top

„Von der Symptomanalyse zur sinnstiftenden Care-Navigation“

„Das Symptom, das einen Nutzer dazu veranlasst hat, zu einem Arzt zu gehen oder die Ada-App zu nutzen, bestimmt alleine noch nicht, wie dringend medizinische Hilfe benötigt wird.“ Dieser Satz aus dem Interview mit Dr. Andreas Gilsdorf ist gerade in Zeiten von Corona hochaktuell: Meist werden Husten und Schnupfen auf einen grippalen Infekt hindeuten, aber eben nur meist. Genaueres kann nach einer weiterführenden Anamnese ein guter Arzt sagen, aber – falls dieser wie in einigen Ländern dieser Welt nicht so einfach verfügbar ist – eben auch eine App wie Ada Health, mit der – so Gilsdorf – „eine Art Care-Triage eingeführt wird, auf Basis eines Wahrscheinlichkeitsgrades sowie der Art und Stärke der Ausprägung der berichteten Symptome“.

Mehr lesen
Erstveröffentlichungsdatum: 01.02.2021

Zitationshinweis: Gilsdorf, A., Stegmaier, P.: „Von der Erstdiagnose zur sinnstiftenden Care-Navigation“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (01/21), S. 26-31; http://doi.org/10.24945/MVF.01.21.1866-0533.2274

Plain-Text

>> Herr Dr. Gilsdorf, anlässlich eines Vortrags beim DKVF 2019 führte Ada-Gründer Dr. Martin Hirsch aus, die Diagnose-App Ada zwar nicht besser als ein guter Arzt sei, aber besser als ein schlechter. Wann wird denn Ada besser als ein guter Arzt?
Das kann man so nicht sagen. Fest steht jedoch, dass Ada ganz zwangsläufig immer besser wird. Der-
artigen KI-gestützten Instrumenten ist es immanent, dass sie mit jeder Anwendung und mit jedem Input neues Wissen generieren, das relativ gut mit dem bereits vorhandenen ergänzt werden kann. Dazu kommt, dass Systeme wie unseres – egal, wie viel neues Wissen neu verfügbar sein mag – das bereits Gelernte nicht vergisst, während jeder Mensch – und so eben auch jeder Arzt – schlichtweg altes Wissen verdrängt, vergisst oder – wenn es denn einmal gebraucht wird – nicht mehr aufrufen kann.

Was schlichtweg an den Begrenzungen des humanen Gehirns liegt.
Was etwas ganz Normales ist. Daher sollten Menschen und so auch Ärzte derartige unterstützende Systeme aktiv nutzen, wenn es sie denn schon gibt. Es liegt auf der Hand, dass gerade bei seltenen oder gar sehr seltenen Erkrankungen, die Ärzten gar nicht oder vielleicht einmal in ihrem Arbeitsleben begegnen, KI-gestützte Systeme wie unseres besser sein können. Das ist jedoch eine bislang wenig durch Evidenz gestützte Annahme, weil – ähnlich wie bei einem praktisch tätigen Arzt – auch unser System bisher mit solchen Fällen zu selten konfrontiert worden ist.

Womit naturgemäß ein Bias besteht.
Nicht nur ein Bias, sondern auch ein grundlegender Unterschied. Ein erfahrener Arzt wird mit einer guten Blickdiagnose und vielleicht auch mit einem richtigen Bauchgefühl sehr schnell auf ein Ergebnis kommen, das zumindest in die richtige Richtung deutet. Bei der Art von Anamnese über sehr gut strukturierte Fragen hat jedoch wiederum Ada Vorteile, weil hier nicht nur das Wissen Tausender Experten hinterlegt ist, sondern dieses auch ganz speziell aufgearbeitet wird. Adas Symptomanalysen können darum auch für gute Ärzte eine wertvolle Unterstützung sein, weil sich Arzt und Künstliche Intelligenz sehr gut ergänzen können.

