahres nicht leisten zu können als Menschen ohne Behinderung. Auch verzögern sich Untersuchungen aufgrund des Wartens auf einen Untersuchungstermin (GdB ≥50: 25,4 %, GdB <50: 33,0 %) oder einer zu großen Entfernung zur Untersuchung bzw. Behandlung (GdB ≥50: 7,3 %, GdB <50: 7,9 %) häufiger bei Menschen mit als bei Menschen ohne Behinderung. Insgesamt geben dabei Menschen mit einem GdB <50 etwas häufiger an Barrieren wahrzunehmen als Menschen mit einem GdB ≥50.

Tab. 3 12-Monats-Prävalenz der wahrgenommenen Barrieren des Gesundheitswesens durch Menschen mit einem GdB <50, mit einem GdB ≥50 und keiner Behinderung (in %, n in Klammern, χ2-Signifikanzprüfung)

Die Ergebnisse der binär-logistischen Regressionsanalysen zeigen (Tab. 4) analog zu den bivariaten Ergebnissen, dass Menschen mit Behinderung für alle Indikatoren der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens eine erhöhte Chance aufweisen, eine Gesundheitsversorgung innerhalb eines Jahres in Anspruch zu nehmen gegenüber Menschen ohne Behinderung. Menschen mit einem GdB ≥50 zeigen bspw. eine 1,51- bzw. 1,75-fach höhere Chance innerhalb eines Jahres einen/eine Allgemein- bzw. Hausarzt/-ärztin (95%-KI: 1,27–1,81, p < 0,001) und einen/eine Facharzt/-ärztin (95%-KI: 1,54–1,98, p < 0,001) zu konsultieren als Menschen ohne Behinderung. Bei Menschen mit einem GdB <50 ist die Chance um den Faktor 1,44 (95%-KI: 1,18–1,76, p < 0,001) bzw. 1,32 (95%-KI: 1,14–1,52, p < 0,001) gegenüber Menschen ohne Behinderung erhöht. Menschen mit Schwerbehinderung haben außerdem eine 4,55-fach höhere Chance (95%-KI: 3,72–5,56, p < 0,001) innerhalb eines Jahres einen häuslichen Pflegedienst bzw. sozialen Hilfsdienst in Anspruch zu nehmen als Menschen ohne Behinderung.

Tab. 4 Chancenverhältnis der selbstberichteten Inanspruchnahme und wahrgenommenen Barrieren des Gesundheitswesens bei Menschen mit einem GdB <50 und einem GdB ≥50 im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung (Odds Ratio, 95 %-Konfidenzintervall)

Unabhängig vom GdB weisen Menschen mit Behinderung eine höhere Chance auf, Barrieren im Gesundheitswesen wahrzunehmen als Menschen ohne Behinderung. Menschen mit Behinderung geben eine ca. 1,7-fach erhöhte Chance für Untersuchungsverzögerungen aufgrund einer zu weiten Entfernung oder Problemen zur Untersuchung bzw. Behandlung zu gelangen sowie bei der Nicht-Bezahlbarkeit von verordneten Medikamenten gegenüber Menschen ohne Behinderung an. Menschen mit einem GdB <50 berichten eine 1,31-fach höhere Chance (95%-KI: 1,14–1,50, p < 0,001) als Menschen ohne Behinderung, auf einen Untersuchungstermin zu warten. Gegenüber Menschen ohne Behinderung verfügen Menschen mit einem GdB ≥50 über eine 1,38-fach höhere Chance (95%-KI: 1,12–1,72, p = 0,003), sich eine ärztliche Untersuchung bzw. Behandlung nicht leisten zu können.

