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Modellgestützte Verfahren und „big (spatial) data“ in der regionalen Versorgungsforschung II

In der Handelsforschung werden seit Jahrzehnten räumliche Interaktionsmodelle zur Abschätzung und Analyse von Kundenzuflüssen angewandt, darunter auch im mit der Gesundheitsversorgung eng verwandten Bereich der Nahversorgung im Lebensmittelhandel (Wieland 2011, 2015a). Mittlerweile haben diese Modelle aber auch Einzug in die regionale Versorgungsforschung gefunden (Bauer/Groneberg 2016, Fülop et al. 2011, Jia et al. 2015). Bevor die exemplarische Anwendung räumlicher Interaktionsmodelle erfolgt, müssen zunächst einige generelle Überlegungen zur Sinnhaftigkeit ihrer Nutzung getätigt werden.

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.06.2018

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Abstrakt: Modellgestützte Verfahren und „big (spatial) data“ in der regionalen Versorgungsforschung II

Im ersten Teil des Beitrags wurden zunächst die gängigen Analyseformen in der geographischen Versorgungsforschung aufgezeigt und ihre konzeptionellen und methodischen Grundlagen diskutiert. Ein besonderer Fokus lag hierbei auf den Aspekten der kleinräumigen Betrachtung und der Berücksichtigung der räumlichen Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen. Da diese Ansätze mit mehreren theoretisch-konzeptionellen Problemen im Hinblick auf die Annahmen zum Nachfrageverhalten verbunden sind, werden in diesem zweiten Teil des Beitrags zwei quantitativ-modellgestützte Ansätze zur Analyse und Optimierung kleinräumiger Versorgungstrukturen vorgestellt. Der Fokus dieser ebenso GIS-gestützten Modelle aus der Handels- und Standortforschung liegt in der Berücksichtigung potenziell mehrfachorientierter Patienten und der nicht-linearen Wahrnehmung von Entfernungen und Fahrtzeiten. Im Ergebnis zeigt sich, dass diese Modelle mit vertretbarem Aufwand anwendbar sind. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Verfügbarkeit verschiedener Datengrundlagen, was mittlerweile mit Bezug auf räumliche Daten, jedoch keinesfalls im Hinblick auf demographische oder angebotsbezogene Daten, gewährleistet ist.

Abstract: Model-based approaches and „big spatial data” in regional health services research

The first part of this paper has shown the typical analysis methods in regional health services research while discussing their conceptual and methodological basis. It was outlined that the regarded spatial scale and the traffic accessibility of health locations are both important aspects in this type of studies. Since these conventional methods have some important drawbacks regarding the theoretic assumptions about consumer behavior, in this second part of the paper, two different modeling approaches for analyzing and optimizing spatial health services structures are demonstrated. These models which are also GIS-supported and frequently used in retail and location research consider possible multiple orientations of patients and the nonlinear perception of geographic distances and travel times. In conclusion, the models can be utilized at reasonable expense on condition that the needed data is available. While many types of necessary spatial data are meanwhile available from open-access services, this is frequently not true for the needed demographic or supply data.

Zitationshinweis: Wieland, T.: „Teil 2: Modellgestützte Verfahren und „big (spatial) data“ in der regionalen Versorgungsforschung“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/18), S. 59-64, doi: 10.24945/MVF.0318.1866-0533.2083

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Modellgestützte Verfahren und „big (spatial) data“ in der regionalen Versorgungsforschung II

In der Handelsforschung werden seit Jahrzehnten räumliche Interaktionsmodelle zur Abschätzung und Analyse von Kundenzuflüssen angewandt, darunter auch im mit der Gesundheitsversorgung eng verwandten Bereich der Nahversorgung im Lebensmittelhandel (Wieland 2011, 2015a). Mittlerweile haben diese Modelle aber auch Einzug in die regionale Versorgungsforschung gefunden (Bauer/Groneberg 2016, Fülop et al. 2011, Jia et al. 2015). Bevor die exemplarische Anwendung räumlicher Interaktionsmodelle erfolgt, müssen zunächst einige generelle Überlegungen zur Sinnhaftigkeit ihrer Nutzung getätigt werden.