Dennoch gibt es letztendlich den grundlegenden Unterschied zwischen der – sagen wir eminenzbasierten – Anamnese über die Erfahrungswerte und das Wissen eines guten Arztes und dem evidenzbasierten Standard über Ada. Wie kommt man zu einer Synthese beider Welten?
Ursprünglich war Ada als reines Diagnoseunterstützungstool angedacht, um die ärztliche Diagnose zu bereichern. Zum Beispiel, in dem ein Patient nach der Anmeldung von der Praxismanagerin ein – natürlich desinfiziertes – Smart-Pad bekommt, auf dem Ada installiert ist. Dann kann er bereits im Wartezimmer die Fragen beantworten, was eigentlich jeder Patient intuitiv und auch ohne lange Anleitung sehr gut hinbekommt. Wenn er damit fertig wird, drückt er auf Senden und das Ergebnis liegt dann als Anamnese-Grundlage nicht nur dem behandelnden Arzt vor, sondern ist – wenn er beidem zustimmt – auch in seiner elektronischen Patientenakte gesichert.

Sie sagten eben: ursprünglich. Davon hat sich Ada entfernt?
Das ist sicher ein guter Ansatz, nur hat sich Ada von der ärztlichen Diagnoseunterstützung wegentwickelt und richtet sich seit 2016 als App direkt an Patienten. Doch gibt es am Ende eines Assessments auch die Möglichkeit für die Patienten das Ergebnis ihren Ärzten als PDF zukommen zu lassen.

Statt eines Arzt- nun ein Patientenbrief?
Das ist eine vom Patienten über Ada erfasste, sehr strukturierte und mit Wahrscheinlichkeitsaussagen versehene Anamnese-Erfassung. Zusätzlich soll dem Nutzer jedoch nicht nur die reine Anamnese-Information an die Hand gegeben werden, sondern auch die Beschreibung seiner ganz individuellen Care-Journey oder auch Patienten-Reise – mit all dem, welche nächsten Schritte für ihn notwendig sind, wohin er sich wenden kann –, aber auch, wie schnell er aktiv werden sollte. Es wäre gut, das dann noch mit der Information verbinden zu können, wo welcher Arzt Termine frei hat. Wenn dann noch dem Arzt über die ihm schon vorliegende Anamnese-Information Zeit gespart wird und dieser vielleicht sogar für die richtige Diagnosestellung auf wichtige Ideen kommen könnte, die er vielleicht ansonsten nicht gehabt hätte, dann würden wir tatsächlich die beiden Bereiche noch besser zusammenbringen – zum Nutzen aller: in erster Linie natürlich des Patienten, aber auch des Arztes.

2019 waren es laut des Vortrags von Dr. Martin Hirsch auf dem DKVF 15 Millionen Vordiagnosen und 8 Millionen Nutzer weltweit. Wie sieht es heutzutage aus?
Aktuell haben wir schon über 10 Millionen User weltweit mit über 20 Millionen Assessments. In den USA arbeiten wir mit einem großen Anbieter für Gesundheitsleistung vor allem in Kalifornien zusammen. Hier wird neben der Symptomanalyse die Care-Navigation unterstützt, auch um – wenn es sinnvoll ist – niederschwellige Angebote wie Telefonie oder auch Video-Consultation zu fördern. Natürlich kann die Empfehlung auch lauten: Sofort einen Arzt aufsuchen oder am besten gleich ins nächste Krankenhaus. Im Grunde genommen wird damit eine Art Care-Triage eingeführt, auf Basis eines Wahrscheinlichkeitsgrades sowie der Art und Stärke der Ausprägung der berichteten Symptome.

Wobei Symptome bekanntlich oft nicht eindeutig sind.
Das ist die große Herausforderung, vor der jeder Arzt und vor der auch wir stehen. Das Symptom, das einen Nutzer dazu veranlasst hat, zu einem Arzt zu gehen oder die Ada-App zu nutzen, bestimmt alleine noch nicht, wie dringend medizinische Hilfe benötigt wird. So können Schmerzen im Arm auf eine Zerrung oder Muskelkater im Arm hindeuten, aber eben auch auf einen Herzinfarkt, was natürlich dringend geklärt werden muss. Es kommt also auf die Umstände an, die durch Folgefragen abgeklärt werden müssen.
Welche Auswertungen für Public Health sind mit Ada möglich?
Ich war, bevor ich bei Ada als Director of Epidemiology and Public Health begonnen habe, beim RKI als Leiter der Surveillance für Infektionskrankheiten zuständig. Unter anderen für SurvStat, das seit über 20 Jahren jedem Nutzer die Möglichkeit bietet, die nach dem Infektionsschutzgesetz meldepflichtigen Krankheitsfälle und Erregernachweise individuell abzurufen und daraus eigene Grafiken zu erstellen. Das ist eine wunderbare zeitnahe Datenbank die nach circa 3 Wochen die Meldefälle für jeden abfragbar zur Verfügung stellt, übrigens lange Zeit einzigartig in ganz Europa. Meine Aufgabe bei Ada ist es nun, zum einen zu erarbeiten, wie man mit Public-Health-Informationen die individuelle Care-Journey verbessern kann. Zum anderen arbeiten wir an Analysen zu Bevölkerungsgesundheit, die wir aus den in Ada eingegebenen pseudonymisierten Daten aggregieren können.

