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Publicly Available Published by De Gruyter April 14, 2020

Verlust und Wiedererlangen der Kontrolle über den Drogengebrauch

Zusammenfassung des CRC/TRR 265 (https://sfb-trr265.charite.de/)

  • Shuyan Liu , Anne Beck EMAIL logo , Michael N. Smolka , Christian Beste , Tanja Endrass , Michael A. Rapp , Falk Kiefer , Heike Tost , Rainer Spanagel and Andreas Heinz
From the journal Neuroforum

Hauptrisikofaktoren für Mortalität und Morbidität weltweit sind Alkohol- und Tabakkonsum. Während das Wissen über individuelle Faktoren, welche die Entstehung und Aufrechterhaltung des Substanzkonsums fördern, zunimmt, fehlt es immer noch an fundiertem Wissen über modulierende Faktoren und Mechanismen, die zum Verlust und zur Wiedererlangung der Kontrolle über den Drogenkonsum beitragen. Ein besseres Verständnis dieser Faktoren und Mechanismen wird entscheidend sein, um die Behandlung von Störungen des Substanzgebrauchs zu verbessern. Bei den Mechanismen, die zum Verlust und zur Wiedererlangung der Kontrolle über den Substanzgebrauch, insbesondere von Alkohol und Tabak, beitragen, lassen sich hier vier Aspekte unterscheiden (siehe Abbildung 1):

  1. Der Einfluss von Pawlowschen Mechanismen, die dazu führen, dass drogenassoziierte Reize als konditionierte Stimuli wirken und Drogenverlangen auslösen können. Einfluss auf komplexe Verhaltensweisen können solche Pawlowschen Stimuli dann nehmen, wenn sie beispielsweise im Rahmen des sogenannten „Pavlovian-to-Instrumental Transfer“ (PIT) als Hintergrundreize Einfluss auf die Ausführung instrumenteller Verhaltensweisen nehmen. So konnte gezeigt werden, dass positiv konditionierte Pawlowsche Reize ein Annäherungsverhalten fördern, auch wenn letzteres im Rahmen zielgerichteter Verhaltensweisen gar nicht hilfreich ist (Garbusow et al., 2014). Individuelle Unterschiede in der Ansprechbarkeit auf solche Pawlowschen Reize im Rahmen des PIT-Paradigmas waren mit verstärktem Alkoholkonsum bei jungen Erwachsenen und mit einem erhöhten Rückfallrisiko bei alkoholabhängigen Patienten assoziiert (Garbusow et al., 2015; Sommer et al., 2020).

  2. Zweitens tragen zum Verlust der Kontrolle über den Substanzgebrauch habituelle Konsummuster bei, die mehr oder weniger „automatisiert“ ablaufen und – anders als zielgerichtete Verhaltensweisen – nicht alle im Handlungsfeld möglichen Optionen bei der Handlungsplanung berücksichtigen (Dolan & Dayan, 2013). Erste Studien beim Menschen zeigen bei vielen Substanzgebrauchsstörungen eine Neigung zu gewohnheitsmäßigem anstelle von zielgerichtetem Verhalten (habitual versus goal-directed control), bezüglich des Alkoholkonsums müssen aber Alkoholerwartungen und damit kontextuelle Faktoren berücksichtigt werden (Voon et al., 2015; Sebold et al., 2017).

  3. Als dritter wesentlicher Faktor wird der Gebrauch alternativer Verstärker angesehen, der zur Wiedererlangung der Kontrolle über den Substanzgebrauch beitragen kann, oder eben dann zum Verlust der Kontrolle über den Drogenkonsum beiträgt, wenn alternative Verstärker gegenüber der Drogenwirkung an Bedeutung verlieren. Eine aktuelle Arbeit aus der Arbeitsgruppe von Markus Heilig zeigt hier, dass bezüglich des Alkoholkonsums Veränderungen in der GABAergen Inhibition im limbischen System, insbesondere in der Amygdala, zur relativen Bevorzugung beziehungsweise Vernachlässigung alternativer Verstärker gegenüber dem Drogenkonsum beitragen (Augier et al., 2018).

  4. Viertens wird die Wiedererlangung der Kontrolle über den Substanzkonsum in aller Regel mit Inhibitionsmechanismen in Verbindung gebracht, die im Rahmen langfristiger Handlungsplanung als neurobiologisches Korrelat eine Aktivierung des frontalen Kortex voraussetzen (Volkow & Morales, 2015). Bei alkoholabhängigen Patienten konnte gezeigt werden, dass Exekutivfunktionen wie das Arbeitsgedächtnis bei vielen Patientinnen und Patienten nicht signifikant beeinträchtigt sind, was aber bezüglich der neurobiologischen Korrelate eine erhöhte und damit wahrscheinlich „ineffiziente“ Aktivierung im frontalen Kortex gegeben ist, die wiederum mit dem Rückfallrisiko nach Entgiftung korreliert (Charlet et al., 2014). Umgekehrt gibt es Hinweise darauf, dass das Training von Exekutivfunktionen oder die indirekte Verbesserung durch sportliche Aktivität zur Senkung des Rückfallrisikos beitragen könnte (Zschucke et al., 2012).

