1 Theoretischer Hintergrund

1.1 Diagnostische Kompetenz für den schriftsprachlichen Anfangsunterricht

Die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften gilt als wichtige Voraussetzung, u. a. um individuellen Lernprozessen im Unterricht adaptiv begegnen zu können (Baumert und Kunter 2006; Behrmann und Souvignier 2013; Südkamp und Praetorius 2017). Aus diesem Grund ist ihr Aufbau eines der zentralen Ziele der Lehrkräfteausbildung (KMK 2004, 2008). Mit diagnostischer Kompetenz ist im Kern die Urteilsakkuratheit in Bezug auf Schüler*innen- und Aufgabenmerkmale gemeint (siehe Südkamp und Praetorius 2017, S. 14).

Für die Grundschule im Allgemeinen ist die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften von großer Bedeutung, da sie die erste Schule für alle Kinder ist und die Lernvoraussetzungen daher besonders heterogen sind (Martschinke und Kammermeyer 2003). Vor dem Hintergrund, dass der Erwerb der Schriftsprache die Basis für eine erfolgreiche Schullaufbahn sowie eine erfolgreiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben darstellt (Schneider 2017), wird die diagnostische Kompetenz speziell für den schriftsprachlichen Anfangsunterricht betont (z. B. Gebauer et al. 2014). Da die phonologische Bewusstheit (auf Phonemebene) als eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb basaler Lese- und Schreibkompetenzen gilt (Pfost 2015), stellt sie einen zentralen Diagnose- und Förderbereich dar.

1.2 Phonembewusstheit als Teil der diagnostischen Kompetenz

Damit Grundschullehrkräfte die phonologische Bewusstheit sowie die Lese- und Rechtschreibentwicklung ihrer Schüler*innen differenziert diagnostizieren und auf dieser Basis geeignete Übungen korrekt anleiten können, müssen auch sie über eine ausgeprägte phonologische Bewusstheit (auf Phonemebene) verfügen (vgl. Peter Effect, Applegate und Applegate 2004; siehe auch Binks-Cantrell et al. 2012).

1.2.1 Beschreibung des Konstrukts Phonologische Bewusstheit

Der Begriff „Phonologische Bewusstheit“ bezeichnet die Fähigkeit, über die linguistische Struktur eines Wortes (Silbe, Onset-Reim, Phonem) reflektieren zu können (siehe Treiman und Zukowski 1991). Zur Systematisierung der Erwerbsprozesse bei Kindern wurde das zweidimensionale Konstrukt zur phonologischen Bewusstheit entwickelt (siehe z. B. Fricke et al. 2007), das teils empirisch überprüft ist (für einen Überblick siehe Berendes und Weinert 2016, S. 407 ff.).

Gemäß des in Abb. 1 dargestellten zweidimensionalen Konstrukts lassen sich Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit zum einen hinsichtlich der „Explizitheit der Operation“ und zum anderen hinsichtlich der „Größe der linguistischen Einheit“ kategorisieren. Bei der „Explizitheit der Operation“ gilt es zwischen Aufgaben zum Identifizieren, Segmentieren, Synthetisieren und Manipulieren zu differenzieren. Das Identifizieren erfordert hierbei ausschließlich das Erkennen von linguistischen Einheiten. Beim Segmentieren müssen sie erkannt und untergliedert; beim Synthetisieren erkannt und zusammengezogen werden. Das Manipulieren erfordert wiederum das Erkennen, Untergliedern, Verändern (Weglassen, Hinzufügen, Vertauschen, Austauschen) und Zusammenziehen von linguistischen Einheiten. Im Bereich der „Größe der linguistischen Einheit“ wird zwischen Silben‑, Onset-Reim- und Phonemebene unterschieden. Wie in Abb. 2 dargestellt, bezeichnet „Reim“ dabei den Teil der Silbe, der sich reimen lässt (z. B. Kr-aut, Br-aut). Den fakultativen Onset bilden alle davor vorkommenden Konsonanten (Kr-aut, Br-aut). Onset und Reim setzen sich wiederum aus den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten der Lautsprache, den Phonemen, zusammen. Aufgaben auf der Silben- und Onset-Reim-Ebene beziehen sich auf die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne. Aufgaben auf der Phonemebene beziehen sich auf die phonologische Bewusstheit im engeren Sinne, die auch als Phonembewusstheit bezeichnet wird (siehe Abb. 1; Pfost 2015). Dabei kann der Aufgabentyp „Identifizieren auf Silbenebene“ als einfachste und der Aufgabentyp „Manipulieren auf Phonemebene“ als der schwierigste der zwölf Aufgabentypen eingestuft werden (vgl. Berendes und Weinert 2016).