Doch welche Aussagen sind denn nun möglich?
Wir haben den großen Vorteil, dass wir anders als alle anderen verfügbaren Datenquellen – ob nun die der Ärzte, Apotheker oder auch der Kassen – einen datengestützten Blick in die Zeit werfen können, bevor ein Patient in der ein oder anderen Weise in Kontakt mit dem Gesundheitssystem kommt. Das klassische Datensystem ist naturbedingt eher behäbig: Ein Mensch oder auch mehrere fühlen sich unwohl, gehen dann zur Apotheke und holen sich ein OTC-Präparat. Wenn das nichts hilft, wenden sie sich an einen Arzt, fühlen sich dann aber schon nicht mehr unwohl, sondern bereits krank. Der Arzt führt dann eine Diagnostik durch. Fällt diese positiv aus, wird der Arzt eine Ersttherapie einleiten oder den Patienten, falls nötig, in ein Krankenhaus überführen. Zeitgleich geht – falls es sich um eine Infektionskrankheit handelt – bei den Gesundheitsämtern eine Meldung ein, die dann ein paar Wochen später beim RKI im SurvStat aufploppt. Und erst viel später taucht der Fall in den Datenstämmen vom Arzt und Apotheker und noch viel, viel später oft mit Zeitverzügen von mehreren Monaten oder einem Jahr, in den auswertbaren Routinedaten der Kassen auf.

Demnach könnte Ada eine Art Frühwarnsystem sein?
Sicher. Denn in den klassisch verfügbaren Daten aller normalen Meldesysteme sieht man nur die Spitze des Eisbergs – und die leider auch erst dann, wenn es für eine schnelle Präventionsstrategie eigentlich viel zu spät ist. Wir hingegen haben einen sowohl schnelleren als auch tieferen Zugriff zu Daten einer sich entwickelnden Krankheitslast. Wir können Daten viel schneller als andere zur Verfügung stellen, weil wir sie Real-Time an dem Tag auswerten können, an dem sie eingegeben worden sind.

Könnte Ada helfen, die Corona-Pandemie besser in den Griff zu bekommen, zumindest in der Zeitachse Symptomanalyse? Ich sitze da, huste vor mich hin und der Kuchen schmeckt auch nicht mehr, aber warte 25 Stunden bei der Hotline des nächsten Gesundheitsamts und sitze dann doch im Wartezimmer des Hausarztes und stecke womöglich alle anderen an.
Digitale Gesundheitsassessment-Tools wie Ada könnten in einer Zeit wie dieser zentral gesteuert angepasst werden und dann relativ schnell flächendeckend umgesetzt werden. Das würde bei der Symp-tomanalyse helfen, aber auch bei einer zeitnahen Kommunikation der am besten – für Patient wie Gesellschaft – zu beschreitenden Behandlungspfade.

Was indes nicht nur bei Covid-19 sinnvoll wäre.
Das deutsche Infektionsschutzgesetz umfasst 60 Erkrankungen, wir aber haben Daten zu über 1.000 in unserer Datenbank, die aktuell wie retrospektiv ausgewertet werden können. So könnten wir zum Beispiel analysieren, wann und wo auf der Welt zum ersten Mal häufiger der eigenberichtete Befund Geruchs- und/oder Geschmacksverlust eingegeben wurde, der inzwischen als recht deutliches Zeichen von Corona gilt.

Warum tun Sie es dann nicht?
Wir tun es doch. Eben haben wir im Journal of Medical Internet Research (JMIR) eine Arbeit veröffentlicht. Wir konnten analysieren, wie sich die Covid-19-Maßnahmen in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien auf die Gesundheit ausgewirkt haben. Dafür haben wir die Ada-Eingaben im Monat vor den ersten Maßnahmen mit denen des ersten Monats des kompletten Lockdowns verglichen und gesehen, wie sich das Nutzungsverhalten der User verändert hat. Dabei ging es nicht einmal so sehr darum zu sehen, ob sie mehr Respirationsprobleme als vorher hatten, nicht mehr so gut riechen oder schmecken, sondern darum, wie sich die Maßnahmen eines harten Lockdowns tatsächlich auf die Gesundheit ausgewirkt haben.

