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Publicly Available Published by De Gruyter Saur October 26, 2018

Zum Umgang mit umstrittener Literatur in Bibliotheken aus ethischer Perspektive

Am Beispiel der Publikationen rechtsradikaler und rechtspopulistischer Verlage

  • Hermann Rösch

    Hermann Rösch

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From the journal Bibliotheksdienst

Zusammenfassung

Obwohl Bibliotheken in demokratischen Systemen als Garanten der Informationsfreiheit fungieren, im Bestandsaufbau Pluralismus und weltanschaulicher Neutralität verpflichtet sind, stehen sie immer wieder vor der Frage, ob bestimmte Werke brisanten Inhalts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen oder nicht. Das gilt insbesondere für erotische Darstellungen besonders expliziter Art, für Gewaltdarstellungen und für Positionen des politischen und religiösen Extremismus. Bedingt durch den Aufschwung rechtspopulistischer und rechtsradikaler Bewegungen stehen vor allem Öffentliche Bibliotheken verstärkt vor der Herausforderung zu entscheiden, wie mit Publikationen aus diesem Lager verfahren werden soll. Im Folgenden werden zunächst beispielhaft verschiedene Reaktionen beschrieben und der Stand der Debatte resümiert, ehe Überlegungen zum Umgang mit umstrittenen Werken aus bibliotheksethischer Sicht angestellt werden.

Abstract

Again and again libraries are facing the question whether or not they should make certain works dealing with controversial content accessible to the public, despite the fact that, as institutions, they stand for the freedom of information and are committed to pluralism and ideological neutrality in building-up their collections. This is the case for erotic content of an explicit nature, for drastic representations of violence and for books promoting political or religious extremist points of view in particular. The rise of right-wing populism and radical right-wing movements has intensified the challenge for public libraries to decide how to deal with publications coming from that camp. In what follows I shall first describe different reactions to the problem and sum up the current state of debate, and then proceed to considerations on how to deal with controversial works from a perspective of library ethics.

1 Einführung

Bibliotheken stehen immer wieder vor der Frage, ob bestimmte Werke brisanten Inhalts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen oder nicht. Entsprechende Entscheidungen werden vor allem in Öffentlichen Bibliotheken schon beim Bestandsaufbau gefällt. In Wissenschaftlichen Bibliotheken sind es auch Altbestände wie etwa nationalsozialistisches Schriftgut, die ein durchdachtes Vorgehen erfordern. Pflichtbibliotheken müssen entscheiden, wie sie mit Werken umgehen, in denen z. B. auf der Grundlage politischen oder religiösen Extremismus zur Verletzung verfassungsrechtlich garantierter Grundwerte aufgerufen wird oder andere problematische Inhalte verbreitet werden. Für Bibliotheken, die ihren Nutzern Zugang zum Internet ermöglichen, stellt sich das Problem mit völlig neuer Qualität.[1] Nicht selten sind es auch einzelne Nutzer und Nutzerinnen oder Interessengruppen, die Beschwerde führen und verlangen, dass Inhalte, die ihrer subjektiven Weltanschauung widersprechen, aus der Bibliothek entfernt und der freien Nutzung auf andere Weise entzogen werden oder die umgekehrt verlangen, dass Werke, die ihre subjektive Sicht spiegeln, in den Bestand aufgenommen werden. Während früher vorwiegend Printwerke im Zentrum der Auseinandersetzungen standen, erstreckt sich das Problem mittlerweile auch auf andere Medienarten und Dokumenttypen wie Filme, Spiele, Musik, Onlineressourcen usw.

Die Inhalte und Werke, die Erwägungen zur Einschränkung des freien Zugangs in Bibliotheken hervorrufen, lassen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in zehn Fallgruppen unterteilen:[2]

  • Erotik und Darstellungen sexueller Handlungen,

  • Gewaltdarstellungen,

  • Politischer Extremismus,

  • Religiöser Extremismus,

  • Verletzung von Persönlichkeitsrechten,

  • Blasphemie - Beschimpfung von Bekenntnissen und Religionsgemeinschaften,

  • Verstöße gegen politische Korrektheit,

  • Plagiarismus und Urheberrechtsverletzungen,

  • Militärische und kriminalistische Fachbücher,

  • Jugendschutz.