Abb. 1
figure 1

Zweidimensionales Konstrukt zur phonologischen Bewusstheit (in Anlehnung an Fricke et al. 2007, S. 15, bezugnehmend auf Stackhouse und Wells 1997, ergänzt um eine Einordnung in phonologische Bewusstheit im weiteren und im engeren Sinne)

Abb. 2
figure 2

Veranschaulichung der linguistischen Einheiten an den Beispielwörtern Kraut und Braut

1.2.2 Orthografische Interferenzeffekte als Fehlerquelle

Bei schriftsprachkundigen Personen werden orthografische Wortformen automatisch mitaktiviert, wenn sie Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit lösen (vgl. Fölling-Albers 2017). Dies ist damit zu begründen, dass sie über ein zunehmend wachsendes mentales Lexikon verfügen, in dem neben phonologischen u. a. auch orthografische Informationen gespeichert und eng miteinander verknüpft sind (Dietrich und Gerwien 2017).

Dadurch können orthografische Interferenzeffekte auftreten (Seidenberg und Tanenhaus 1979; siehe auch Schnitzler 2008). So zeigte etwa Schulte-Körne (2001), dass bereits bei Schüler*innen der zweiten Klasse die Leistungen beim Manipulieren von Phonemen (konkret: Weglassen von Phonemen in vorgegebenen Wörtern) durch die orthografische Repräsentation beeinflusst wurden. Es wird davon ausgegangen, dass das Heranziehen orthografischen Wissens insbesondere bei komplexen Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit (z. B. Phoneme manipulieren) als Lösungsstrategie genutzt wird (Tunmer und Hoover 1992). Dies kann aber speziell unter den folgenden Gegebenheiten zu Fehlern führen (vgl. Schnitzler 2008):

  1. 1.

    Wenn das betreffende Wort Buchstaben beinhaltet, die keine eigenständige phonologische Funktion haben, sondern Elemente eines mehrteiligen Basisgraphems sind. Ist beispielsweise das dritte Phonem im Wort Schule (/ˈʃuːlə/) gesucht, so ist es wahrscheinlich, dass eine Person, die die Buchstaben statt der Phoneme segmentiert, h statt l antwortet.

  2. 2.

    Wenn das Wort ein- oder mehrgliedrige OrthographemeFootnote 1 aufweist, die in der Regel orthografische Funktion haben. Ist beispielsweise das vierte Phonem in schreibt (/ʃraɪ̯pt/) gesucht, wird eine Person, die auf die GraphemeFootnote 2 achtet, voraussichtlich b statt p angeben.

  3. 3.

    Wenn Vokalphoneme unterschiedlicher Quantität und Qualität durch dasselbe Graphem repräsentiert werden. So ist es beispielsweise bei der Frage, ob Esel (/’e:zl̩/) und Essen (/’ɛsn̩/) denselben Anlaut haben, dann wahrscheinlich, dass eine Person mit „ja“ antwortet, wenn sie sich auf den Buchstaben bzw. das Graphem <E> statt auf die Phoneme /e:/ und /ɛ/ konzentriert.

1.2.3 Erforderliches Niveau von Phonembewusstheit bei (angehenden) Grundschullehrkräften

Solche Interferenzeffekte sind bei Schüler*innen im fortgeschrittenen Schriftspracherwerb normal und unproblematisch (Landerl et al. 1996; siehe auch Schnitzler 2008). Bei Grundschullehrkräften ist es jedoch von hoher praktischer Bedeutung, dass sie ihr orthografisches Wissen zum Zwecke der korrekten Diagnose und Förderung inhibieren können (vgl. Schründer-Lenzen 2013, S. 28). Sie sollten etwa erkennen können, dass Schreibungen wie *TREKT (für [er/sie/es] trägt, /trɛːkt/) nicht auf Defizite in der phonologischen Bewusstheit hinweisen, oder dass die alphabetische Strategie bei diesem Wort nicht geeignet ist, um zur orthografisch korrekten Schreibung zu gelangen (sondern die morphematische Strategie).