Diskussion

Ziel der Studie war es 1) die selbstberichtete Inanspruchnahme und 2) die wahrgenommenen Barrieren im Gesundheitswesen von Menschen mit Behinderung (GdB <50 vs. GdB ≥50) im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung mittels repräsentativer Daten für Deutschland zu untersuchen.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Menschen mit Behinderung unabhängig vom GdB häufiger innerhalb eines Jahres das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen als Menschen ohne Behinderung. Analog dazu geht aus den multivariaten Analysen hervor, dass ein Zusammenhang zwischen dem Behinderungsstatus und der selbstberichteten Inanspruchnahme von allgemeinmedizinischen, fachärztlichen, zahnmedizinischen, psychologischen und physiotherapeutischen Versorgungsleistungen sowie den stationären und ambulanten Krankenhausaufenthalten und der Nutzung von häuslichen Pflegediensten bzw. sozialen Hilfsdiensten besteht. Menschen mit einem GdB ≥50 weisen für alle Indikatoren der Inanspruchnahmen des Gesundheitswesens, außer für zahnmedizinische Untersuchungen, die höchsten Chancenverhältnisse auf.

Ähnliche Ergebnisse gehen aus den wenigen nationalen und aus internationalen Studien hervor [3, 8, 17, 24]. Im zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung wird bspw. mittels Daten der GEDA 2012/2013-Studie gezeigt, dass Menschen mit Beeinträchtigungen häufiger innerhalb eines Jahres Ärzt*innen konsultieren als Menschen ohne Beeinträchtigungen [5]. Dies wird auch durch internationale Forschungsergebnisse bestätigt und u. a. mit einem höheren (spezifischen) Versorgungsbedarf der Bevölkerungsgruppe begründet [16, 27]. Nationale Studien zur Inanspruchnahme von zahnmedizinischen Leistungen bei Menschen mit Behinderung bestehen kaum. Im internationalen Kontext zeigen Studien hierzu widersprüchliche Ergebnisse: in Brasilien [14] und Taiwan [15] wird die Inanspruchnahme von zahnmedizinischen Leistungen durch Menschen mit Behinderung im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung als geringer beschrieben, in Irland als deutlich höher eingestuft [16]. Die in den Ergebnissen dargelegte häufigere Inanspruchnahme von zahnmedizinischen Untersuchungen durch Menschen mit einem GdB <50 gegenüber Menschen mit einem GdB ≥50 könnte daraus resultieren, dass aufgrund der Schwere der Behinderung eine aufsuchende Behandlung häufiger nicht möglich ist [17]. Bezüglich der Inanspruchnahme von psychologischen Fachärzt*innen werden die aufgezeigten Ergebnisse durch nationale Studien bestätigt, welche sich allerdings nur auf Menschen mit geistiger Behinderung beziehen [8, 24]. Aus internationalen Studien wird ersichtlich, dass Menschen mit Behinderung häufiger eine psychologische Gesundheitsversorgung erhalten als Menschen ohne Behinderung [7, 26]. Dies könnte bspw. durch eine höhere psychische Krankheitslast und schlechtere psychische Gesundheit von Menschen mit Behinderung erklärt werden [19]. Keine vergleichbaren nationalen Studien bestehen zur Inanspruchnahme von Physiotherapeut*innen und häuslichen Pflegediensten bzw. sozialen Hilfsdiensten durch Menschen mit Behinderung. Aus internationalen Studien geht allerdings eine häufigere Nutzung von Physiotherapeut*innen durch Menschen mit Behinderung als durch Menschen ohne Behinderung hervor [7, 16]. Die häufigeren ambulanten und stationären Krankenhausaufenthalte von Menschen mit Behinderung gegenüber Menschen ohne Behinderung stimmen ebenfalls mit Ergebnisse von nationalen und internationalen Studien überein [3, 8]. Es muss betont werden, dass der aktuelle Forschungsstand zur Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung sehr eingeschränkt ist. Schülle kritisiert folglich, dass die Versorgungssituation von Menschen mit Behinderung bislang kaum bewertet werden kann, da es an wissenschaftlichen Erkenntnissen z. B. in Form von systematischen Reviews zu diesem Thema mangele [22]. Viele Studien beziehen sich lediglich auf eine spezifische Behinderungsart (i. d. R. Menschen mit geistiger Behinderung) und unterscheiden häufig nicht nach der Art, Ursache oder Schwere der Behinderung.