Rein quantitativ gaben und geben erotische Darstellungen vor allem unter dem Aspekt des Jugendschutzes am häufigsten Anlass zu Benutzungseinschränkungen. Hier soll jedoch der Aspekt des politischen Extremismus im Vordergrund stehen. Dies ist zurückzuführen auf die jüngsten Erfolge rechtspopulistischer Gruppierungen und deren forcierte Anstrengungen, durch Aktivitäten im Internet aber auch durch klassische Printprodukte für ihre Ideologie zu werben. Einige Publikationen rechter Verlage, in denen aktuelle Entwicklungen oder bestimmte Erscheinungen nicht nur aus extrem rechter Perspektive kommentiert, sondern auch gezielt verfälscht und in bizarren verschwörungstheoretischen Projektionen dargestellt werden, sind zu Bestsellern geworden. Beispielhaft sei verwiesen auf Publikationen von Udo Ulfkotte: „Gekaufte Journalisten“[3] oder „Die Asylindustrie“[4], ferner die unter dem Titel „Finis Germania“ erschienene Sammlung mit Beiträgen von Rolf Peter Sieferle[5] und schließlich Bände des früher als Romanautor erfolgreichen Akif Pirinçci mit Titeln wie „Deutschland von Sinnen“[6] und „Die große Verschwulung“[7]. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird diesen und vergleichbaren Publikationen u. a. rassistische, volksverhetzende, rechtsradikale und militant homophobe Gesinnung vorgeworfen.

Im Folgenden werden zunächst verschiedene bibliothekarische Reaktionen auf die Herausforderung durch die Bücher rechtsradikaler Verlage beschrieben und der aktuelle Stand der Debatte resümiert. Anschließend werden Überlegungen zum Umgang mit umstrittenen Werken aus bibliotheksethischer Sicht angestellt. Dass die hier angesprochene Thematik in Öffentlichen Bibliotheken eine bedeutendere Rolle spielt als in Wissenschaftlichen Bibliotheken steht außer Frage. Die damit verbundenen grundsätzlichen Konflikte und Dilemmata tauchen jedoch in modifizierter Form auch in Wissenschaftlichen Bibliotheken auf.

2 Die aktuelle Debatte um Publikationen rechtsradikaler Autoren/Verlage in Bibliotheken: eine Bestandsaufnahme

Wie aktuell das Thema ist, kann daran abgelesen werden, dass auf dem Berliner Bibliothekartag im Juni 2018 zwei sehr gut besuchte Podiumsdiskussionen sich dieser Frage gewidmet haben.[8] Schon Anfang 2016 hatte der Deutsche Bibliotheksverband ein Positionspapier zum bibliothekarischen Umgang mit umstrittenen Werken verabschiedet, dem sich später auch der Dachverband Bibliothek Information Deutschland angeschlossen hat. Darin wird der prinzipielle Ausschluss umstrittener Werke aus den Bibliotheksbeständen eindeutig abgelehnt:

„Eine Zensur von Inhalten aus politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen sowie die Einschränkung des Zugriffs auf Informationen lehnen die bibliothekarischen Verbände ab. Sie setzen sich für die Wahrung der Meinungsvielfalt und den freien Zugang zu Informationen ein. (…) Ein umfassendes Informationsangebot schließt auch kontrovers diskutierte Titel ein.“[9]