Erst einmal drängt sich die Frage auf: Stimmt das, was Ihre Daten hergeben?
Diese Frage sollte sich jeder stellen, der Daten auswertet und veröffentlicht. Darum tun wir das auch. Uns ging es bei dieser Auswertung daher auch nicht so sehr um die Ergebnisse an sich, sondern darum, ob die auf Basis unserer Daten produzierten Erkenntnisse mit den Ergebnissen anderer, etablierter Daten-Systeme vergleichbar sind.

Waren die Ergebnisse annähernd kongruent?
Wir sind nicht ganz unglücklich darüber sagen zu können, dass unsere Daten nichts Überraschendes ergeben haben, sondern genau das, was wir erwartet haben.

Was sich vielleicht etwas komisch anhört.
Gar nicht, weil das nichts anderes heißt, als dass die Ergebnisse unserer Daten annähernd die Ergebnisse anderer Daten replizieren können, nur eben viel, viel schneller. So haben wir in der Zeit des Lockdowns deutlich weniger gastrointestinale Beschwerden feststellen können, was vielfach bereits berichtet wurde. Wir haben auch gesehen, dass gerade im ersten Monat des Lockdowns deutlich weniger Stress in unserer Population berichtet wurde. Wir vermuten, dass das daran liegt, dass sich hier weniger Arbeitsstress im Home-Office ausgewirkt hat, dessen Arbeitsatmosphäre allgemein relativ weniger arbeitsbedingte Stressfaktoren bietet als die Büro-Umgebung. Zudem berichteten die App-User im betrachteten Zeitraum, dass sie besser schlafen, sie verspürten auch weniger Heiserkeit und hatten weniger Ohrprobleme, weil sie womöglich nicht mehr so viel präsentieren oder das Flugzeug nutzen mussten. Dafür wurden aber mehr Beschwerden wie trockene Haut berichtet, womöglich weil sich die Menschen mehr die Hände gewaschen und diese zusätzlich desinfiziert haben – was natürlich alles nur Annahmen und Interpretationen sind. Um hier genauere Aussagen treffen zu können, müsste man auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse weiterführende Studien durchführen.

Doch sind all das zumindest feststellbare Kollateraleffekte.
Das sind Nebeneffekte der von der Regierung angeordneten Maßnahmen, um Covid-19 in den Griff zu bekommen. Uns geht es überhaupt nicht darum, irgendeine Sachlage aufzudecken, oder gar zu erforschen, was niemand vorher gewusst hat. Wir sind vielmehr daran interessiert zu erforschen, ob die über uns zu produzierende Datenqualität wirklich nutzbar ist für Public-Health-Zwecke. Wir sind, wie ich glaube, auf einem ganz guten Weg, diese These verifizieren zu können. Immerhin war das unser erstes Mal, dass wir versucht haben, mit unseren Daten in einer aggregierten Analyse Informationen über die Bevölkerungsgesundheit und sich entwickelnde Krankheitslasten zu geben.

Gibt es weitere Daten, die diese These bestätigen könnten?
Wir betrachten zur Zeit gerade Daten zur Influenza-like Illness, kurz ILI.

Eine Art Fake-Grippe oder auch grippeähnliche Erkrankung.
Genau. Die ILI ist an sich sehr gut beforscht und wird über viele verschiedene Surveillance-Systeme gemonitort, wie beispielsweise durch das RKI mit einem webbasierten Populationstool namens GrippeWeb. Nun haben wir die Daten der letzten drei Jahre aus dem GrippeWeb mit unseren Daten verglichen. Das Schöne ist: auch hier keine Überraschung. Wir sehen fast exakte Übereinstimmungen mit den Wellen, die das RKI erhoben hat; sowohl zeitlich über die verschiedenen Jahre als auch über die verschiedenen Altersgruppen hinweg.