Abbildung 1: 
Vier Schlüsselkomponenten im Kontext: Verlust versus Wiedergewinnung der Kontrolle über den Drogengebrauch.
Abbildung 1:

Vier Schlüsselkomponenten im Kontext: Verlust versus Wiedergewinnung der Kontrolle über den Drogengebrauch.

Das Ziel unseres Forschungskonsortiums ist es, die Trajektorien des Verlusts und der Wiedererlangung der Kontrolle über den Drogenkonsum zu identifizieren, die zugrundeliegenden neurobiologischen und Lernmechanismen zu untersuchen und Mechanismen-basierte Therapien zu entwickeln. Diese Ziele sollen durch drei Ansätze erreicht werden:

  1. Die Nutzung innovativer sogenannter Mobile-Health-Tools um im Verlauf den Einfluss von Triggern (Drogenreizen, Stressexposition und kleine Drogenkonsummengen zu Beginn des Rückfalls) und der modifizierenden Faktoren (z.B. Alter, Gender, körperliche Aktivität und kognitive Funktionen) auf den Alkohol- und Tabakkonsum in der Lebenswelt und in Tiermodellen des Suchtverhaltens zu untersuchen.

  2. In eng-vernetzen Studien am Menschen und im Tiermodell (translationale Tandemprojekte) sollen die entscheidenden Mechanismen identifiziert und mathematisch modelliert werden, die den Einfluss solcher Trigger und modifizierender Faktoren auf zielgerichtete, habituelle und zwanghafte Aspekte des Drogenkonsums vermitteln.

  3. Darauf aufbauend sollen Interventionen entwickelt werden, die spezifisch auf diese Mechanismen zielen, um die Wiedergewinnung der Kontrolle über den Drogenkonsum zu unterstützen.

Das Innovationspotenzial unseres Forschungsansatzes basiert auf drei aktuellen Entwicklungen in der Suchtforschung:

  1. Ein dimensionaler Ansatz, der Suchterkrankungen als Kontinuum versteht, das vom zielgerichteten und genussorientierten Drogenkonsum bis hin zum habituellen und schließlich zwanghaften Konsum reicht.

  2. Die zunehmend verfeinerte Entwicklung komputationaler Verhaltensmodelle, die den Verlust und die Wiedergewinnung der Kontrolle über den Drogenkonsum modellieren und vorhersagen können und so entscheidende komputationale Schritte und ihre neurobiologischen Korrelate bezüglich belohnungsabhängigen Lernens, der Stressempfindlichkeit und kognitiven Kontrolle erklären kann.

  3. Technologische Fortschritte in sogenannten Mobile-Health-Tools inklusive des Ecological Momentary Assessments, der Geolokalisation und mobiler Sensoren, die Verhaltensbeobachtungen, kognitive und emotionale Zustände, Stressempfindlichkeit und die Exposition gegenüber verschiedenen Umweltfaktoren in der Lebenswelt direkt erfassen können.

Auf der Grundlage langandauernder Zusammenarbeit der Initiatoren dieser Initiative wollen wir diese neuen Möglichkeiten in dem Transregio CRC/TRR 265 (Heinz et al., 2020) verwirklichen, um in einer 12-Jahres Perspektive 1) die biologischen und Umweltfaktoren zu identifizieren, die den Krankheitsverlauf beeinflussen, 2) molekulare, neurokomputationale und neurokognitive Mechanismen identifizieren, die den Verlust und die Wiedergewinnung der Kontrolle über den Suchtmittelkonsum in der Lebenswelt steuern und 3) individuell angepasste Interventionen entwickeln, welche auf diese Mechanismen zielen.

Danksagung:

Mitglieder des CRC/TRR 265: Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Dr. Anne Beck, Prof. Dr. Felix Bermpohl, Prof. Dr. Christian Beste, Dr. Lorenz Deserno, Prof. Dr. Daniel Durstewitz, Prof. Dr. Ulrich Ebner-Priemer, Prof. Dr. Tanja Endrass, Prof. Dr. Herta Flor, Dr. Anita C. Hansson, Prof. Dr. Christine Heim, Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz, Prof. Dr. Stefan Kiebel, Prof. Dr. Falk Kiefer, Prof. Dr. Peter Kirsch, Prof. Dr. Clemens Kirschbaum, Dr. Georgia Koppe, PD Dr. med. Bernd Lenz, Dr. Michael Marxen, Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Prof. Dr. Wolfgang E. Nagel, PD Dr. Dr. Hamid R. Noori, PD Dr. Maximilian Pilhatsch, Prof. Dr. Josef Priller, Prof. Dr. Dr. Michael Rapp, Prof. Dr. Marcella Rietschel, Prof. Dr. Nina Romanczuk-Seiferth, PD Dr. Florian Schlagenhauf, Prof. Dr. Michael N. Smolka, Prof. (apl.) Dr. Wolfgang H. Sommer, Prof. Dr. Rainer Spanagel, Prof. Dr. Jan Stallkamp, Dr. Ann-Kathrin Stock, Prof. Dr. Andreas Ströhle, Dr. Dr. Heike Tost, Prof. (apl.) Dr. Sabine Vollstädt-Klein, Prof. Dr. Dr. Henrik Walter, Prof. Dr. Christine Winter, Prof. (apl.) Dr. Georg Winterer Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 402170461 – TRR 265.


Corresponding author: Anne Beck, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Charité Campus Mitte, Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Germany, E-mail:

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2020-04-14

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 26.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nf-2020-0008/html
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