>>Generelle Anmerkungen
Die im eindimensionalen Erreichbarkeitsmodell angenommene Orientierung der Nachfrager zum nächstgelegenen Standort („Nearest-Center“-Annahme) entstammt dem Grundmodell der Zentrale-Orte-Theorie und wurde in der Einzelhandelsforschung bereits vor Jahrzehnten als unrealistisch (und zudem ökonomisch nicht rational) verworfen. Demgegenüber steht die Vorstellung eines mehrfachorientierten Konsumenten, der anhand einer Reihe individueller Präferenzen entweder mehrere Anbieter oder zumindest nicht den jeweils räumlich nächstgelegenen wahrnimmt (Deiters 2006: 299ff.). Im deutschen Gesundheitswesen besteht grundsätzlich die freie Arztwahl, so dass weder zwingende Nearest-Center-Bindungen bestehen noch die Inanspruchnahme eines bestimmten Arztes vorgeschrieben ist. Die freie Arztwahl genießt einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung (Kunstmann et al. 2002: 171ff.). Werden empirische Arztwahlentscheidungen untersucht, zeigt sich zwar eine große Distanzsensibilität, jedoch sind Nearest-Center-Bindungen nirgendwo selbstverständlich: Der Anteil an Besuchen des tatsächlich am nächsten gelegenen Arztes liegt im Fall von Allgemeinärzten mit 71,5 % relativ hoch, liegt aber etwa im Fall von Psychotherapeuten nur bei 38,5 % (Fülop et al. 2011: 703).  Eine valide Operationalisierung des Konstruktes „Erreichbarkeit“ muss demnach die prinzipielle Möglichkeit einer Mehrfachorientierung erfassen.
Andererseits muss ein weiteres raumökonomisches Konzept berücksichtigt werden, das auf die nachfrageseitige Perzeption von Entfernung und/oder Fahrtzeiten abzielt und sich auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen übertragen lässt: Die Bereitschaft, Entfernungen oder Reisezeiten auf sich zu nehmen, variiert mit dem Zweck des Besuchs der jeweiligen Destination, was im Kontext der geographischen Handelsforschung mit Blick auf Güter des täglichen, mittelfristigen und langfristigen Bedarfs abgegrenzt wird. Zudem werden Entfernungen oder Fahrtzeiten überproportional wahrgenommen (Wieland 2015b: 70ff.). Auch im Hinblick auf den Gesundheitssektor werden diese Zusammenhänge indirekt in der Bedarfsplanung dadurch berücksichtigt, dass mit steigender Spezialisierung des ärztlichen Angebotes ein räumlich weiter ausgedehntes Einzugsgebiet angenommen wird (KBV 2013: 6f.).      

Mehrdimensionale Operationalisierung von Erreichbarkeit
Es ist erforderlich, den Begriff der Erreichbarkeit weiter zu fassen: Hierbei ist
1.) die potenzielle Mehrfachorientierung der Nachfrager und
2.) die zweckabhängige Perzeption der Raumüberwindung zu berücksichtigen.

