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Corona-Virus als Stresstest

Kommentar von Prof. Dr. rer. oec. Axel C. Mühlbacher, Professur Gesundheitsökonomie und Medizinmanagement, Hochschule Neubrandenburg, und Prof. Dr. oec. publ. Peter Zweifel, Ordinarius an der Universität Zürich.

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Erstveröffentlichungsdatum: 30.03.2021

Zitationshinweis: Mühlbacher, A., Zweifel, P.: „Corona-Virus als Stresstest: Warum Evidenz über die Wirksamkeit von Maßnahmen notwendig, aber nicht hinreichend für politische Entscheidungen ist“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 44-46. http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2291

Plain-Text

>> Nach dem Ausbruch von SARS-CoV-2 (Corona-Virus) wurden zum Schutz der Bevölkerungsgesundheit und um eine Überforderung des Gesundheitswesens zu verhindern, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Mindestabstand zwischen Personen, Hygieneregeln, Maskenpflicht und andere Maßnahmen eingeführt. Diese Maßnahmen haben Einfluss auf das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben.

Langanhaltend hohe Zahlen zum Infektionsgeschehen resultieren in immer länger andauernden Maßnahmen. Politiker profilieren sich mit Stellungnahmen zugunsten weiterer Verschärfungen der Beschränkungen, Schließungen und Ausgangssperren. Die Effektivität dieser Maßnahmen wird in der Wissenschaft kritisch diskutiert, und das Verhältnis von Kosten zu Nutzen ist nicht transparent.

In diesem Beitrag geht es nicht um die Frage, ob ein spezifisches Spektrum von Maßnahmen Erfolg verspricht oder nicht. Das Ziel dieses Kommentars ist es vielmehr aufzuzeigen, dass eine Politik, die nicht den Präferenzen der Bürger entspricht, zum Scheitern verurteilt ist. Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung des Corona-Virus sind nur dann erfolgreich, wenn die Entscheidungen akzeptiert werden und die Politik mit der Einhaltung und Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung rechnen kann.

Wir alle versuchen bei unseren Entscheidungen die erwünschten und unerwünschten Effekte abzuwägen. Es gibt keinen Grund dafür, dass dies im Umgang mit den Gesundheitsrisiken der Pandemie anders sein sollte.

Der Stresstest für die Politik konkretisiert sich in der Abwägung der Effekte: Sind die Bürger bereit, zugunsten einer Eindämmung der Pandemie wirtschaftliche Verluste in Kauf zu nehmen, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Sind sie umgekehrt bereit, eine gewisse Übersterblichkeitsrate zu akzeptieren, um die Wirtschaft zu stabilisieren? Akzeptieren sie die Weitergabe personenbezogener Daten durch eine Corona-App, falls dadurch das Infektionsrisiko gesenkt werden kann? Wird der Entzug der individuellen Freiheitsrechte toleriert, um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen?
Delegation der Entscheidungsbefugnisse
Im Dezember unterstützten laut dem ZDF-Politbarometer noch 83% der Befragten die Verlängerung der Maßnahmen. Zudem wurden nächtliche Ausgangssperren in Stadt- und Landkreisen mit hohen Infektionszahlen durch fast ¾ der Befragten toleriert. Warum so hohe Zustimmungswerte? Anzunehmen ist hier, dass der Glaube an den Informationsvorsprung und die Kompetenz von Politikern und Behörden in weiten Teilen der Bevölkerung tief verankert ist, und daher große Bereitschaft besteht, Entscheidungsbefugnisse abzugeben. Politiker ziehen Entscheidungen an sich, mit dem Argument, dass sichtbar werdende Informationsasymmetrien durchaus Zweifel an der Entscheidungskompetenz der Bürger aufkommen lassen. Inwiefern diese Argumentation auch für das Parlament greift, steht auf einem anderen Blatt.

Hinzu kommt, dass in Krisenzeiten immer wieder das Argument bemüht wird, dass kollektive Bedürfnisse in dieser Krisensituation Vorrang gegenüber individuellen Zielen hätten und schnelles Handeln erforderlich sei. Damit wird kollektiven Zielen ein klarer Vorrang gegenüber individuellen Zielen eingeräumt. Unklar bleibt, über welchen Zeitraum diese Argumentation Gültigkeit haben soll. Im Ergebnis werden damit die Entscheidungsbefugnisse an politische oder regulatorische Entscheidungsträger delegiert.