Was machen Sie nun damit?
Wir können uns vorstellen, dass die über Ada generierbaren Informationen in Echtzeit für Standardsurveillance-Zwecke unterstützend genutzt werden könnten. Das könnte man für Covid-19 machen, für die ILI, aber auch für viele andere Krankheitsentitäten, die noch gar keine eigene Surveillance-Systeme haben. Interessant wären solche Systeme gerade aber auch für Länder, die noch gar keine eigenen Surveillance haben. In großen Teilen der Welt wäre es schon von Vorteil, wenn die dortige Gesundheitspolitik einen zeitnahen Einblick hätte, wie sich Krankheitslasten in der Bevölkerung entwickeln. Für solche Frühwarnsysteme könnte Ada sehr gute Daten liefern.

Es klingt spannend, was über praktisch angewandte Digitalisierung und KI auf uns zukommen könnte. Denken wir an Covid-19: Könnte man damit auch Hotspots frühzeitig erkennen?
Das könnte man durchaus versuchen. Bei Covid-19 gibt es einige typische Symptome wie den Geruchs- und Geschmacksverlust, der doch relativ typisch ist. Wenn dann noch ergänzend respiratorische Symptome berichtet werden, wäre wohl der prädiktive Wert relativ hoch, dass am Ende die Diagnose Covid-19 recht wahrscheinlich ist. Wenn jemand nur Husten eingibt, wird die Diagnose natürlich unsicherer. Dennoch könnte die App dann empfehlen, wie sich ein Nutzer am besten zu verhalten hat.

Beim Arzt anrufen, eventuell eine Krankschreibung veranlassen und daheim bleiben, statt ins Krankenhaus oder im Zweifel weiter in die Arbeit zu gehen und womöglich viele andere anzustecken.
Exakt, eine Care-Journey eben. Dazu wäre es durchaus möglich, sich entwickelnde Hotspots sehr frühzeitig zu identifizieren.

Kann man sich das ähnlich wie bei einem Navigationssystem vorstellen, das die Bewegungsdaten tausender Autofahrer akkumuliert, um so Staus zu prognostizieren? Wenn ein Auto langsamer fährt, meldet das System nichts, auch nicht, wenn das 2, 3 oder 4 tun. Wenn jedoch 10 Autos viel langsamer als erlaubt fahren oder sich gar nicht mehr bewegen, wird es sich wohl um zähfließenden Verkehr oder Stau handeln.
Das System ist ähnlich: Einzeldaten werden akkumuliert, um anhand von vorher definierten Grenzwerten bestimmte Wahrscheinlichkeitsaussagen zu treffen.

Man sollte indes auch wissen, dass man damit auch ganz falsch liegen kann, wie es ein Fall gezeigt hat, als im Februar letzten Jahres ein Berliner 99 Smartphones in einer Spielzeugkarre durch eine Straße gezogen und Google dann auch gleich einen Fake-Stau angezeigt hat.
Das Beispiel zeigt doch, dass das System an sich funktioniert, auch wenn es natürlich ausgetrickst werden kann. Darum muss man, wenn man solche Systeme aufsetzt, wissen, was man tut und vor allem, welche Biases und Limitationen man hat. Wenn wir bei Covid-19 bleiben, heißt das, dass man zumindest sehr schnell lokalen Gesundheitsbehörden einen Hinweis geben könnte, eine bestimmte Region genauer unter die Lupe zu nehmen. Das darf man dann jedoch nicht erst Tage oder Wochen später machen, sondern ad-hoc.

Auf alle Fälle wäre das ein Tool, das bislang noch nicht existiert. Schon gar nicht in Real-Time.
Ähnliches gibt es bereits, wenn auch noch nicht bei Covid-19. So hat das RKI mit der Datenspende-App, über die Nutzer von Fitnessarmbändern freiwillig ihre Bewegungsdaten spenden können, Heatmaps über Temperatur und Herzschläge für Deutschland erstellt. Ob das sinnvoll ist oder nicht, sei einmal dahingestellt, doch zeigt das Beispiel, dass Digitalisierung und KI enorme Potenziale haben. Wichtig ist es natürlich immer, sich vorher detailliert zu überlegen, welche Informationen wie akkumuliert werden können, aus denen dann möglichst nutzwertige Maßnahmen erwachsen können.

Diese Aussage scheint zentral zu sein: Das Wissen darum, wie Krankheits- und Wahrscheinlichkeitsmodelle moduliert werden, auf denen dann Algorithmen aufsetzen können.
Im Grunde genommen modellieren wir Krankheiten, um so mögliche Erklärungs-Wahrscheinlichkeiten für Symptome zu erhalten, die ein Nutzer eingibt.