Eine Umsetzungsmöglichkeit hierfür bildet das Erreichbarkeitsmodell der Hansen-Erreichbarkeit, das ursprünglich im Kontext urbaner Landnutzungstheorien formuliert wurde (Hansen 1959). Dieses räumliche Interaktionsmodell bildet sinngemäß die Summe aller Möglichkeiten (z.B. Arztpraxen) ab, die für eine räumliche Interaktion zwischen dem Ursprungsort und den Standorten dieser Möglichkeiten in Frage kommen, wobei diese Möglichkeiten mit der zwischenliegenden interaktionshemmenden Distanz (oder einer anderen Form von Transportkosten) gewichtet werden. Die Entfernung bzw. Fahrtzeit wird hierbei in Form einer Distanzwiderstandsfunktion gewichtet, die die überproportional hemmende Wirkung von Distanzen oder Fahrtzeiten ausdrückt: Hierfür kommen beispielsweise eine Potenz- oder Exponentialfunktion sowie eine s-förmige logistische Funktion in Frage (Wieland 2015b: 70ff.). Im Kontext des nahversorgungsrelevanten Einzelhandels ließ sich bereits die Aussagekraft dieser Methodik aufzeigen (Wieland 2011).     
Im vorliegenden Fall wurde das genannte Erreichbarkeitsmodell auf die Allgemeinärzte in Südniedersachsen angewendet. Zur Distanzgewichtung wurde hierbei eine Exponentialfunktion mit einem auf der Grundlage realer Patient-Arzt-Interaktionen empirisch ermittelten Gewichtungsparameter verwendet (Fülop et al. 2011: 701ff.). Zur Operationalisierung der Fahrtzeit wurde auf dieselben Daten zurückgegriffen wie in der eindimensionalen Erreichbarkeitsmodellierung (siehe Teil I des Beitrags). Um die Ergebnisse besser interpretieren zu können, sind mehrere Möglichkeiten einer Standardisierung der Hansen-Erreichbarkeit denkbar: Dividiert man die kalkulierten Werte durch die Summe aller Möglichkeiten ohne Berücksichtigung der Entfernungen oder Fahrtzeiten, werden die ermittelten Hansen-Erreichbarkeiten auf einen Wertebereich zwischen null und eins normiert. Eine andere Möglichkeit ist die Division der ermittelten Werte durch die lokale Bevölkerung, was sich wiederum an das Konzept der Dichtewerte (siehe Teil I des Beitrags) anschließt: Das Ergebnis besteht in diesem Fall in Form von entfernungsgewichteten Ärzten pro 1.000 Einwohner. Abbildung 3 zeigt für die erreichbarkeitsgewichtete Versorgung mit Allgemeinärzten in Südniedersachsen die Ergebnisse der zweitgenannten Variante auf Ortsteilebene. Die Berechnung in R (R Core Team 2016) wurde mit dem Paket REAT (Wieland 2017a) durchgeführt.
Da die absolute Zahl der Allgemeinärzte im Oberzentrum Göttingen sehr hoch ist, sind erwartungsgemäß insbesondere die Göttinger Stadtteile sowie das direkte Umland aus der erreichbarkeitsgewichteten Perspektive gut versorgt; unabhängig von der Nähe zum jeweils nächsten Anbieter ist hier die „Auswahl“ an Allgemeinärzten besonders hoch. Die erreichbarkeitsgewichtete Versorgung verschlechtert sich mit zunehmender Entfernung zum Oberzentrum. Die Ergebnisse dieses Analysemodells sind zwar grob konsistent mit dem eindimensionalen Erreichbarkeitsmodell (siehe Teil I des Beitrags), zeigen jedoch große qualitative Unterschiede im Hinblick auf den Aspekt der Auswahl auf.
Modellierung der Nachfrageverteilung
Das Huff-Modell zur räumlichen Nachfrageverteilung
In der Wirtschaftsgeographie werden zur Modellierung der räumlichen Verteilung von Nachfrage (Kunden- bzw. Kaufkraftströme) häufig räumliche Interaktionsmodelle angewandt. Insbesondere in der Handelsforschung wird darauf zurückgegriffen, z.B. im Rahmen von Standortanalysen oder der Beurteilung von Einzelhandelsansiedlungen in Raumordnungsverfahren. Alle diese Modelle gehen von einer grundsätzlich positiven Wirkung der Angebotsgröße und einer interaktionshemmenden Wirkung von Distanzen bzw. Fahrtzeiten aus; beide (und ggf. noch weitere) erklärenden Größen werden in einer Nutzenfunktion zusammengefasst, wobei der Nutzen einer Alternative jeweils dem Nutzen aller anderen Alternativen gegenübergestellt wird (Wieland 2015b: 61ff.). Die grundlegende Abwägung zwischen Entfernung und den positiven Aspekten einer Alternative, die den Konsumenten einer Dienstleistung stets unterstellt wird, ist in diesen Modellen den Überlegungen hinter der Hansen-Erreichbarkeit sehr ähnlich.