Auch wenn die Entscheidungsträger durch Wahlen oder Fachwissen legitimiert sind, bleibt die Frage offen, inwieweit die betroffenen Bürger die getroffenen Maßnahmen unterstützen, und inwieweit sie bereit sind, wirtschaftliche und/oder gesundheitliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Denn es sind die Bürger, welche in ihrem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben betroffen sind. Die Komplexität besteht auch darin, dass diese Opfer (entgegen der gängigen Sprachregelung) die Gesundheit nicht garantieren können, sondern nur die Wahrscheinlichkeit senken, von diesem bestimmten Virus infiziert zu werden, möglicherweise ein Krankenhaus aufsuchen zu müssen und vielleicht zu sterben.
Subjektive Werturteile versus Bevölkerungspräferenzen
Trotz einer hohen Unsicherheit über die Effekte von Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung des Corona-Virus müssen politische Entscheidungsträger handeln – immer auf Basis der gerade eben verfügbaren Evidenz. Hinzu kommt: Dabei müssen sie immer Kompromisse eingehen. Eine maximale Kontrolle des Gesundheitsrisikos würde an sich verlangen, dass der öffentliche Verkehr stillgelegt wird, weil sich dort viele Menschen auf engem Raum treffen. Dies fordert zum Beispiel die Initiative „Zero Covid“ (https://zero-covid.org). Doch dann können viele im Gesundheitswesen Beschäftigte ihren Arbeitsplatz nicht mehr erreichen. Ebenso wäre wohl die vollständige Isolierung der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen angezeigt, allerdings mit der Folge, dass ihre psychische Gesundheit (und oft auch diejenige ihrer Angehörigen) leiden würde. Nun fordern Wissenschaftler unter dem verwechselnd ähnlichen Begriff „No Covid“ eine Inzidenz unter zehn und wollen dort, wo dies gelingt, grüne Zonen mit mehr Freiheiten erlauben. Doch, ob Zero oder Null: Es kommt zwingend zu einer Abwägung von Nutzen und (nicht nur wirtschaftlichen) Kosten, die zurzeit allerdings auf Basis von Werturteilen getroffen wird, ohne diese transparent zu machen.

Bei solch grundlegenden, die bürgerlichen und persönlichen Freiheiten drastisch einschränkenden Strategien muss offen diskutiert werden, ob die Entscheidungsträger als Sachwalter bei dieser Abwägung die Präferenzen der Bürger bestmöglich berücksichtigen. Anders gefragt: Steht es politischen Entscheidungsträgern frei, bei der Vertretung der betroffenen Bevölkerung den eigenen subjektiven Präferenzen zu folgen? Denn: Ob durch Wahlen oder Fachwissen legitimiert, sind es doch stets rein subjektive Werturteile Einzelner, die über die Kompromisse zwischen öffentlicher Gesundheit, Bürgerrechten und Wirtschaft entscheiden.

Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage kann man davon ausgehen, dass die Akzeptanz aller politischen Entscheidungen wesentlich davon abhängt, ob die betroffenen Bürger die Abwägung der Vor- und Nachteile verstehen und unterstützen.
Akzeptanz und Unzufriedenheit mit
politischen Entscheidungen
Die Akzeptanz politischer Entscheidungen ist maßgeblich durch die individuelle Abwägung von Vor- und Nachteilen durch die Betroffenen bestimmt. Werden die in der Bevölkerung vorherrschenden Präferenzen nicht berücksichtigt oder sind die den politischen Abwägungsprozessen zugrundeliegenden Werturteile nicht transparent, ist damit zu rechnen, dass es zu Unzufriedenheit in der Bevölkerung kommt.

In den meisten Demokratien kann sich diese Unzufriedenheit erst bei den nächsten Wahlen Luft verschaffen, wobei fast immer unklar bleibt, warum genau Abgeordnete oder Parteien Stimmen verlieren. Sie werden ja nicht wegen einer einzigen Entscheidung, sondern wegen ihrer Entscheidungen auf mehreren Gebieten (Gesundheit, Umwelt, Infrastruktur, innere Sicherheit usw.) abgewählt oder bestätigt. Gerade die Erfahrungen in der letzten Zeit – zum Beispiel die Ausschreitungen in den Niederlanden im Januar – zeigen auch, dass diese Unzufriedenheit zu gewaltsamen Protesten führen kann.