Die Gegenposition hat Jan-Pieter Barbian bereits im Januar 2016 formuliert. Unter dem Titel „Die Grenzen der Liberalität“ begründet er aus seiner Sicht, „Warum Bücher rassistischer und rechtspopulistischer Autoren nicht in eine Öffentliche Bibliothek gehören“[10]. In der von ihm geleiteten Stadtbibliothek Duisburg sind Ende 2015 nicht nur die anstößigen Werke Pirinçcis aus dem Bestand entfernt worden, sondern auch dessen völlig unbedenkliche und seit 1989 erschienenen Katzenromane.[11]

Barbians Position ist keine Einzelstimme. Die bibliothekarische Öffentlichkeit ist hinsichtlich des Umgangs mit Publikationen der genannten Art offenkundig gespalten. Während der Veranstaltung über „Populismus in Deutschland“ auf dem Berliner Bibliothekartag wurde das Saalpublikum aufgefordert an einer online-Abstimmung teilzunehmen und zu entscheiden, ob es dafür sei, das oben erwähnte Werk „Finis Germania“ aus dem rechten Verlag Antaios in den Bestand aufzunehmen. Von 122 Personen stimmten 38 (31,1 %) mit ja und 84 (68,8 %) mit nein.[12] Die bibliothekarischen Vertreter auf dem Podium hatten hingegen dafür votiert, vergleichbare Publikationen im Bibliotheksbestand zur Verfügung zu stellen. Die Lektoratskooperation wiederum hatte in der zweiten Veranstaltung (Kollaborative Marktsichtung) in ihrem Statement festgestellt, dass sie Publikationen rechter Verlage aus ihrem Besprechungsdienst prinzipiell ausschließe. Damit folgte sie der Auffassung, die der Verleger Jörg Sundermeier in seinem Impulsreferat vertreten hatte. Sundermeier hatte die Bibliotheken aufgefordert, ähnlich wie viele Sortimentsbuchhandlungen und Verlage zu agieren, und „keine Kompromisse (zu) machen“[13]. Es sei keine Beschneidung der Meinungsfreiheit, „wenn Bibliotheken derart schlechte Lektüre nicht führen“, darüber hinaus gehöre es zur Auswahlfunktion der Bibliotheken „möglichst gute Lektüre - im Sinne der Volksbildung - zu führen, nicht aber schlecht gemachte Hau-Drauf-Bücher“. Abgesehen davon nährten diese Bücher „auch Zweifel am übrigen Bestand. Und dieser sollte ja in jeder Hinsicht geschützt werden“[14].

Sundermeiers Forderungen sind (auch) aus bibliotheksethischer Sicht entschieden zurückzuweisen. Verkannt wird völlig, dass Bibliotheken nicht nur der Meinungsfreiheit, sondern auch der Informationsfreiheit verpflichtet sind und zur informationellen Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger beizutragen haben.

Problematisch ist ferner Sundermeiers Vorstellung von der Bibliothek als Qualitätsfilter. Damit ist sehr schnell die Debatte um die „untere Grenze“ wiederbelebt. Wer im Übrigen soll die Kriterien für „gute Lektüre“ festlegen und wer im Einzelfall entscheiden? Derartige Vorstellungen passen nicht zur Idee des mündigen Bürgers bzw. der mündigen Bürgerin, sondern werden sehr schnell zur paternalistischen Entmündigung durch die Bibliothek und bereiten den Boden für autoritäre Bevormundung durch obrigkeitsstaatliche Instanzen, die letztlich zur Zensur führt. Geradezu abstrus ist Sundermeiers Gedanke einer viralen Wirkung „schlechter Bücher“: „Dieser Mist strahlt auf den übrigen Bestand ab - und das haben die anderen Bücher nicht verdient.“[15] Träfe dies tatsächlich zu, müssten alle Bibliotheken ihre Bestände unverzüglich „säubern“ und die Werke von Demokratiefeinden wie Otto von Bismarck oder Antisemiten wie Richard Wagner entfernen. Es drängt sich der von Sundermeier allerdings nicht benutzte Begriff des „Buchschädlings“ auf. Fairerweise sollen weitere Assoziationen an dieser Stelle unterbleiben.