Das populärste dieser Modelle, und zugleich jenes, auf das die meisten anderen Modelle letztlich aufbauen, ist das Huff-Modell (Huff 1962, 1963, 1964). Dieses Modell berücksichtigt in seiner Grundform zwei erklärende Variablen, nämlich die Attraktivität eines Angebotsstandortes (operationalisiert in Form der Größe) und die Fahrtzeit zwischen den Nachfrageorten und den Angebotsstandorten; die Fahrtzeit wird hierbei in Form einer Distanzfunktion gewichtet. Für jeden Angebotsstandort wird auf dieser Grundlage ein Nutzenwert für die Nachfrager aus allen Teilorten berechnet. Diese Nutzenwerte werden den aggregierten Nutzenwerten aller Alternativen gegenübergestellt, wobei die Auswahlwahrscheinlichkeit der jeweiligen Alternative – welche die Zielgröße des Modells ist – proportional zu ihrem Nutzen ist. Werden die Auswahlwahrscheinlichkeiten mit der lokalen Nachfrage multipliziert, ergeben sich spezifische räumliche Nachfrageströme von allen Kundenquellorten zu den Angebotsstandorten; die Summe aller Nachfrageströme eines Angebotsstandortes stellt sein gesamtes Marktgebiet dar (Huff 1962: 14ff.; 1964: 36ff.). Im Kontext der Gesundheitsversorgung lässt sich das Modell auf die Verteilung der Patienten von Praxisstandorten anwenden (Fülop et al. 2011).
Um das Prinzip zu illustrieren, zeigt Abbildung 4 das Beispiel einer Huff-Modellrechnung für das Untersuchungsgebiet Südniedersachsen. Für diesen Zweck wurden die einzelnen Allgemeinarztpraxen auf der Ebene der 420 Teilgebiete summiert; diese Summe stellt im vorliegenden Fall die „Attraktivität“ des jeweiligen Gebietes dar. Zur Gewichtung der Fahrtzeit wurde dieselbe Exponentialfunktion wie bei der Hansen-Erreichbarkeit verwendet. Die Berechnung in R (R Core Team 2016) wurde mit dem Paket REAT (Wieland 2017a) durchgeführt.
Dargestellt sind die Auswahlwahrscheinlichkeiten bzw. „Marktanteile“ des Kernortes des Fleckens Bovenden (rd. 13.500 Einwohner, davon rd. 7.000 im Kernort), der unmittelbar an das Oberzentrum Göttingen angrenzt. Die Darstellung erfolgt in Form von Isowahrscheinlichkeitslinien, d.h. Linien gleicher Interaktionswahrscheinlichkeiten in 2,5-%-Schritten. Es überrascht hierbei nicht, dass die Auswahlwahrscheinlichkeit außerhalb des Kernortes selbst in der Regel unter 10 % liegt, da von überall sehr viel Nachfrage in das benachbarte Oberzentrum Göttingen abfließt. Weitere nennenswerte Anteile werden nur in nördlich angrenzenden Gemeinden erreicht.
Werden die lokalen Auswahlwahrscheinlichkeiten mit dem örtlichen Nachfragepotenzial in den Teilgebieten verknüpft, ergibt sich in diesem Beispiel eine Gesamtnachfrage von 6.822 Personen für den Kernort Bovenden. Allerdings speist sich diese Nachfrage nur zu einem Teil aus der Bevölkerung der Ortschaft selbst, denn selbst im Kernort liegt die Auswahlwahrscheinlichkeit nur bei 23,8 %
(ca. 1.585 Einwohner), da ein Großteil der Nachfrage nach Göttingen abfließt. Allerdings wird aus benachbarten Ortsteilen, die z.T. über keine eigene Versorgung verfügen, ein weiteres Nachfragepotenzial von insgesamt 5.237 Personen generiert.
Dieser Ansatz zeigt eine Möglichkeit der Modellierung von kleinräumigen Nachfrageinteraktionen auf. Das Huff-Modell verfügt allerdings über eine Reihe von Einschränkungen und ist daher bereits in unzähligen Formen kritisiert und erweitert worden (Wieland 2015b: 76f.). Die Modellrechnung kann im vorliegenden Fall in dieser einfachen Form kaum mehr als einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Nachfrageverteilung liefern, da die Arztwahl von unzähligen Faktoren abhängig ist. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist es jedoch möglich, auf der Grundlage dieses Ansatzes ein Optimierungsmodell aufzubauen, das nicht den Ist-Zustand der tatsächlichen Nachfrageverteilung, sondern den Soll-Zustand der räumlichen Angebotskonfiguration zum Gegenstand hat.