Um orthografisches Wissen inhibieren zu können, benötigen Lehrkräfte eine ausgeprägte, explizite Phonembewusstheit, die über das erforderliche Niveau für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb hinausgeht. So spricht Moats (1994) von einer „fully explicit awareness of spoken language structure“ (S. 88). Ähnlich dazu ordnen Pittmann et al. (2020) die erforderlichen Fähigkeiten auf dem Niveau von „advanced phonemic skills“ (S. 9) ein. Darüber hinaus geben Purvis et al. (2016) konkret an, dass „phoneme counting, identification of second and final phoneme“ (S. 58) explizite Phonembewusstheit von Lehrkräften erfordert.

1.2.4 Internationale Befunde zur Phonembewusstheit von (angehenden) Lehrkräften

Für den amtlich deutschsprachigen Raum liegen bislang nur wenige Erkenntnisse dazu vor, wie ausgeprägt die Phonembewusstheit von (angehenden) Grundschullehrkräften ist (z. B. Corvacho del Toro und Thomé 2013). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass erst seit 2021 ein standardisiertes Testverfahren zur Verfügung steht (siehe Berendes et al. 2021). Im internationalen und v. a. im US-amerikanischen Raum wurde die Phonembewusstheit hingegen bereits intensiv untersucht. Auf einer allgemeinen Ebene zeigen Befunde wie die von Washburn et al. (2016) für England, Kanada, Neuseeland und die USA, Lopes et al. (2014) für Portugal und die USA sowie Aro und Björn (2016) für Finnland, dass sich die explizite Phonembewusstheit von Lehrkräften in den einzelnen Ländern und den unterschiedlich tiefen Orthografien zwar unterscheidet, aber insgesamt auf einem eher geringen Niveau liegt. So lösten in der Studie von Lopes et al. (2014) die portugiesischen Grundschullehrkräfte (N = 390) 43 % der Aufgaben zur Phonembewusstheit korrekt und die US-amerikanischen Kolleg*innen (N = 390) 54 %.

Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Operationen zeigt sich, dass das Bild deutlich heterogener ist. Aro und Björn (2016) berichten beispielsweise, dass 91 % der angehenden (N = 150) und 93 % der bereits tätigen Lehrkräfte (N = 74) Langvokalphoneme in einer Reihe von Wörtern korrekt identifizieren können. Beim Segmentieren von Phonemen in vorgegebenen Wörtern rangiert die Lösungsrate hingegen zwischen 22 % und 97 %. In der Studie von Cunningham et al. (2004), bei der ebenfalls Phoneme in Wörtern segmentiert (konkret: gezählt) werden sollten, lösten 20 % der Grundschullehrkräfte (N = 697) keine und weniger als 1 % alle der Aufgaben richtig. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommen auch Cheesman et al. (2009) sowie Moats und Foorman (2003).

Wenngleich eine Tendenz zu erkennen ist, die entsprechend dem zweidimensionalen Konstrukt zur phonologischen Bewusstheit für einen Zusammenhang zwischen dem Explizitheitsgrad der Operation und der Aufgabenschwierigkeit spricht, ist eine weitere Differenzierung der Testleistungen nach den einzelnen Operationen aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenformate und Schwerpunktsetzungen in den Studien nicht möglich.

Explizit herausgearbeitet werden konnten von einigen Autor*innen hingegen die orthografischen Interferenzen, die Lehrkräften widerfahren (z. B. Aro und Björn 2016; Cheesman et al. 2009; Moats 1994). So belegen etwa Cheesman et al. (2009), dass 16 % der Proband*innen (N = 223) aufgrund der unterschiedlichen orthografischen Repräsentation nicht erkannten, dass shoe, do, flew und you denselben Auslaut haben. Umgekehrt gaben 13 % aufgrund der gleichen orthografischen Repräsentation an, dass die Vokalquantität und -qualität in Wortreihen wie kin-fist-kind oder paid-said-maid identisch sei. Zudem ordneten 30 % bei Konsonanten die Buchstaben statt der Phoneme zu.

Wird ferner analysiert, wie akkurat die Selbsteinschätzung der (angehenden) Lehrkräfte ist, so sind die Befunde hier uneinheitlich: Während Lopes et al. (2014) keine Hinweise darauf fanden, dass sich (angehende) Lehrkräfte überschätzen, geben Cunningham et al. (2004) an, dass sich in ihrer Studie (N = 697) lediglich 9 % in etwa richtig einschätzen. Aro und Björn (2016) berichten wiederum, dass die Selbsteinschätzung von bereits tätigen Lehrkräften unkorreliert zur tatsächlichen Leistung ist und bei angehenden Lehrkräften ein nur leicht positiver, aber statistisch signifikanter Zusammenhang besteht.

2 Forschungsfragen

Phonembewusstheit im Allgemeinen.