Würden Bibliotheken der Empfehlung Sundermeiers, Barbians und der Lektoratskooperation folgen und Publikationen rechter Verlage grundsätzlich nicht aufnehmen, müsste jeder, der sich selbst ein Urteil bilden will, die entsprechenden Werke kaufen. Dies würde im Nebeneffekt den ökonomischen Erfolg dieser Verlage stärken. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang die Stellungnahme einer Kollegin, die ursprünglich gegen die Aufnahme rechter Literatur war, jedoch aufgrund ihrer Erfahrungen eines anderen belehrt wurde:

„Wie wichtig das richtige Handeln ist, habe ich in dem Moment erfahren, als eine junge Muslima bei mir an der Auskunft stand und Sarrazin lesen wollte, aber keinen Cent dafür ausgeben wollte.“[16]

Eine wichtige Funktion der Bibliotheken besteht darin, die Inhalte der Publikationen rechter Verlage zu kontextualisieren. Nutzerinnen und Nutzern soll es dadurch erleichtert werden, rechte Ideologeme zu dekonstruieren, dass auch die Publikationen und Stellungnahmen bereitgestellt werden, die sich kritisch darauf beziehen und fragwürdige, verzerrende und falsche Aussagen widerlegen. Während in der Bestandspolitik Neutralität und Pluralismus zu wahren sind, sollte in der Programmarbeit (vor allem der Öffentlichen Bibliotheken) zum Ausdruck kommen, dass es, wie es in der IFLA-Berufsethik heißt, zur Kernaufgabe der Bibliotheken gehört, zur „Festigung demokratischer Strukturen“ beizutragen.[17]

3 Zum Umgang mit umstrittenen Werken aus bibliotheksethischer Sicht

In den Verfassungen moderner, demokratischer Staaten gelten Meinungs- und Informationsfreiheit als Grundwerte. Dem trägt auch die UN-Menschenrechtserklärung in Art. 19 Rechnung:

„Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“[18]

Auch das Grundgesetz garantiert Meinungs- und Informationsfreiheit in Art. 5, Abs. 1:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. (…) Eine Zensur findet nicht statt.“[19]

Doch schon im nachfolgenden Absatz 2 werden Schranken benannt: Straftatbestände, Jugendschutz und Schutz der persönlichen Ehre. Genau betrachtet stellt sich heraus, dass das Grundgesetz zwar eine Vorzensur definitiv ausschließt, Nachzensur jedoch in den genannten Fallgruppen durchaus vorsieht. Konfliktpotenzial liegt in der Frage, welche Straftatbestände die Einschränkung der Informations- und Meinungsfreiheit rechtfertigen und wann der Jugendschutz oder das Recht der persönlichen Ehre verletzt sind.[20] Die damit verbundenen Auseinandersetzungen allein unter Berücksichtigung rechtlicher Gesichtspunkte zu führen, ist Ausdruck eines fragwürdigen Rechtspositivismus und missachtet die Bedeutung der ethischen Perspektive.[21]

In demokratischen Gesellschaften haben Bibliotheken den eindeutigen Auftrag, Meinungs- und Informationsfreiheit uneingeschränkt zu fördern. Auf diese Weise tragen sie zur informationellen Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger bei und unterstützen diese so in ihrem Bemühen, intellektuelle Eigenständigkeit zu wahren oder zu erlangen. Eine informierte Öffentlichkeit ist Voraussetzung partizipativer Prozesse, demokratischer Willensbildung und wirksamer Kontrolle des Regierungshandelns. Aufgabe der Bibliotheken ist es zum einen, die informationelle Asymmetrie zwischen Regierenden und Regierten zu verkleinern, im Idealfall zu beseitigen. Zum anderen bildet ein uneingeschränktes Informationsangebot eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass gezielte Falschmeldungen, lügenhafte Behauptungen und Manipulationsversuche von den Adressaten im Vergleich mit anderen Quellen erkannt und enttarnt werden können.