Ein Modell zur Optimierung des kleinräumigen Versorgungsnetzes
Bereits die Bedarfsplanung ist von ihrem Anspruch her ausdrücklich normativ, da aus der Gebietsnachfrage (Einwohner) im jeweiligen Planungsbereich eine Zahl notwendiger bzw. tragfähiger Arztsitze ermittelt wird. Für die hausärztliche Versorgung wird beispielsweise eine Kennziffer von 1.671 Einwohnern je Arzt auf der Ebene der Mittelbereiche angesetzt (KBV 2013: 5). Der Ausgangspunkt des hier vorgestellten Optimierungsansatzes (Wieland 2017b) ist, ebenso wie in der Bedarfsplanung, eine normative Verteilung von Arztsitzen für Allgemeinärzte auf der Grundlage der gebietsspezifischen Nachfrage. Allerdings wird diese Gebietsnachfrage
1.) auf der kleinräumigen Ebene der Ortsteile ermittelt (anstatt auf den größer zugeschnittenen Mittelbereichen) und
2.) nicht als reine lokale Nachfrage (Einwohner vor Ort) operationalisiert, sondern als Ergebnis von räumlichen Interaktionen zwischen den Teilgebieten unter den Bedingungen einer möglichen Mehrfachorientierung und der Gewichtung der Erreichbarkeit mit einer Distanzfunktion (Nicht-lineare Perzeption der Entfernung).