Befunde aus dem internationalen Raum weisen darauf hin, dass (angehende) Grundschullehrkräfte eine eher geringe explizite Phonembewusstheit haben, ihr Wissen jedoch teilweise überschätzen. Da es hierzu im amtlich deutschsprachigen Raum bislang noch keine Evidenz gibt, wird im vorliegenden Beitrag den folgenden Fragen nachgegangen:

  • Wie ausgeprägt ist die explizite Phonembewusstheit von angehenden Grundschullehrkräften in Deutschland im Allgemeinen?

  • Wie hoch korreliert die tatsächliche mit der selbsteingeschätzten Phonembewusstheit von angehenden Grundschullehrkräften in Deutschland?

Phonembewusstheit auf Ebene der Operationen.

Das zweidimensionale Konstrukt zur phonologischen Bewusstheit wurde im Kontext von Erwerbsprozessen bei Kindern entwickelt. Hier wird ein Zusammenhang zwischen dem Explizitheitsgrad der Operation von Aufgaben zur Phonembewusstheit und ihrer Lösungsschwierigkeit postuliert, der teils empirisch belegt ist. Da das Operieren mit Phonemen bei Lehrkräften durch ihr orthografisches Wissen beeinflusst wird, ist nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass der bei Kindern beobachtete Zusammenhang direkt übertragbar ist. Nachdem dies im internationalen Raum bisher noch nicht systematisch untersucht wurde, sollen im Rahmen des vorliegenden Beitrags erste Hinweise hierzu herausgearbeitet und folgende Frage geklärt werden:

  • Wie ausgeprägt ist die explizite Phonembewusstheit von angehenden Grundschullehrkräften in Deutschland bezogen auf die Operationen Identifizieren, Segmentieren und Manipulieren von Phonemen?

Phonembewusstheit auf Ebene zentraler sprachlicher Phänomene.

Orthografische Interferenzeffekte, die sich aus einer zu geringen expliziten Phonembewusstheit ergeben, können speziell dann auftreten, wenn die Buchstaben eines Wortes 1. keine eigenständige phonologische Funktion haben oder 2. orthografische Funktion haben sowie 3. wenn Vokalphoneme unterschiedlicher Qualität und Quantität durch dasselbe Graphem repräsentiert werden. Es stellt sich daher folgende Frage:

  • Inwiefern sind angehende Grundschullehrkräfte in Deutschland in der Lage mit Phonemen zu operieren, auch wenn orthografische Interferenzeffekte durch eine schriftsprachliche Repräsentation provoziert werden?

Dieser Frage wird am Beispiel der Auslautverhärtung und der Vokalquantität nachgegangen, da beide sprachlichen Phänomene zentralen Stellenwert bzw. modellhaften Charakter im Schriftspracherwerb haben (vgl. Schründer-Lenzen 2013).

3 Die vorliegende Untersuchung

3.1 Stichprobe

Zur Untersuchung der Forschungsfragen wurden N = 271 Studierende des Grundschullehramts aus Baden-Württemberg (148 Studierende an 6 der 7 Pädagogischen Hochschulen; 96 % weiblich, 3 % männlich, 1 % divers) und Bayern (123 Studierende an einer der 8 grundschullehramtsausbildenden Universitäten; 93 % weiblich, 7 % männlich, 0 % divers) getestet, die zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits Lehrveranstaltungen zur phonologischen Bewusstheit besucht hatten. Die Studierenden befanden sich vornehmlich im höheren Fachsemester (M = 6,8; SD = 1,5; Min = 3; Max = 10).

3.2 Durchführung und Untersuchungsinstrument

Die Durchführung fand im Zeitraum von Januar bis März 2016 sowie Oktober bis November 2019 in insgesamt vierzehn Gruppenerhebungen (Gruppengröße: 6 ≤ n ≤ 34) statt. Kontext der Durchführung waren die jeweiligen Seminarsitzungen. Die Kontaktaufnahme erfolgte per E‑Mail an die Seminarleitungen. Diese wurden über den Zweck der Erhebung informiert – genauere Angaben zum Inhalt des Testinstruments wurden jedoch nicht weitergegeben, um unerwünschte Testeffekte zu vermeiden. Auch die Proband*innen wurden vor Beginn der Testung über den Zweck der Erhebung und über die Freiwilligkeit der Teilnahme informiert. Die Instruktion erfolgte standardisiert von geschulten Testleiter*innen. Über die Dauer der gesamten Testung stand den Teilnehmer*innen ein Beiblatt zur Verfügung, auf dem eine Definition von Phonembewusstheit bereitgestellt und die Notationszeichen für Phoneme und Grapheme erklärt waren. Da es sich um einen Powertest handelte, war die Bearbeitungszeit nicht begrenzt. Sie variierte zwischen 20 und 55 min.

