Psychother Psychosom Med Psychol 2008; 58(3/04): 105-106
DOI: 10.1055/s-2008-1067370
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Migration und Gesundheit” - ein Thema mit hoher Priorität

„Migration and Health” - A Subject of High PriorityUwe  Koch1 , Elmar  Brähler2
  • 1Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • 2Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig
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Publication Date:
18 April 2008 (online)

Schätzungen zufolge leben zurzeit weltweit ca. 150 Millionen Menschen in der Emigration. Die Gründe für die zunehmende Migration sind vielfältig. Zu nennen sind vor allem das Überleben-Wollen bei Krieg und Naturkatastrophen, politische und religiöse Verfolgung, mangelnde wirtschaftliche Perspektiven in den Heimatländern sowie die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Ländern. Die erhebliche Zunahme der globalen Mobilität und die Zunahme des Informationsflusses dürften sich ebenfalls nachhaltig auf die Zuwanderungsbewegungen auswirken.

Nach einer Mitteilung des Bundesbeauftragten für Migranten, Flüchtlinge und Integration aus dem Jahre 2007 leben zurzeit ca. 15,3 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 19 %. Zu der sehr heterogen zusammengesetzten Gruppe zählen Personen mit einer deutschen oder ausländischen Staatsangehörigkeit, zugewanderte oder in Deutschland geborene Ausländer, Spätaussiedler und Eingebürgerte mit persönlicher Migrationserfahrung. Zu dieser Gruppe gehören auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, die keine Erinnerung an die Emigration haben oder in Deutschland geboren wurden.

Die Bedeutung, die dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland inzwischen zukommt, belegen einige dem Mikrozensus von 2005 entnommene Daten. Danach wiesen ca. ein Drittel der Kinder im Alter bis zu fünf Jahren einen Migrationshintergrund auf. Bezogen auf die Gesamtgruppe hat in Baden-Württemberg jeder Vierte (25,1 %), in Hessen 23,5 % und Nordrhein-Westfalen 23,6 % einen Migrationshintergrund. In einzelnen Städten ist der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe besonders hoch, so liegt er in Stuttgart bei 40,1 %, in Frankfurt bei 39,5 % und in München bei 34,4 %. Lediglich die neuen Länder ohne Westberlin haben mit 4,7 % einen besonders niedrigen Anteil.

Viele Angehörige der in Deutschland lebenden Zuwandererfamilien haben in den letzten Jahrzehnten ihren Platz in der Gesellschaft gefunden und gelten als gut integriert. Es gibt aber zur gleichen Zeit einen erheblichen Anteil unter den Migranten, die trotz längeren Aufenthaltes über unzureichende Deutschkenntnisse verfügen, deutlich schlechtere Schulabschlüsse erreichen und entsprechend häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Als nicht belegt - aber in der politischen Diskussion wie z. B. zuletzt bei der Landtagswahl in Hessen als Argument für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit missbraucht - gilt eine angeblich höhere (Jugend-)Kriminalität.

Auf der politischen Ebene haben die von den verschiedenen Parteien in den letzten Jahren vorgetragenen Vorschläge zur Verbesserung der Integration von Migranten jeweils heftige Kontroversen ausgelöst. Trotz dieser Gegensätze wurden sowohl von der rot-grünen Bundesregierung wie auch von der großen Koalition einige auf bessere Integration zielende Vorhaben verabschiedet. Dazu gehören die Neuregelung des Zuwanderungs- und des Ausländerrechts, die Umsetzung verschiedener auf bessere Integration zielende EU-Richtlinien und die Neuformulierung einer Bundespolitik, die unter der Zielsetzung „fördern und fordern” steht.