Diese Überlegungen laufen auf die Hypothese hinaus, dass politische Entscheidungen, welche den Präferenzen der Bürger widersprechen, letztlich zum Scheitern verurteilt sind. In der letzten Konsequenz werden mangelhafte Entscheidungen oder die Intransparenz über die Werturteile auch zur Gefahr für die Demokratie selbst.
Methoden und zukünftige Maßnahmen
Für diese und kommende Pandemien besteht der Bedarf, Instrumente und Methoden zu entwickeln, um die Präferenzen der Bevölkerung zu analysieren und unterstützende Entscheidungsinstrumente zu entwickeln. Es müssen Wege gefunden werden, um die Bevölkerungspräferenzen auch in die politischen Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen.

Das Gute dabei ist: Es gibt sie bereits! Hier anzuwendende Methoden der Präferenzmessung sind in den letzten Jahren durch unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen entwickelt und verfeinert worden. Diese Verfahren lassen sich ohne weiteres auf das Gesundheitswesen bzw. die Gesundheitspolitik übertragen. Eine weiterführende Darstellung einer Studie: http://www.coronapreferences.info/.

Auch können nicht-pharmazeutische Maßnahmen der Corona-Pandemie in ein Entscheidungsmodell übertragen werden. In der Abbildung 1 sind die wichtigsten Eigenschaften eines Lockdowns dargestellt, welche den Nutzen, die Kosten und Risiken von politischen Interventionen beschreiben.

Für die Darstellung potenziell denkbarer Alternativen, werden die Ausprägungen der einzelnen Maßnahmen im Verlauf des Experiments variiert, um herauszufinden, welche Attribute für die Befragten wichtig und welche unwichtig sind. Durch die Wahlentscheidungen über sich ständig verändernde Alternativen kann die Struktur der Abwägungsprozesse analysiert und somit die Präferenzen dokumentiert werden.  Ein Ansteckungsrisiko von 15% (vgl. die blauen Punkte im Bild „Ansteckungsrisiko“) kann für manche nicht genügen, um eine Alternative mit einem persönlichen Einkommensverlust von 10% zu wählen – ein erster Hinweis, dass dieser Person die Erhaltung ihres Einkommens von relativ großer Bedeutung ist.

Bleibt dieselbe Person bei ihrer Entscheidung gegen eine Alternative, bei der das Ansteckungsrisiko auf 20% erhöht, der Einkommensverlust dagegen auf 5% reduziert wurde, so ist die Einkommenserhaltung für sie offenbar besonders wichtig. Ein anderes Beispiel ist die Weitergabe von Gesundheitsdaten: Jemand mag bereits eine Alternative mit Weitergabe ablehnen, wenn die Übersterblichkeit drei Prozentpunkte beträgt (also 0,90% statt 0,87% der Bevölkerung).  Bleibt diese Person bei ihrer Ablehnung einer Alternative mit nur gerade einem Prozentpunkt Übersterblichkeit also 0,88% statt 0,87%), dann hat der Datenschutz in ihrer Präferenzstruktur ein sehr hohes Gewicht.

Auf diese Weise lassen sich mit ökonometrischen Methoden aus den Wahlhandlungen die Bevölkerungspräferenzen ermitteln. Auch die Heterogenität unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen kann in Bezug auf den Umgang mit den nicht-pharmazeutischen Maßnahmen analysiert und dokumentiert werden. Informationen zu Präferenzstudien: http://www.coronapreferences.info/.

Regierungen haben mit diesen Daten die Chance, ihre Maßnahmen mit den Präferenzen ihrer Wähler abzustimmen und so deren Akzeptanz zu verbessern. Zudem besteht die Möglichkeit mit Hilfe von Wahlexperimenten die Zusammenhänge der Abwägungsprozesse zu kommunizieren. Ein Schritt zu einer informierten Debatte und die Chance eine Transparenz über Werturteile herzustellen.
Verbesserungspotenzial
Die gegenwärtige Pandemie ist nicht nur ein Stresstest für das Gesundheitssystem, sondern auch für die politischen Entscheidungsprozesse. Unbestritten ist, dass nicht-pharmazeutische Maßnahmen die Mitwirkung der Bevölkerung erfordern. Ohne die Berücksichtigung der Bevölkerungspräferenzen ist dies jedoch kaum nachhaltig zu schaffen. Zur Bedeutung dieser These zeigt nebenstehende Box ein praktisches Beispiel in der Schweiz. Hier wird deutlich, dass politische Entscheidungen scheitern können, wenn den Präferenzen der Bürger nicht entsprochen wird.