Es wurde das „Testverfahren zur Erfassung der Phonembewusstheit nach schriftsprachlichem Input von angehenden Primarschullehrkräften“ (TEPP, Berendes et al. 2021) eingesetzt. Der Test umfasst 4 Aufgaben zum Identifizieren, 11 zum Segmentieren und 7 zum Manipulieren von Phonemen, die jedoch schriftsprachlich induziert sind, sodass die Proband*innen von der Schrift abstrahieren müssen. Es wurden gezielt solche Items konstruiert, die orthografische Interferenzeffekte dadurch offenlegen, dass ein etwaiges Operieren mit den Buchstaben bzw. Graphemen statt den Phonemen zu einer plausiblen, aber nicht zur richtigen Lösung führt. Eine ausführliche Beschreibung des Tests und der Testentwicklung kann der Fachzeitschrift Diagnostica entnommen werden (ebd.). Vor der Darbietung der Testitems wurden zusätzlich zwei Fragen zur Einschätzung der eigenen Phonembewusstheit und ihrer Bedeutsamkeit für (angehende) Grundschullehrkräfte gestellt, um die Testleistungen einordnen zu können. Dafür wurde eine vierstufige Likert-Skala gewählt (1 – stimme nicht zu; 2 – stimme eher nicht zu, 3 – stimme eher zu, 4 – stimme zu).

3.3 Ergebnisse

Es werden zunächst deskriptive Statistiken zur allgemeinen expliziten Phonembewusstheit der Stichprobe berichtet und überprüft, inwiefern diese mit der Selbsteinschätzung und der Bedeutsamkeitszuschreibung korrelieren. Diese aggregierten Testleistungen werden daraufhin in Anlehnung an das zweidimensionale Konstrukt zur phonologischen Bewusstheit nach den erforderten Operationen (Identifizieren, Segmentieren und Manipulieren) differenziert und überprüft, inwiefern der theoretisch postulierte Zusammenhang zwischen Explizitheitsgrad der Operation und Schwierigkeit empirisch abgebildet werden kann. Am Beispiel der Auslautverhärtung und der Vokalquantität wird abschließend exemplarisch aufgezeigt, wie ausgeprägt die explizite Phonembewusstheit der Stichprobe mit Blick auf die unterschiedlichen Operationen ist.

3.3.1 Phonembewusstheit im Allgemeinen

Über alle 22 Testitems hinweg liegt die mittlere Lösungsrate bei 9,1 Items (41 %) mit einer Standardabweichung von SD = 4,4 Items (siehe Abb. 3, graue Säulen). Dabei besteht kein statistisch signifikanter Zusammenhang zum Fachsemester (r = 0,044, p > 0,05), was vor dem Hintergrund der Stichprobenauswahl (Studierende im höheren Fachsemester) als gewünscht verstanden werden kann.

Abb. 3
figure 3

Verbunddiagramm mit Häufigkeitsverteilung der korrekt gelösten Testitems, der als ausreichend selbsteingeschätzten Phonembewusstheit (PB), der theoretisch korrekten Selbsteinschätzung der PB und der eingeschätzten Wichtigkeit von PB für Grundschullehrkräfte

78 % der Proband*innen geben an, dass ihre Phonembewusstheit eher ausreichend oder ausreichend sei (siehe Abb. 3, schwarze Linie). Dabei ergibt sich ein Durchschnittswert von M = 3,0. Differenziert nach der erreichten Anzahl an korrekt gelösten Items rangiert die durchschnittliche Selbsteinschätzung zwischen 2,6 (2 Items korrekt gelöst) und 4,0 (21 Items korrekt gelöst), wobei dieser Zusammenhang leicht positiv ist (Spearmans ρ = 0,155, p < 0,05). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein differenzieller Effekt: Je weniger Items gelöst werden, desto eher überschätzen sich die Studienteilnehmer*innen (r = −0,557, p < 0,01) (siehe Abb. 3, schwarze und gepunktete Linie im Vergleich). Während sich 73 % der Stichprobe überschätzen, schätzen sich 27 % (ungefähr) richtig ein oder unterschätzen sich.