Wie sind Sie zum Beispiel bei der Krankheitsentität Covid-19 vorgegangen, die es bis Anfang 2020 gar nicht gegeben hat?
Der Vorteil von Ada Health ist, dass wir ein großes Team von knapp 60 Medizinern haben, die das zu einer Krankheitsentität verfügbare medizinische Wissen aus Fachbüchern und veröffentlichten Studien extrahieren und verdichten können. Das ist bei lange bekannten und erforschten Krankheiten einfacher, weil dazu relativ viel Evidenz vorhanden ist. Das war bei Covid-19 anders, weil sich bei dieser Krankheit das verfügbare Wissen erst entwickeln musste. Zudem liegt das Wissen teilweise erst im Pre-Print-Stadium vor, wächst zudem fast tagtäglich und verändert sich auch mit dem Hinzukommen neuer Erkenntnisse.

Seit wann kann man Covid-19 in Ada detektieren?
Wir haben uns schon relativ früh – bereits Ende Januar 2020 – entschieden, Covid-19 in unser Modell aufzunehmen und als Teil unseres großen Modells einzuspeisen. Die ersten Abfragen waren dann im Februar möglich. Natürlich war und ist es von enormer Wichtigkeit, dieses Krankheitsmodell sehr regelmäßig upzudaten.

Wie viele Assessments wurden seitdem zu Covid-19 durchgeführt?
Das kann man nicht genau sagen, weil ja niemand Covid-19 als Symptom eingibt, sondern Husten, Fieber oder den Verlust des Geschmackssinns. Viele Menschen, die eine Covid-19-Erkrankung befürchten, führen also Assessments durch, ohne dass Covid-19 als mögliche Ursache für die Symptome im Ergebnis erscheint. Doch ging es uns bisher auch gar nicht darum, explizit Covid-19 zu identifizieren und zu diagnostizieren. Unser Ziel ist es vielmehr, eine sinnvolle Liste an möglichen Erklärungen zu schaffen, um daraufhin das Verhalten und die nächsten Schritte des Users so steuern zu können, dass der größtmögliche Gesundheitsnutzen entstehen kann.

Dazu müssen Sie eine immer gleiche Matrix erarbeiten, deren Module indikationsspezifisch gefüllt werden können.
Die Informationsmatrix ist eine Datenstruktur, die für jede Krankheit gleich ist, die aber im Detail inhaltlich variiert. Unsere Matrix – als Gesamtheit aller Einzelmodelle – beinhaltet alle Erkrankungen, die wir bereits erfasst und strukturiert haben. Ist diese Arbeit getan, folgen viele Tests, mit denen – ausgehend von in Fallbeispielen berichteten Symptomen - festgestellt wird, ob das erstellte Modell geeignet ist, eine Krankheit zu erfassen und wie sie im Verhältnis zu anderen, ähnlichen Erkrankungen performt. Denn davon hängen die Aussagen des Wahrscheinlichkeitsmodells ab, das die verschiedenen Wahrscheinlichkeiten, mit der innerhalb einer Erkrankung ein
Symptom auftritt, quantifiziert. Natürlich kann es auch so sein, dass bestimmte Symptome einzeln oder auch gemeinsam und wieder andere Symptome gar nicht auftreten. Darauf wiederum resultiert eine Reihenfolge von möglichen Erklärungswahrscheinlichkeiten, mit denen die von Nutzern berichteten Symptome zustandekommen können.

Wobei es immer darauf ankommen wird, wie gut der Input der Experten ist und wie dieser verarbeitet wird. In der Wissenschaft nennt man denjenigen, der so etwas tut, Data Scientist. Wie nennt man das bei Ihnen?
Medical Knowledge Engineer.

Sehr nett: Eine Art Wissensmanager für Medizin.
Nicht Manager, sondern Ingenieur. Der englische Begriff des Engineers ist weit mehr als der eines medinizisch-wissenschaftlichen Texters oder der eines Wissensmanagers. Der eine schreibt einen wissenschaftlichen Text, den der zweite irgendwo ein- oder zuordnet. Unsere Medical Knowledge Engineers hingegen sind in der Lage, das zu einer Krankheit verfügbare Wissen zu codieren und dann in unser Modell zu transferieren. Dazu braucht man ein Team aus vielen guten Medizinern, die dann intensiv trainiert werden müssen, um zu verstehen, wie das Modellieren funktioniert. Das Wissen darum ist eine unserer großen Stärken, für die wir von vielen unserer Partner sehr geschätzt werden.