Der hohen Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch Menschen mit Behinderung steht entgegen, dass der Versorgungsbedarf dieser Bevölkerungsgruppe als nicht gedeckt beschrieben wird [1, 8, 10, 23]. Dies äußert sich u. a. darin, dass Menschen mit Behinderung häufiger als Menschen ohne Behinderung angeben, sich benötigte Untersuchungen bzw. Behandlungen sowie verordnete Medikamente nicht leisten zu können. Außerdem besteht spezifischer Bedarf an Gesundheitsförderungs- und Präventionsansätzen für die Bevölkerungsgruppe [13]. Die Allianz der deutschen Nichtregierungsorganisationen zur Behindertenrechtskonvention kritisiert, dass Menschen mit Behinderung durch nicht krankenkassenfinanzierte Leistungen in Form von z. B. Eigenanteilen, Zu- und Aufzahlungen besonders belastet werden und die Regelung zum Mildern von besonderen Härten (z. B. Chroniker-Richtlinie im SGB V) nur unzureichend greifen [1].

Die Ergebnisse der bi- und multivariaten Analysen weisen darauf hin, dass Menschen mit Behinderung häufiger Barrieren im Gesundheitswesen wahrnehmen als Menschen ohne Behinderung. Dies entspricht dem aktuellen Forschungsstand [1, 9, 21,22,23, 31]. Es besteht eine Assoziation zwischen dem Behinderungsstatus und dem Warten auf einen Untersuchungstermin, der Verzögerung von Untersuchungen aufgrund von zu weiter Entfernung bzw. Problemen dorthin zu gelangen und der Nicht-Bezahlbarkeit von ärztlichen Untersuchungen bzw. Behandlungen und verordneten Medikamenten. Bislang gibt es kaum quantitative Daten, die die aufgezeigten Ergebnisse untermauern. Aus der nationalen und der internationalen Literatur (häufig qualitative Studien) wird deutlich, dass Menschen mit Behinderung häufiger auf einen Untersuchungstermin warten [5, 10, 33], weite und z. T. problematische Wege zu Gesundheitsdienstleistern [17, 30] sowie Schwierigkeiten bei der Finanzierung von Untersuchungen bzw. Behandlungen und Medikamenten [1, 30] haben.

Stärken und Schwächen

Die vorliegende Studie hat erstmals die Inanspruchnahme und wahrgenommenen Barrieren des Gesundheitswesens bei Menschen mit Behinderung, differenziert nach dem GdB, im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung mittels repräsentativer Daten analysiert.

Bei der Betrachtung und Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass die Gruppe der Menschen mit Behinderung zwar in Privathaushalten lebt und dort befragt wurde – was auf ein hohes Ausmaß an Selbständigkeit rückschließen lässt – dass man aber von einer heterogenen Population aufgrund unterschiedlicher Behinderungsarten ausgehen muss. Der GEDA-Datensatz ermöglicht keine Subanalysen nach der Behinderungsart und -ursache. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass die Ergebnisse aufgrund eines überproportionalen Anteils von Menschen mit einer bestimmten Behinderungsart oder -ursache verzerrt sind. Detailliertere Subgruppenanalysen wären notwendig, um spezifische Bedarfe ableiten zu können, welche u. a. für die Planung von gesundheitsförderlichen oder präventiven Interventionen wichtig sind [6, 13]. Eine weitere Limitation ist, dass die Gesamtheit der Menschen mit Behinderung im GEDA 2014/2015-EHIS-Survey nur unvollständig abgebildet wird, da an einer Studienteilnahme nur Personen die in Privathaushalten wohnen eingeschlossen sind [20]. Dies schließt systematisch Personen aus, die in stationären Wohn- oder Pflegeeinrichtungen leben. Außerdem kann das Erhebungsformat (Selbstausfüllerfragebogen) die Teilnahme von Menschen mit Behinderung am Survey erschweren oder verhindern. Es liegen keine Informationen vor, dass der Fragebogen des GEDA 2014/2015-EHIS-Survey in leichter Sprache verfügbar ist oder mit Assistenz durchgeführt werden kann [20]. Verzerrungen der Studienergebnisse können daher aus falsch oder nicht verstandenen Fragen resultieren. Das Querschnittdesign von GEDA 2014/2015-EHIS lässt zudem keine Rückschlüsse auf Kausalität zu.