Bei der Frage nach der Einschätzung, wie wichtig eine ausgeprägte Phonembewusstheit für Grundschullehrkräfte ist, schätzen sie 97 % der Studienteilnehmer*innen als eher wichtig oder wichtig ein (siehe Abb. 3, graue Linie). Es ergibt sich ein Durchschnittswert von M = 3,6. Abhängig von der erreichten Anzahl an korrekt gelösten Items liegt dieser Wert durchschnittlich zwischen 3,0 (0 Items korrekt gelöst) und 4,0 (18–22 Items korrekt gelöst). Der Zusammenhang ist nur leicht positiv (Spearmans ρ = 0,165, p < 0,01), was jedoch vor dem Hintergrund von Deckeneffekten einzuordnen ist.

3.3.2 Phonembewusstheit auf Ebene der Operationen

Werden die Lösungsraten differenziert nach den erforderlichen Operationen dargestellt (siehe Abb. 4), so ergibt es sich zwar auf der Ebene der einzelnen Items, dass manche Identifikationsitems seltener korrekt gelöst werden als Segmentationsitems und manche dieser wiederum seltener als Manipulationsitems. Allerdings ist im Mittel klar zu erkennen, dass das Identifizieren von Phonemen häufiger gelingt (hPI = 0,67) als das Segmentieren (hPS = 0,47) und dieses wiederum häufiger als das Manipulieren (hPM = 0,18). Damit bildet sich die theoretisch postulierte zunehmende kognitive Anforderung der Operationen auch empirisch ab.

Abb. 4
figure 4

Relative Lösungshäufigkeiten differenziert nach den Operationen Phoneme Identifizieren (hPI), Segmentieren (hPS) und Manipulieren (hPM)

3.3.3 Phonembewusstheit auf Ebene zentraler sprachlicher Phänomene

Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den einzelnen Operationen an unterschiedlichen Beispielen der Auslautverhärtung und der Vokalquantität konkretisiert. Dafür werden abgewandelte AufgabenFootnote 3 dargestellt und die Verteilung auf die Antwortalternativen berichtet. Bei den Aufgaben wurden bewusst orthografische Interferenzeffekte provoziert.

Tab. 1 ist u. a. zu entnehmen, dass etwas mehr als die Hälfte der angehenden Grundschullehrkräfte die korrekte Antwortalternative 1 auswählt und sich damit explizit auf das Identifizieren von Phonemen konzentriert. Knapp jede vierte Person wählt den Distraktor 4 und lässt damit die unterschiedlichen Vokalquantitäten und -qualitäten unberücksichtigt. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Proband*innen hier ebenso wie bei den Distraktoren 2 und 3 auf die Buchstaben fokussieren.

Tab. 1 Abgewandelte Beispielaufgabe zum Identifizieren von Phonemen, prozentuale Verteilung auf die Antwortalternativen und Beschreibung der adressierten sprachlichen Phänomene

Auch bei der Aufgabe zum Segmentieren von Phonemen in Tab. 2 kann angenommen werden, dass sich knapp 52 % der Studienteilnehmer*innen an den Buchstaben orientieren. Dieses Bild bestätigt sich über alle Aufgaben hinweg, die eine eigene Antwort (halboffenes Antwortformat) in Bezug auf das Operieren mit Phonemen (Segmentieren oder Manipulieren) im Auslaut verlangen. So zeigt sich, dass hier 61 % der Stichprobe statt der Phoneme die korrespondierenden Orthographeme (b statt p, d statt t und g statt k) angeben.

Tab. 2 Abgewandelte Beispielaufgabe zum Segmentieren von Phonemen, prozentuale Angaben zu den häufigsten Antworten und Beschreibung des adressierten sprachlichen Phänomens

In Tab. 3 ist zu erkennen, dass nur gut jede sechste angehende Lehrkraft zur korrekten Lösung bei dieser Aufgabe zum Manipulieren von Phonemen gelangt. Da das Item so konstruiert ist, dass sich sowohl für das Umdrehen der Lautreihe als auch für das der Buchstabenreihe eine plausible Lösung ergibt, kann gezeigt werden, dass Dreiviertel der Stichprobe mit den Buchstaben statt den Phonemen operiert und die Phonembewusstheit von Interferenzeffekten beeinträchtigt wird.

