Gesundheitswesen 2010; 72 - V270
DOI: 10.1055/s-0030-1266472

Stress unter Abiturienten. Unterschiede zwischen Migranten der ersten und zweiten Generation und Menschen ohne Migrationshintergrund

K Reiss 1, J Spallek 2, W Bleidorn 3, R Mikolajczyk 4, A Krämer 1, O Razum 1
  • 1Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Bielefeld
  • 2Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin, Abteilung Prävention und Evaluation, Bremen
  • 3Universität Bielefeld, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Bielefeld
  • 4Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin, Abteilung Klinische Epidemiologie, Bremen

Hintergrund: Es wird angenommen, dass Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund der Migration und des damit verbundenen akkulturativen Stresses ein höheres Stresslevel aufweisen als Menschen ohne Migrationshintergrund. Dieses kann sich insbesondere in Umbruchsphasen während des Lebenslaufs zeigen, wie z.B. beim Schulabschluss. Wir untersuchten, ob es Unterschiede im Stresslevel zwischen Migranten der ersten und zweiten Generation und Menschen ohne Migrationshintergrund gibt. Methodik: In einer Querschnittsbefragung im Rahmen der Bielefelder Abiturientenstudie wurden im Jahr 2009 Daten zu 976 Abiturienten (12./13. Klasse) erhoben. In dieser Untersuchung wurde die Variable Stresslevel als Summe von vier Fragen gebildet („Perceived Stress Scale“ nach Cohen). Die endgültige Stressvariable enthielt drei Ausprägungen (geringes, mittleres und hohes Stresslevel). Der Migrationshintergrund konnte anhand der Fragen zum eigenen Migrationsstatus, zum Zuzugsjahr sowie zum Migrationsstatus der Eltern ermittelt werden. Neben deskriptiven Analysen wurden ORs mithilfe von einfachen und multiplen multinominalen logistischen Regressionsmodellen berechnet. Ergebnisse: 309 Abiturienten (31,7% von 976) wiesen einen Migrationshintergrund auf. Davon verfügten 90 über eine eigene und 219 über keine eigene Migrationserfahrung. Im Vergleich zu den Abiturienten ohne Migrationshintergrund (16,6%) und den Migranten erster Generation (18,4%) gaben 28,9% der Migranten zweiter Generation ein hohes Stresslevel an. In der einfachen multinominalen logistischen Regression hatten Migranten zweiter Generation im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund eine 1,89-fach erhöhte Chance, ein hohes Stresslevel aufzuweisen (p=0,015; 95%-KI: 1,13–3,16) (erste Generation: OR=1,01). Im multiplen Modell, adjustiert für Geschlecht, subjektiven Gesundheitszustand, Bildung des Vaters und Vorhandensein von Lebensplänen nach der Schule lag das OR bei 1,53 (erste Generation: OR=0,74). Diskussion: In dieser Untersuchung weisen nicht die Migranten mit eigener, sondern diejenigen ohne eigene Migrationserfahrung im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund häufiger ein hohes Stresslevel auf. Dies kann dadurch begründet sein, dass bei den Migranten der zweiten Generation ein stärkerer „Identitätskonflikt“ vorliegt, da sie sich (im Vergleich zu Migranten der ersten Generation) einer kulturellen Identität schwieriger zuordnen können.