Insgesamt arbeiten um die 200 Mitarbeiter bei Ada. Wie finanzieren Sie all diese Leute?
Die Motivation hinter Ada ist die, medizinisches Wissen in der Welt unter möglichst vielen Nutzern zu verbreiten, um so nach und nach die Gesundheit zu verbessern. Unser Ansatz erlaubt es deshalb nicht, von einem Individuum pro Assessment Geld zu nehmen. Von daher kooperieren wir zunehmend mit Gesundheitssystempartnern aus aller Welt, die eine Symptomanalyse, gepaart mit einer Care-Triage und sinnstiftender Care-Navigation zu schätzen wissen.

Doch nicht mit deutschen Partnern.
Unsere Care-Navigation-Lösungen verwenden aktuell hauptsächlich ausländische Partner, etwa aus den USA oder auch Tansania.

Mit wem arbeitet Ihr Unternehmen in Deutschland zusammen?
In Deutschland arbeiten wir aktuell mit unterschiedlichen Partnern aus dem Life-Sciences-Bereich wie zum Beispiel Pfizer oder Takeda daran, weitere seltene Erkrankungen in Ada abzubilden.

Bis Mitte 2019 hatten Sie eine Partnerschaft mit der Techniker Krankenkasse. Diese hat jedoch die Kooperation mit Ihrem Unternehmen beendet. Es hieß damals, Ada Health hätte personenbezogene Gesundheitsdaten sowohl an Facebook als auch an den US-Dienstleister Amplitude übertragen. Das hatten zumindest der IT-Sicherheitsexperte Mike Kuketz und das Computermagazin „c‘t“ behauptet.
Gesundheitsdaten sind die sensibelsten Daten überhaupt. Wir sind uns bei Ada der besonderen Verantwortung sehr deutlich bewusst, die der Umgang mit Gesundheitsdaten mit sich bringt. Datenschutz ist aber auch ein komplexes Thema und aus unserer Sicht sind in der Berichterstattung einige Punkte zu kurz gekommen. Anbieter von Gesundheits-Apps verwenden die Dienste von Drittanbietern zum Beispiel um die Funktionalität der eigenen Anwendung sicherzustellen oder die für Medizinprodukte vorgeschriebene Post-Market-Surveillance gewährleisten zu können. Im Einklang mit der DSGVO haben wir verbindliche Verträge mit diesen Anbietern, um sicherzustellen, dass die Daten unserer Nutzer geschützt und sicher sind. Wir bieten auch weiterhin einen freiwilligen Facebook-Login an, weil viele Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern keine Mailadresse haben und der Facebook-Login somit die einzige Möglichkeit ist, Ada zu nutzen – allerdings übermitteln wir keine persönlichen Gesundheitsdaten an Facebook, wie manchmal behauptet wird. Das eigentliche Problem war, dass unsere Datenschutz- und Einverständniserklärungen nicht explizit und detailliert genug für die Erhebung von Gesundheitsdaten ausgestaltet waren. Ada hat hier schnell nachgebessert, sodass die Probleme behoben sind.

Wie sieht denn die Zukunft für Ada in Deutschland aus?
Wir sind auf jeden Fall daran interessiert, auch wieder verstärkt
mit deutschen Partnern zusammenzuarbeiten. Das wird uns ganz sicher auch gelingen, da gerade durch das Digitale-Versorgungs-Gesetz und auch das Krankenhauszukunftsgesetz vieles in Bewegung gekommen ist. Die mit diesen aktuellen Gesetzen sich eröffnenden Möglichkeiten – auch in Sachen Reimbursement – werden Unternehmen wie unseres auch innerhalb von Deutschland in Zukunft deutlich nach vorne bringen. Noch aber, auch das muss man deutlich sagen, sind andere Länder bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens zum Teil sehr viel weiter und damit die natürlichere Wahl für größere Partnerschaften.

Herr Dr. Gilsdorf, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Sie wollen uns schon verlassen?

Abonnieren Sie doch noch schnell unseren Newsletter. Dann können Sie sicher sein, nichts mehr zu verpassen.

Zum Inhalt springen