Tab. 3 Abgewandelte Beispielaufgabe zum Manipulieren von Phonemen, prozentuale Angaben zu den häufigsten Antwortkategorien und Beschreibung des adressierten sprachlichen Phänomens

4 Zusammenfassung und Diskussion

Die Phonembewusstheit und das Inhibieren von orthografischem Wissen ist ein wichtiger Teil der diagnostischen Kompetenz von (angehenden) Grundschullehrkräften (vgl. Fölling-Albers 2017). Nur so können sie das lautorientierte Vorgehen ihrer Schüler*innen am Anfang des Schriftspracherwerbs korrekt einordnen, ohne dass ihnen dabei orthografische Interferenzen widerfahren. Auf dieser Basis können sie geeignete Übungen zur Förderung der phonologischen Bewusstheit sowie des basalen Lesens und Schreibens korrekt anleiten. Dafür benötigen die (angehenden) Grundschullehrkräfte eine ausgeprägte explizite Phonembewusstheit. Während diese insbesondere im US-amerikanischen Raum bereits umfassend untersucht wurde, liegen dazu im deutschsprachigen Raum weniger Arbeiten vor (z. B. Corvacho del Toro und Thomé 2013). Ziel der vorliegenden Untersuchung war es daher, erste Erkenntnisse für Deutschland zu gewinnen, indem das standardisierte Testverfahren zur Erfassung der Phonembewusstheit nach schriftsprachlichem Input von angehenden Primarschullehrkräften (TEPP; Berendes et al. 2021) eingesetzt wurde.

Im Allgemeinen stehen die Ergebnisse in Übereinstimmung mit den bereits vorliegenden Befunden aus dem internationalen Raum: Die explizite Phonembewusstheit von angehenden Grundschullehrkräften in Deutschland ist eher gering ausgeprägt. So werden im Durchschnitt nur 41 % der Items korrekt gelöst. Dennoch messen die Studierenden der eigenen Phonembewusstheit große Bedeutung für die spätere Unterrichtspraxis bei (3,6 auf einer vierstufigen Likert-Skala), sodass ungünstige Überzeugungen nicht als vorwiegender Grund zur Erklärung der Testleistungen dienen können. Die Selbsteinschätzung ist hingegen kritischer zu beurteilen, da 73 % ihre Leistung überschätzen, wobei der Effekt umso stärker auftritt, je geringer die Testleistung ist. Dieses Phänomen wird als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet (Kruger und Dunning 1999). Damit verbunden ist, dass bei einem großen Teil der Studierenden ein geringes Problembewusstsein in Bezug auf die eigene Phonembewusstheit besteht, was wiederum die Bereitschaft einschränken kann, sich intensiv mit den Inhalten auseinanderzusetzen (vgl. Cunningham et al. 2004).

Ebenfalls erwartungskonform und im Einklang mit der Theorie unterscheiden sich die Leistungen vor dem Hintergrund der Explizitheitsgrade der Operationen. Den angehenden Lehrkräften fällt das Identifizieren von Phonemen leichter als das Segmentieren und dieses wiederum leichter als das Manipulieren. Mit Blick auf das zweidimensionale Konstrukt zur phonologischen Bewusstheit scheint es plausibel, dass das kognitive Anspruchsniveau mit dem Explizitheitsgrad der Operation auch bei angehenden Lehrkräften steigt. Dabei treten orthografische Interferenzeffekte grundsätzlich bereits auf der Ebene des Identifizierens auf. Da jede weitere Operation das Identifizieren voraussetzt, wirken sich die orthografischen Interferenzeffekte bis hin zum Manipulieren aus. So fällt es den Studierenden beispielsweise leichter einen verhärteten Auslaut trotz seiner Repräsentation durch ein Orthographem (z. B. <b> für /p/) zu identifizieren als ihn aus einem Wort segmentieren und als verhärtetes Phonem wiederzugeben. Am schwersten fällt es ihnen, diesen in einer veränderten Lautreihe wiederzugeben und sich dabei nicht auf die Buchstaben zu konzentrieren. Deutlich wird das speziell bei Aufgaben, die eine eigene Antwort erfordern. Hier werden in 61 % der Fälle nicht die Phoneme, sondern die korrespondierenden Orthographeme (b statt p, d statt t und g statt k) angegeben. Ähnliche Ergebnisse ergeben sich bei der Analyse der Vokalquantität: Vokale mit unterschiedlicher Quantität (z. B. /e:/ und /ɛ/), denen dasselbe Graphem zugeordnet ist (z. B. <e>), werden in einer Aufgabe von 24 % als identische Phoneme identifiziert. Beim Manipulieren der Lautreihe eines Wortes lassen 75 % die Vokalquantität unberücksichtigt (z. B. /a/ statt /a:/).