Das Gelingen einer Integrationspolitik zeigt sich in einer etwa gleichen Teilhabe an allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen. Dazu gehört insbesondere auch die gesundheitliche Versorgung. Diesen Anspruch für Migrantinnen und Migranten umzusetzen stellt das Gesundheitssystem vor besondere Herausforderungen. Besser als bisher gilt es, Sprachbarrieren und Informationslücken abzubauen und mögliche Diskrepanzen in den Erwartungen der Migranten und tatsächlichen Angeboten zu berücksichtigen. Gelingt dies nicht, hat dies negativen Einfluss auf die Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen. Darüber hinaus können kulturell bedingte Unterschiede in der Wahrnehmung von Krankheiten Fehldiagnosen und falsche Behandlungen zur Folge haben. Die genannten Erschwernisse dürften sich auf die Beratung und Behandlung psychosozialer Belastungen und psychischer Erkrankungen besonders nachteilig auswirken. Dies gilt umso mehr, als bei Teilgruppen von Migrantinnen und Migranten Trennungen von der Familie, Verfolgung im Heimatland oder illegaler Aufenthalt im Gastland als zusätzliche Belastungsfaktoren hinzukommen.

Vor allem die Sozialwissenschaften haben in Deutschland seit langem die Bedeutung von Fragestellungen im Kontext der Integration von Migranten als wichtigen Forschungsgegenstand erkannt. Dies gilt bisher aber keineswegs auch für die gesundheitsbezogene Forschung. Dem Thema „Migration und Gesundheit” wird hier trotz seiner hohen gesellschaftlichen Relevanz erst seit Kurzem mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Dies zeigt sich u. a. in einer zunehmenden Berücksichtigung des Themas auf wissenschaftlichen Tagungen oder in Förderprogrammen (z. B. zuletzt durch eine Ausschreibung der VW-Stiftung).

Das vorliegende Schwerpunktheft greift die Thematik „Migration und Gesundheit” auf. Der Fokus der vier Übersichts- und sechs Originalarbeiten liegt dabei auf der psychischen Gesundheit von Migrantinnen und Migranten.

Im ersten Übersichtsbeitrag von J. Lindert, A. Mielck, U. Wittig, E. Brähler und S. Priebe geben die Autorinnen und Autoren einen Überblick zur Häufigkeit psychischer Störungen bei Arbeitsmigranten, Asylbewerbern und Flüchtlingen. Sie finden in den ihnen zur Verfügung stehenden Studien sehr unterschiedliche Prävalenzen für Depressions-, Angst- und posttraumatische Belastungsstörungen. Lindert et al. führen dies vor allem auf die Heterogenität der Untersuchungsgruppen zurück und sehen einen dringenden Bedarf für bevölkerungsrepräsentative Studien.

Der Beitrag von J. Lindert, S. Priebe, S. Penka, F. Napo, M. Schouler-Ocak und A. Heinz kann als inhaltliche Ergänzung des vorangegangenen Artikels verstanden werden. In ihm wird die gegenwärtige Versorgungssituation psychisch kranker Patienten mit Migrationshintergrund beschrieben und analysiert. Obwohl auch zu diesem Themenbereich noch wenige belastbare empirische Befunde vorliegen, weisen die Ergebnisse doch schon deutlich darauf hin, dass Migrantinnen und Migranten das vorhandene ambulante wie stationäre psychosoziale Versorgungsangebot weniger in Anspruch nehmen als Nichtmigranten.

Der Aufsatz von H. Zeeb, J. Spallek und O. Razum diskutiert die besonderen Herausforderungen und Probleme einer epidemiologischen Forschung bei Personen mit Migrationshintergrund. Die Analyse wird am Beispiel der Krebserkrankungen geleistet. Die herausgearbeiteten Besonderheiten und Schwierigkeiten dieser Forschung gelten aber auch für andere Erkrankungen.

Im letzten Übersichtsbeitrag geht P. Cerda-Hegerl auf die Problemlage der medizinischen Versorgung nicht-dokumentierter Migranten ein. Es geht dabei insbesondere um die Frage, was passiert, wenn die in der Schattenwelt lebenden Migrantinnen und Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus krank werden.

