Zusammenfassung
Bei allen Wirbeltieren ist das visuelle Mittelhirn eingebunden in die Raumorientierung und speziell in die Ausrichtung der sensorischen Systeme. Wie autonom aber ist diese Struktur? Bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln wird das optische Tectum als wichtigstes visuelles Zentrum betrachtet, das eine zentrale Funktion bei der gesamten Verhaltenssteuerung hat. Dem Colliculus superior der Säuger wird dagegen nur eine untergeordnete Rolle als ausführende Station unter Kontrolle des Kortex zugewiesen.
Diese klassische Sicht auf die Gehirnorganisation der Wirbeltiere ist nach neueren Befunden nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wir haben in diesem Artikel verschiedene Befunde zusammengestellt, die bei allen Wirbeltieren auf eine vergleichbare Integration des visuellen Mittelhirns in die Verarbeitung sensorischer Stimuli hinweisen. In vergleichend anatomischen Arbeiten sind identische Projektionen und Zelltypen beschrieben worden. Läsionsexperimente führen zu Ausfallserscheinungen, die nicht mit der klassischen Vorstellung erklärt werden können. Bei Vögeln und bei Säugern werden zunehmend sensorische Verarbeitungsleistungen im Mittelhirn beschrieben, deren Ergebnisse nicht nur zur Auslösung adäquater Orientierungsreaktionen genutzt werden. Funktionelle Untersuchungen deuten vielmehr an, dass die Aktivität an das Vorderhirn weitergegeben wird und dort zu weiteren Wahrnehmungsleistungen oder zu kognitiver Kontrolle beiträgt. Dies deutet eine eigenständige Bedeutung des Mittelhirns in der Verarbeitung an, die weit über die klassische Sicht als Reflexzentrum hinausgeht.
About the authors
1984–1991 Studium der Biologie an der Universität Bonn. 1994 Promotion an der Universität zu Köln über sensomotorische Prozesse bei Amphibien. 1995 Postdoc am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, 1996 Postdoc an der Universität von Kalifornien in San Diego. Seit 1996 Leiter einer Arbeitsgruppe an der RWTH Aachen (Habilitation 2002). Arbeitsgebiete: Zelluläre Verarbeitung sensorischer Signale, funktionelle Anatomie und Entwicklung.
1984–1991 Studium der Biologie an der Universität Tübingen. 1990 Forschungsaufenthalte an der University of Colorado (Boulder) und an der University of Arizona (Tucson). 1992-1996 Promotion am Lehrstuhl Tierphysiologie der Universität Tübingen. Seit 1996 Leiter einer Arbeitsgruppe, von 1996 bis 2002 an der RWTH Aachen, seit 2002 an der J. W. Goethe–Universität Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete: Hörphysiologie, Aufmerksamkeit im auditorischen System.
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