Dies wird jedoch nur dann gelingen, wenn die Bibliothek für die Bürgerinnen und Bürger zu einem informationellen Schutzraum wird, der frei von Vermarktungszwängen ist und keine weltanschauliche Einseitigkeiten aufweist. Bestände und Dienstleistungen dürfen keiner Zensur unterliegen und müssen das gesamte Meinungsspektrum umfassen. Nur unter dieser Voraussetzung wird sich das notwendige Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer aufbauen bzw. verstetigen lassen, dass diese dazu motiviert, fragwürdige Informationen durch Inanspruchnahme der Bestände und Dienstleistungen der Bibliotheken zu überprüfen und angemessen zu bewerten.

Aus diesen Gründen gelten Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Ablehnung und Bekämpfung von Zensur, Neutralität und Pluralismus in bibliothekarischen Berufsethiken als Grundwerte,[22] an denen Bibliothekarinnen und Bibliothekare ihr berufliches Handeln orientieren müssen. Der Rückhalt durch die berufsethischen Normen ist umso wichtiger, als die Auseinandersetzung mit umstrittener Literatur häufig zu Konflikten führt und nicht selten gar als Dilemma wahrgenommen wird.

Allzu oft werden Entscheidungen aufgrund mangelnden Problembewusstseins aus rein subjektiver Sicht, auf der Grundlage des sog. „gesunden Menschenverstandes“ getroffen oder aber allein unter Berufung auf rechtliche Rahmenbedingungen, deren ethische Unbedenklichkeit blind unterstellt wird. Insbesondere der „gesunde Menschenverstand“ ist eben kein überprüfbarer allgemeiner Standard, sondern eine kontingente, meist höchst subjektive Haltung, die als universell deklariert wird. Noch häufiger sind Konfliktvermeidungsstrategien und vorauseilender Gehorsam dafür verantwortlich, dass der Umgang mit umstrittenen Werken vorsätzlich auf ethisch bedenkliche Weise „entschärft“ wird: Werke, in denen Minderheitspositionen enthalten sind bzw. solche, die dem Mainstream nicht entsprechen, werden erst gar nicht angeschafft, nicht oder nur eingeschränkt zugänglich gemacht oder stillschweigend aus dem Bestand entfernt, um Ärger zur vermeiden. Einen wichtigen Beitrag zur Verhinderung derartigen Verhaltens kann bibliothekarische Berufsethik leisten. Voraussetzung ist allerdings, dass die dort formulieren ethischen Grundwerte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern im Bewusstsein der handelnden Personen präsent sind und gelebt werden.

Die American Library Association tritt allen Zensurversuchen seit langem offensiv entgegen. Der Verband fordert alle Kolleginnen und Kollegen auf, erfolgreiche oder abgewehrte Zensurversuche seinem Office for Intellectual Freedom zu melden. Dieser veröffentlicht jährlich Ende September in einer groß angelegten Kampagne mit anderen Unterstützerorganisationen die Liste der 10 umstrittensten Werke verbunden mit dem Appell, Zensurversuche grundsätzlich abzuwehren.[23] Vergleichbare bibliothekarische Initiativen existieren in Deutschland nicht. Immerhin hat der dbv 2016 das bereits zitierte Positionspapier zum Umgang mit umstrittener Literatur publiziert. Darin ist ein klares Bekenntnis zum Auftrag der Bibliotheken enthalten, „die demokratische Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung“ zu fördern. Demnach haben Bibliotheken die Pflicht, „gesellschaftliche und politisch kontrovers diskutierte(n) Werke“ bereitzustellen und „einen politisch, weltanschaulich und religiös ausgewogenen Bestand“ sowie „ein vielfältiges Spektrum an Meinungen“ zu gewährleisten.[24] Hilfreich wäre darüber hinaus, wenn eine Ethikkommission der bibliothekarischen Berufsverbände existierte, die ähnlich wie das Office for Intellectual Freedom der ALA zur Popularisierung der bibliotheksethischen Grundwerte innerhalb und außerhalb des Berufsstandes beitrüge und Bibliothekarinnen und Bibliothekaren im Falle von Konflikten und Dilemmata unterstützend zur Seite stünde.