Der erste Originalbeitrag von M. Merbach, U. Wittig und E. Brähler untersucht Angst und Depression bei polnischen und vietnamesischen Migrantinnen und Migranten in einer ostdeutschen Großstadt. Beide Migrantengruppen zeigen höhere Angst- und Depressionswerte als die deutsche Vergleichsstichprobe. Die differenzielle Analyse weist darauf hin, dass Kennwerten der sozialen Eingliederung ein prädiktiver Wert für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Angst und Depression zukommt.

S. Tagay, R. Zararsiz, Y. Erim, S. Düllman, S. Schlegl, E. Brähler und W. Senf stellen anschließend Ergebnisse einer Untersuchung über traumatische Ereignisse und posttraumatische Belastungsstörungen bei türkischsprachigen Patienten vor. Es zeigt sich, dass in der Primärversorgung der PTSD bei türkischen/kurdischen Migrantinnen und Migranten häufig vorkommt. Die Autoren fordern deshalb, Aspekte der Traumatisierung bei Migranten im diagnostischen Prozess stärker zu berücksichtigen.

K. Behrens und I. T. Calliess analysieren innerhalb eines qualitativen Forschungsansatzes den Einfluss von Migration und Kultur auf die Gestaltung der psychiatrischen Praxis. Aufgrund ihrer Ergebnisse folgern die Autorinnen, dass Aspekten der Migrationsbiographie mehr als kulturell bedingten Bedeutung zukommt.

M. Schouler-Ocak, M. A. Rapp, S.-L. Reiske und A. Heinz demonstrieren und diskutieren im anschließenden Beitrag am Beispiel zweier Behandlungskasuistiken kulturspezifische Einflüsse einer traumazentrierten Psychotherapie.

M. Mösko, J. Schneider, U. Koch und H. Schulz analysieren die Ausgangsbelastungen und Behandlungsergebnisse von Patienten mit Migrationshintergrund, die eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch nehmen. Diese weisen zu Beginn der stationären Maßnahme höhere Kennwerte für psycho-soziale Belastungen als vergleichbare deutsche Rehabilitanden auf. Der Behandlungserfolg fiel für die Patienten mit türkischem Migrationshintergrund dagegen geringer aus und erreicht in einigen Skalen keine nachweisbaren Verbesserungen.

Im letzten Beitrag von T. Borde, J. W. Dudenhausen und M. David wird das Verhalten von Migrantinnen in der Geburtshilfe vor dem Hintergrund des Akkulturationsprozesses untersucht. Bei wichtigen perinatalen Qualitätsparametern wie kindliche und mütterliche Mortalität oder der Frühgeburtenrate haben sich die Migrantinnen zwar inzwischen den Kennwerten deutscher Frauen weitgehend angenähert. Bei der Inanspruchnahme und bei der Qualität der Versorgung bestehen aber deutliche Unterschiede, die sich z. B. in einer späteren Inanspruchnahme der Schwangerenvorsorge oder in einer höheren Rate von stationär zu behandelnder Hyperemesis gravidarum zeigen.

Mindestens zwei Schlussfolgerungen lassen sich aus den hier dargestellten Beiträgen ziehen. Zum einen ist die empirische Basis zur Beurteilung der Situation von psychisch oder psychosomatisch erkrankten Migrantinnen und Migranten noch sehr schmal und bedarf dringend einer Erweiterung. Zum anderen weisen die bisher vorliegenden Untersuchungen auf spezifische Problemlagen und auf deutliche Defizite in der psychosozialen Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund hin. Die Herausgeber verbinden dieses Schwerpunktheft deshalb mit der Hoffnung, Anstöße zu einer Intensivierung der Forschung in diesem Bereich zu geben.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Uwe Koch

Direktor, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52, Haus S35

20246 Hamburg

Email: koch@uke.uni-hamburg.de

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