Es darf überdies daran erinnert werden, dass die Wohlfahrt des Landes davon abhängt, dass jedermann sein persönliches Nutzen-Kosten-Verhältnis (bestmöglich) erreichen kann. Die Politik ist dazu da, dies zu ermöglichen; unter der alleinigen Bedingung, dass dieses Bestreben Dritten keinen Schaden zufügen darf. Das heißt: Allfällig nötige Einschränkungen sind so zu gestalten, dass sie den Bürgerpräferenzen soweit wie möglich entsprechen.

Aber auch dann gibt es leider keine Erfolgsgarantie für die politischen Entscheidungsträger. Sie handeln stets unter unvollständiger Information, die zudem von Experten stammt, welche auch ihre eigenen Ziele (Prestige in der Fachwelt, Aufmerksamkeit in den Medien, Karrierechancen) verfolgen. Ein Misserfolg von Maßnahmen darf deshalb nicht unbesehen den verantwortlichen Politikern und Behörden angelastet werden. Umgekehrt kann jedoch die Erfassung der Bürgerpräferenzen dazu beitragen, dass solche Misserfolge weniger häufig auftreten.

Zusammenfassend gilt: Es geht nicht darum, die eine oder andere politische Entscheidung einzufordern; es geht vielmehr darum, Entscheidungsprozesse einzufordern, die eine bürgerorientierte Politik ermöglichen. Die Nachvollziehbarkeit der Werturteile ist Bestandteil demokratischer Prozesse und hat Einfluss auf die Zufriedenheit der Betroffenen. <<

Schweizer Erfahrungen einer direkten Demokratie

Das Scheitern bürgerferner Entscheidungen wird durch eine Erfahrung aus der Schweiz bestätigt, einem Land mit direktdemokratischen Institutionen, welche eine Stellungnahme zu einzelnen Gesetzesvorlagen erlauben. Das Beispiel betrifft allerdings die Gesundheitsversorgung und nicht ein bestimmtes Gesundheitsrisiko im Zusammenhang mit einer Pandemie. Ein im Jahre 2003 durchgeführtes Wahlexperiment (vom hier dargestellten Typ) befasste sich mit den Bürgerpräferenzen in Bezug auf Aspekte der sog. Integrierten Versorgung (IV, engl. Managed Care). Durch die Einbindung der Leistungserbringer in ein Netzwerk verspricht die IV eine Reduktion der Gesundheitsausgaben, die sich im Zuge des Wettbewerbs in niedrigeren Beiträgen der Krankenversicherung niederschlägt. Der Preis dafür ist eine mehr oder weniger weitgehende Einschränkung der freien Arztwahl.  Das Wahl-experiment zeigte allerdings, dass die „harte“ Variante, bei welcher der Krankenversicherer die Ärzteliste allein auf Grund von Kostenkriterien zusammenstellen würde, mit bis zu 38 Prozent des damaligen landesweiten Durchschnittsbeitrags kompensiert werden müsste.

Allerdings nahmen die schweizerischen Parlamentarier dieses Forschungsergebnis nicht zur Kenntnis. Im Bestreben, das öffentliche Budget von den steigenden Gesundheitsausgaben zu entlasten, verabschiedeten sie im Jahre 2011 mit großer Mehrheit ein Gesetz, das beabsichtigte, IV zum Standard in der sozialen Krankenversicherung zu machen; wer an der freien Arztwahl festhalten wollte, musste einen erhöhten Beitrag in Kauf nehmen. Umgekehrt sah das Gesetz aber keine Kompensation (sei es durch niedrigere Versicherungsbeiträge, sei es durch eine Senkung der Steuern) vor. Prompt kamen die 50.000 notwendigen Unterschriften für ein Referendum zusammen, und im Juni 2012 wurde es mit 76 Prozent der Stimmen angenommen. Das Scheitern der Gesetzesvorlage wäre abzusehen gewesen, wenn sie die zuvor erhobenen Bürgerpräferenzen berücksichtigt und eine Kompensation für die Einschränkung der freien Arztwahl enthalten hätte.

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