4 Zusammenfassung

Gerade im Umgang mit umstrittenen Werken müssen Bibliotheken beweisen, dass sie Zensur grundsätzlich ablehnen. Um dieser Herausforderung wirksamer begegnen zu können, sind in Deutschland mehrere Maßnahmen erforderlich. Das Bekenntnis zu Meinungs- und Informationsfreiheit sollte nicht nur in der Individualethik, d. h. der Berufsethik verankert sein, sondern darüber hinaus Grundlage einer noch zu formulierenden und zu popularisierenden bibliothekarischen Institutionenethik werden. Daraus können anschließend Kampagnen abgeleitet werden, die gegenüber der Öffentlichkeit, den Unterhaltsträgern und den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren den besonderen Stellenwert der Bibliotheken im ständigen Ringen um Meinungs- und Informationsfreiheit nachhaltig unterstreichen. Geradezu vorbildlich sind in diesem Zusammenhang die bereits erwähnten, jährlich wiederholten Aktionen in den USA („Banned Books Week“[25]) oder in Kanada („Freedom to Read Week“[26]). Die einzelnen Bibliotheken könnten sich zudem bei der Formulierung ihrer Erwerbungsprofile, ihrer Dienstleistungspolicies und ihrer Benutzungsordnungen auf die Institutionenethik berufen. Dies hätte nicht nur einen standardisierenden Effekt, sondern würde darüber hinaus ebenfalls das Bewusstsein dafür stärken, dass Bibliotheken und Bibliothekare Anwälte der Meinungs- und Informationsfreiheit sind.

In Deutschland kommt es im Umgang mit umstrittenen Inhalten in der Gegenwart noch viel zu häufig zu Verstößen gegen die bibliothekarische Ethik, weil weder ethische Bezüge noch rechtliche Normen bekannt sind oder weil Entscheidungen in vorauseilendem Gehorsam mit dem Ziel getroffen werden, „auf der sicheren Seite“ zu sein. Weitere Maßnahmen sollten daher ergriffen werden. So sollten vor allem ethische Kontexte in Studium, Aus- und Fortbildung intensiv und regelmäßig thematisiert werden. Die bestehende Berufsethik und eine noch ausstehende Institutionenethik müssten systematisch popularisiert werden, damit sie fest im Bewusstsein der Verantwortlichen verankert sind. Wichtig sind ferner Möglichkeiten zum regelmäßigen berufsöffentlichen Austausch über ethische Konfliktfälle, Vorgehensweisen und Präventionsmaßnahmen. In diesem Zusammenhang ist auch an frei zugängliche, aktuelle Fallstudiensammlungen zu denken, die sich orientieren könnten an der bereits bestehenden Datenbank „Ethische Fundierung bibliothekarischer Praxis (EFubiP)“[27].

Die ethisch abgesicherte Lösung von Konfliktfällen im Kontext umstrittener Inhalte wird erheblich erleichtert, wenn die einzelnen Bibliotheken über klar formulierte und publizierte Erwerbungs- und Sammlungsprofile verfügen und wenn Entscheidungskriterien und -verfahren z. B. durch Musterformulare und definierte Geschäftsgänge ebenso standardisiert wie transparent sind. Auf dieser Grundlage werden Bibliotheken und Bibliothekare gut gewappnet sein, um ihren Beitrag zur Garantie von Meinungs- und Informationsfreiheit im größtmöglichen Umfang zu leisten, umstrittenen Inhalten auch aus ethischer Sicht gerecht zu werden und damit ihren fundamentalen Auftrag erfüllen zu können.

About the author

Hermann Rösch

Hermann Rösch

Published Online: 2018-10-26
Published in Print: 2018-10-10

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 6.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bd-2018-0093/html
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