Herausforderungen für Forschung und Praxis

Die häufige Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch Menschen mit Behinderung verdeutlicht den Bedarf an der Verbesserung des Gesundheitswesens bei Zugang und Inanspruchnahme von Menschen mit Behinderung sowie im allgemeinen Sinne auch den Bedarf an zielgruppenspezifischen Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung der Bevölkerungsgruppe. Diese Maßnahmen können dazu beitragen, dass das Auftreten von Krankheiten und deren Verbreitung bei Menschen mit Behinderung reduziert werden [13]. Außerdem sollte die Sozialraumgestaltung und Teilhabe am Gesundheitswesen besser auf Menschen mit Behinderung angepasst werden [1, 5]. Um bspw. Schwierigkeiten in der Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen für Personen mit Mobilitätseinschränkungen abzubauen, ist die barrierefreie Ausgestaltung von Praxisräumen und von Krankenhäusern sowie dem Transport durch öffentliche Verkehrsmittel, insbesondere auch in ländlichen Regionen, notwendig. Dies ist bislang noch nicht in ausreichendem Maße der Fall [5]. Auch Rehabilitationseinrichtungen sind rechtlich verpflichtet umfassende Barrierefreiheit sicherzustellen (nicht zuletzt durch § 37 SGB IX, n. F. durch BTHG).

Derzeit ist noch nicht belegt, dass die durch das GKV-Modernisierungsgesetz im Jahr 2003 eingeführten Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen zu der erhofften „[…] Stärkung des Kostenbewusstseins der Versicherten und zu einem effizienten Umgang mit den vorhandenen Ressourcen führen […]“ [11]. Es sind weitere Studien notwendig, die untersuchen, ob diese Regelung zu einem medizinisch bedenklichen Verzicht auf Untersuchungen, Behandlungen oder Medikamente bei Menschen mit Behinderung führt und ob Menschen mit Behinderung aufgrund von Zu- und Hilfszahlungen benachteiligt werden.

Künftige Studien sind dazu aufgefordert neben dem GdB, auch die Behinderungsart und -ursache zu erheben. Dadurch kann die sehr diverse Gruppe der Menschen mit Behinderung differenziert nach Teilgruppen verglichen und zielgruppenadäquate Bedarfe und Barrieren in der Gesundheitsversorgung abgeleitet werden, was wiederum die Versorgung im Gesundheitswesen verbessern kann [13]. Für künftige Erhebungen sollte in Betrachtung gezogen werden, die Erhebungsinstrumente an die Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Behinderung anzupassen (bspw. durch die Bereitstellung des Erhebungsinstruments in Leichter Sprache), um eine gleichberechtigte Teilnahme zu ermöglichen und Verzerrungspotentiale zu reduzieren. Zudem sollte versucht werden, die Gesamtheit der Menschen mit Behinderung in Deutschland – im Sinne einer Gesundheitsberichterstattung bei Menschen mit Behinderung – zu erfassen und abzubilden. Zu Beginn wäre es daher bereits hilfreich, wenn in den GEDA-Surveys auch Personen, die in stationären Einrichtungen wohnen, berücksichtigt werden würden.

Fazit für die Praxis

  • Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen die Relevanz von Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs und der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens von Menschen mit Behinderung.

  • Die Erreichbarkeit von Einrichtungen des Gesundheitswesens sollte, insbesondere auch in ländlichen Regionen, ausgebaut und besser auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ausgerichtet werden.

  • Künftige Studien sollten untersuchen, ob Menschen mit Behinderung aufgrund von Zu- und Hilfszahlungen im Gesundheitswesen benachteiligt werden und ob diese zu medizinisch bedenklichen Verzichten von ärztlichen Untersuchungen bzw. Behandlungen oder verordneten Medikamenten führen.

  • Neben Menschen mit Behinderung, die in Privathaushalten leben, sind auch Mitmenschen in institutionellen Lebenswelten (wie z. B. in Einrichtungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe) künftig in Studien zur Gesundheitsversorgung und mittels zielgruppenadäquater Erhebungsinstrumente zu berücksichtigen.