Mit Blick auf die Diagnosekompetenz von Grundschullehrkräften können Defizite in den o. g. Bereichen beispielsweise dazu führen, dass Instruktionen in oder Auswertungen von Testverfahren zur phonologischen Bewusstheit wie dem „Rundgang durch Hörhausen“ (Frank et al. 2020) fehlerhaft sind. Unter Berücksichtigung der herausgearbeiteten Ergebnisse kann es dazu bei allen Operationen kommen, aber vor allem im Bereich des Manipulierens von Phonemen. Auch bei semiformellen Diagnosen (vgl. Hascher 2008) kann einem Kind fälschlicherweise eine geringe phonologische Bewusstheit attestiert werden, etwa weil es *TREKT statt trägt schreibt, obwohl hier alle Phoneme des Wortes lautgetreu rekodiert sind: /trɛːkt/. Die Ergebnisse zur Vokalqualität und zur Auslautverhärtung zeigen, dass angehende Grundschullehrkräfte bei Wörtern wie diesem besondere Schwierigkeiten haben, da sie sich zu stark an den Buchstaben bzw. Graphemen orientieren. Um Schreibungen dieser Art richtig einzuordnen, müssen sie in der Lage sein, von der schriftsprachlichen Repräsentation zu abstrahieren, um Phoneme zu identifizieren und zu segmentieren.

Bezogen auf die Förderung können die dargelegten Defizite zu fachlichen Fehlern führen (vgl. Schründer-Lenzen 2013, S. 28). Dies betrifft z. B. die Vermittlung von Rechtschreibstrategien, wenn sie auf Wörter angewendet werden, bei denen sie nicht zum Tragen kommen – etwa bei solchen, dessen verhärteter Auslaut durch ein Orthographem repräsentiert wird: „Sprich dir das Wort Sand deutlich vor. Dann kannst du hören, wie es am Ende geschrieben wird.“ (orthografische Interferenz: /zant/; korrekt wäre die morphematische Strategie: Verweis auf ein Wort derselben Wortfamilie, z. B. sandig).

Insgesamt betrachtet deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Phonembewusstheit in der Ausbildung von angehenden Grundschullehrkräften zum Zwecke des Erwerbs von umfassenden Diagnose- und Förderkompetenzen im Sinne der KMK-Standards für die Lehrerbildung (2004, 2008) noch stärker berücksichtigt werden sollte. Dass eine solche stärkere Fokussierung auf die eigene phonologische Bewusstheit in der universitären Lehre positive Effekte haben kann, konnte in einer aktuellen australischen Studie (Thwaite et al. 2022) gezeigt werden. Es empfiehlt sich, zuvor einen Test statt einer Befragung zur Erhebung der Phonembewusstheit zu verwenden, da die Selbsteinschätzung der Studierenden nur in geringem Maße die tatsächlichen Kompetenzen widerspiegelt.

Wenngleich die Ergebnisse im Einklang mit den internationalen Befunden stehen und die psychometrischen Gütekriterien des Testinstruments im Vorfeld dieser Untersuchung überprüft wurden (siehe Berendes et al. 2021), ist ihre Reichweite einzuschränken: Die Phonembewusstheit wurde im Rahmen dieser Untersuchung nur an Hochschulen in Baden-Württemberg und Bayern (hier nur an einer Universität) erfasst, sodass sich in anderen Bundesländern, beispielsweise aufgrund dialektaler Unterschiede und solchen der Lehramtscurricula, leicht andere Ergebnisse ergeben könnten. Dabei könnten auch etwaige Multiplikator*inneneffekte eine Rolle spielen (siehe Joshi et al. 2009).

Vor dem Hintergrund, dass alle Proband*innen angaben, bereits Lehrveranstaltungen besucht zu haben, die phonologische Bewusstheit zum Inhalt hatten, stellt sich zudem grundsätzlich die Frage, inwiefern in diesen neben dem Wissen zur phonologischen Bewusstheit auch die eigene Phonembewusstheit in den Blick genommen wird.

Ein weiteres Forschungsdesiderat bleibt es, die prädiktive Validität zu überprüfen – etwa mit Blick auf die Frage, inwiefern eine geringe explizite Phonembewusstheit von (angehenden) Grundschullehrkräften, die wiederum zu umfangreichen orthografischen Interferenzen führt, in Zusammenhang mit diagnostischen und fachlich-didaktischen (Fehl‑)Einschätzungen steht. Derartig gelagerte Vorhaben werden durch das neu vorliegende Testverfahren TEPP erstmalig für den amtlich deutschsprachigen Raum möglich.