Als Beispiel für die Anwendung der modellgestützten Optimierung soll die „ideale“ räumliche Verteilung der Allgemeinärzte im planerischen Mittelbereich Einbeck modelliert werden. Dieser Mittelbereich umfasst zwei südniedersächsische Gemeinden (Dassel und Einbeck) mit insgesamt 67 Ortsteilen, 43.896 Einwohnern und aktuell 20 Allgemeinärzten (Stand: 2016).
Im Optimierungsalgorithmus soll die Erreichbarkeit als normative Komponente integriert werden, d.h. es sollen bestimmte räumliche Versorgungsorientierungen der Bevölkerung „definiert“ werden, damit das Optimierungsergebnis auch eine adäquate Erreichbarkeit sicherstellt. Da sich die Patienten nicht am nächstliegenden Standort orientieren (müssen) und mehrfachorientiert sein können, müssen gleichzeitig aber auch potenzielle Interaktionen mit weiter entfernt liegenden Arztpraxen einbezogen werden, auch wenn diese natürlich unwahrscheinlich sind. Da im vorliegenden Untersuchungsgebiet Südniedersachsen aus jedem Teilgebiet der nächstliegende Allgemeinarzt in maximal 20 Minuten PKW-Fahrtzeit erreichbar ist (siehe Teil I des Beitrags), wird diese Zeitstufe als Maximum angesetzt, ab dem die Auswahlwahrscheinlichkeit einer Arztpraxis gegen null tendiert (aber niemals exakt null wird, da diese Interaktionen nach wie vor als möglich angesehen werden).
Weiterhin wird definiert, dass sich der Hauptteil der Nachfrage-Arzt-Interaktionen im Rahmen von bis zu zehn Minuten Fahrtzeit bewegen, da der Großteil der Wohnorte innerhalb dieser Zeit an einen Arztstandort angebunden ist (siehe Teil I des Beitrags). Allerdings sind Stadt- und Ortsteile keine „Punkte“ im Raum, sondern ihrerseits Siedlungsflächen, weshalb auch innerorts von einer Mindestfahrtzeit ausgegangen wird: Diese wird im vorliegenden Beispiel mit fünf Minuten gleichgesetzt. Diese drei Eckwerte der Erreichbarkeit sind, je nach Untersuchungsgegenstand, auf der Grundlage theoretischer Überlegungen frei zu definieren. Sie lassen sich in räumlichen Interaktionsmodellen durch eine logistische (s-förmige) Distanzfunktion modellieren (siehe Abb. 5), die die erste Ausgangsbedingung im Optimierungsbeispiel darstellt.
Der erste Berechnungsschritt im Algorithmus ist nun die Ermittlung der Gesamtnachfrage in den Teilgebieten (gemessen in Personen) mit Hilfe des Huff-Modells, allerdings ausschließlich unter der Bedingung, dass sich die Nachfrage so verteilt, wie es anhand der konstruierten Distanzfunktion angenommen wird (d.h. der Attraktivitäts- bzw. Größenindikator ist konstant). Im Ergebnis wird für jedes Teilgebiet die Nachfrage ermittelt, die bestünde, wenn die räumliche Nachfrageverteilung ausschließlich anhand der bedingten Erreichbarkeit vonstattengehen würde. Im zweiten Schritt des Algorithmus werden nun die Teilgebiete anhand der ermittelten Nachfrage absteigend geordnet, was dazu führt, dass das Gebiet mit der größten Ortsnachfrage als erstes behandelt wird.
Anhand dieser Ortsnachfrage lässt sich unter der Bedingung einer bekannten Tragfähigkeitsgrenze (Zweite Ausgangsbedingung) berechnen, wieviel Anbieter (Allgemeinärzte) in jedem Teilgebiet tragfähig sind (Dritter Berechnungsschritt). Hierbei wird im vorliegenden Fall auf die Versorgungskennziffer aus der Bedarfsplanung von 1.671 Einwohnern zurückgegriffen (d.h. rein rechnerisch erfüllen 1.671 Einwohner die Tragfähigkeitsschwelle von genau einem Allgemeinarzt). Die Zahl der tragfähigen Ärzte vor Ort wird gerundet. Hierdurch wird sichergestellt, dass asymmetrische Agglomerationen im Ort mit der größten Nachfrage vermieden werden. Da es aber auch notwendig ist, die ideale Gesamtzahl der Allgemeinärzte im Mittelbereich zu erreichen, wird im vierten Schritt des Algorithmus eine Prüfung vorgenommen: Ist die (gerundete) optimale Anzahl der Ärzte vor Ort gleich null, aber die maximale Anzahl der Ärzte im Gesamtgebiet (Dritte Ausgangsbedingung) noch nicht (bzw. schon) erreicht, wird die neue Anzahl gleich eins (bzw. null) gesetzt. Die maximale Anzahl im gesamten Mittelbereich ergibt sich wiederum aus der Tragfähigkeitsgrenze (Zweite Bedingung: 1.671 Einwohner je Arzt) und der Einwohnerzahl (43.896 Personen), was (gerundet) in 26 Allgemeinärzten resultiert. In jedem Fall wird die berechnete Anzahl der Ärzte je Ort als Attraktivitätsindikator in die Modellrechnung eingesetzt (Fünfter Schritt) und die Berechnung startet wieder mit dem ersten Schritt für den nächsten Angebotsstandort (d.h. jener mit der nächstniedrigeren Ortsnachfrage).
Das Ergebnis des Algorithmus (Abb. 6) ist eine räumliche Verteilung der Arztstandorte, bei der
1.) die vorher normativ definierten Kriterien der Erreichbarkeit in Abhängigkeit der tatsächlichen räumlichen Lage der Ortsteile erfüllt sind,
2.) die ebenso normativ gesetzte Tragfähigkeitsgrenze eines Standortes und
3.) die anvisierte Gesamtzahl der Ärzte im Mittelbereich berücksichtigt werden.
Die Berechnung in R (R Core Team 2016) wurde auf der Grundlage eines bestehenden Optimierungsalgorithmus aus dem Paket MCI (Wieland 2016) durchgeführt.
Die Versorgung des Mittelbereichs Einbeck vor und nach der Optimierung mit diesem auf dem Huff-Modell basierenden „Remix“-Modell ist in Abbildung 7 dargestellt. In der oberen Karte ist deutlich zu erkennen, dass das allgemeinärztliche Angebot im Wesentlichen im Kernort von Einbeck konzentriert ist (zehn Ärzte). Die anderen zehn Ärzte verteilen sich auf fünf Teilgebiete, d.h. von den 67 Ortsteilen verfügen 61 über keinerlei allgemeinärztliches Angebot. In einer Ortschaft nördlich des Kernortes (Andershausen mit 114 Einwohnern und einem Allgemeinarzt) besteht zudem eine offensichtliche Überversorgung (grüner Punkt). Nach der Anwendung des Optimierungsmodells (untere Karte) ergeben sich deutliche Unterschiede: Die Zahl der Allgemeinärzte im Kernort von Einbeck ist auf acht gesunken. Insgesamt verteilen sich 26 Allgemeinärzte auf 19 Ortsteile, wobei die Streuung der Anzahl Standorte je Teilgebiet deutlich geringer geworden ist. Wendet man den Gini-Koeffizienten auf die Konzentration der absoluten Anzahl der Ärzte in den Teilgebieten an, liegt dieser Indikator vor der Optimierung bei 0,94 und nach der Optimierung bei 0,79. Die räumliche Konzentration des ärztlichen Angebots wurde also deutlich abgeschwächt.
Fazit und Ausblick
Die regionale Versorgungsforschung untersucht die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsdienstleistungen unter besonderer Berücksichtigung von Versorgungsdisparitäten. In diesem Zusammenhang wurden zunächst zwei Aspekte identifiziert, die zum Kernanspruch dieser Disziplin gehören: Hier ist an erster Stelle die Kleinräumigkeit der Analyseebene zu nennen, die nicht nur sinnvoll, sondern offenbar auch notwendig ist. Zweitens ist die Berücksichtigung der Verkehrserreichbarkeit für Gesundheitseinrichtungen von entscheidender Bedeutung, insbesondere vor dem Hintergrund einer räumlichen Konzentration von Gesundheitsangeboten und im Kontext des demographischen Wandels. Beides wurde anhand eines Beispiels der Versorgung und Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen in Südniedersachsen demonstriert.
Um den theoretisch-konzeptionellen Ein-
schränkungen dieser konventionellen Analysemethoden der regionalen Versorgungs-
forschung zu begegnen, wurden zwei modellgestützte Ansätze zur Versorgungsanalyse bzw. Netzoptimierung vorgestellt, die zwei weitere wichtige theoretische Aspekte der Gesundheitsversorgung aus der Nachfragesicht integrieren: Einerseits ist hier die Annahme einer potenziellen Mehrfachorientierung von Patienten bzw. der qualitative Aspekt einer Auswahl an verschiedenen Einrichtungen zu nennen. Andererseits ist in den Modellanalysen die nachfrageseitige Wahrnehmung von Entfernungen bzw. Fahrtzeiten berücksichtigt worden. Natürlich ist vor allem der zuletzt dargestellte iterative Optimierungsalgorithmus zunächst nicht viel mehr als ein mathematisches Gedankenspiel. Es konnte aber aufgezeigt werden, welches Potenzial diese Modelle, die vorrangig in der Handelsforschung eingesetzt werden, auch im Kontext der Versorgungsforschung haben.  
Sowohl die konventionellen Analysen als auch die beiden miteinander eng verwandten modellgestützten Ansätze sind aus dem technischen Blickwinkel heutzutage – Geographischen Informa-tionssystemen sei Dank – mit vertretbarem Aufwand durchführbar. Abseits der theoretischen Grundlagen – die lediglich einen Teil des Nachfragerverhaltens im Gesundheitsbereich fassen können – besteht hier aber eine grundlegende Grenze dieser Analyseformen im Hinblick auf die notwendigen Daten: Die legitime Forderung einer „digitalen Agenda in der Versorgungsforschung“ im „big data“-Zeitalter bei gleichzeitiger Nicht-Vernachlässigung theoretisch-kausaler Zusammenhänge (Schrappe 2016) lässt sich vollends auf die regionale Versorgungsforschung übertragen. In der Tat existieren alle notwendigen Daten für regionale Analysen mittlerweile in digitaler Form – ob sie allerdings verfügbar sind (oder, genauer gesagt: verfügbar gemacht werden), ist eine andere Frage.
Hierbei ist festzustellen, dass nahezu alle raumbezogenen Informationen in beispielloser Qualität und Vollständigkeit frei zur Verfügung stehen: Zu nennen ist hier insbesondere das OpenStreetMap-Projekt, das Gebäude, Ortsteile oder ein detailliertes Wegenetz für Erreichbarkeitsanalysen bietet und somit ein Musterbeispiel für eine frei verfügbare „big data“- bzw. „big spatial data“-Quelle darstellt. Dies trifft freilich nicht auf alle notwendigen Informationen zu: Selbst nur die Adressen (!) von (Kassen-)Arztpraxen werden mitunter als Objekt des Datenschutzes behandelt, auch die öffentliche Verfügbarkeit von demographischen Informationen unterhalb der Gemeindeebene ist keine Selbstverständlichkeit. Hier ergeben sich – gerade abseits von Großstädten mit eigenen Statistikämtern – große Einschränkungen bzw. Zusatzaufwände in der praktischen Durchführung von regionalen Versorgungsanalysen. Es besteht ein offenkundiges Defizit: Solche Daten, die den zuständigen Stellen intern vorliegen (müssen), sollten besser öffentlich verfügbar sein, auch wenn – und dies kann nicht oft genug betont werden – die beste Datenlage keinesfalls theoretisch-konzeptionelle Überlegungen in der kleinräumigen Versorgungsforschung ersetzen kann. <<

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