1 Einleitung

Die auch in Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sichert allen und insbesondere Menschen mit Beeinträchtigungen eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen zu (The United Nations 2006). Entsprechend stellt sich unter anderem die Frage nach der Ressourcenverteilung in der Schule im Zuge der Umsetzung dieses Anspruchs von einer primär gleich- oder leistungsorientierten hin zu einer maßgeblich auch an individuellen Bedürfnissen orientierten Verteilung. Im medialen sowie im wissenschaftlichen und professionellen Diskurs werden in diesem Zusammenhang auch Gerechtigkeitsfragen diskutiert. So sollte der Schulbesuch für alle SchülerInnen chancengleich produktiv auch in Bezug auf deren emotionale, körperliche und soziale Bedürfnisse hin nutzbar sein (Reich 2012). Lehrkräfte äußern insbesondere hinsichtlich einer angemessenen Förderung aller Kinder im gemeinsamen Lernen Vorbehalte und Ängste bezüglich der Leistbarkeit dieser Forderungen (Bosse und Spörer 2017). Abseits zeitlicher Aspekte erscheint eine leistungsunabhängige und gleichwürdige Wertschätzung und Anerkennung aller SchülerInnen gemäß der UN-BRK unter anderem vor dem Hintergrund der leistungsorientierten Segregation im deutschen Schulsystem nur schwer zu implementieren (Prengel 2019). Analog ist eine Verknüpfung von Inklusion und Gerechtigkeit schwer vorstellbar (Kiel und Kahlert 2017). Infolgedessen stellt die Umgestaltung des Bildungssystems hin zu einer stärkeren Berücksichtigung individueller Bedürfnisse eine Herausforderung dar.

SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen stellen eine zentrale Komponente der Institution Schule dar. Die potenziell differentiellen Wahrnehmungen alltäglicher Interaktionen tragen zur Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden bei und beeinflussen das Wohlbefinden aller Beteiligten (Dalbert 2011; Ulich 2001), was auch auf Lernerfolge einen beträchtlichen Einfluss hat (Hattie 2009). Wie gerecht oder ungerecht (angehende) Lehrkräfte konkrete Interaktionen in Schulsituationen, auch in Abhängigkeit von der Wahrnehmung besonderer Bedürfnisse auf Seiten von SchülerInnen, einschätzen, ist vor diesem Hintergrund eine interessante Frage und ggf. ein wichtiger Baustein dafür, um inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozesse zu optimieren. Im gemeinsamen Lernen sind Abweichungen von der Gleichverteilung von Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewertungen zugunsten einer Bedarfsorientierung ein wichtiges Konstitut. Gerechtigkeitseinschätzungen solcher Situationen sind von besonderer Bedeutung, da sie maßgeblich mit der Bereitschaft zu einer solchen Anpassung und damit mit dem Gelingen einer inklusiven Schulentwicklung zusammenhängen könnten. In der vorliegenden Arbeit wird der Fokus auf Gerechtigkeitsurteile zu unterrichtlichen Interaktionen in der inklusiven Schule durch angehende Lehrkräfte gelegt, speziell auf Interaktionen zwischen Lehrkraft und SchülerInnen. Dabei wird durch eine experimentelle Variation von Kontextinformationen zu den Lernenden eine Prüfung kausaler Effekte ermöglicht, wie sonderpädagogische Förderbedarfe von SchülerInnen in inklusiven Unterrichtssettings die Gerechtigkeitsbeurteilungen beeinflussen.

2 Psychologische Gerechtigkeitsforschung

Für die vorliegende Arbeit wird ein sozialpsychologisches Verständnis von Gerechtigkeit gewählt. Dieses legt Gerechtigkeit nicht in einem ethisch-normativen Sinne fest, sondern fokussiert viel mehr die individuelle, subjektive Wahrnehmung von Gerechtigkeit im Kontext sozialer Interaktionen (Mikula 2002; Umlauft et al. 2013). Das entspricht dem inhaltsorientierten Ansatz der Gerechtigkeitspsychologie und berührt nur mittelbar das Feld individueller Gerechtigkeitsmotive und deren Auswirkungen auf das eigene Handeln (Dalbert und Stoeber 2006; Peter et al. 2013), sodass dieser Ansatz hier keine explizite Berücksichtigung findet. Moral und Gerechtigkeit sind Themen, die viele Bezüge zueinander haben. Im Allgemeinen wird es als „gerecht“ verstanden, wenn „Personen das bekommen, worauf sie ein Anrecht, einen berechtigten Anspruch haben, aufgrund dessen, wer sie sind und was sie getan haben“ (Mikula 2002, S. 258). In der psychologischen Literatur herrscht Uneinigkeit darüber, inwiefern einerseits Gerechtigkeit ein Aspekt von Moral sein kann, andererseits Moral als eines von vielen Motiven für Gerechtigkeitsbewertungen gesehen wird (Skitka et al. 2016). So nennt Fritz Oser in seinem Werk zur professionellen Berufsmoral von Lehrkräften explizit Gerechtigkeit als einen von drei Aspekten professioneller Moral. Die zwei weiteren Aspekte des Konzepts sind Fürsorge und Wahrhaftigkeit. In ihrem Konzept meint Gerechtigkeit, dass „die Beurteilung des mir Anvertrauten zur Beurteilung von anderen Personen in Beziehung gestellt wird und alle Beteiligten gleich oder ihren Ansprüchen oder ihren Verdiensten gemäß behandelt werden“ (Oser 1998, S. 44). Fürsorge definiert Oser als eine Berücksichtigung des in die Zukunft gerichteten Wohls einer Person in Abhängigkeit anderer Faktoren wie der Gerechtigkeit. Und die Wahrhaftigkeit meint schließlich die Anwendung objektiver Bewertungskriterien abseits persönlicher Überzeugungen (Oser 1998, S. 45). Ihre Definition von Gerechtigkeit weist eine starke Übereinstimmung mit dem Verständnis einer Verteilungsgerechtigkeit auf, wie sie in der Gerechtigkeitspsychologie verstanden wird, welche das Gleichheits-, das Leistungs- und das Bedarfsprinzip zur Beurteilung von Verteilungsfragen unterscheidet.

Die Arbeiten von Oser unterstreichen die Relevanz gerechtigkeitspsychologischer Überlegungen für die Professionalisierung von Lehrkräften. Sie setzen dabei den Fokus auf eine Typisierung von Lehrkräften danach, welche Konfliktlösestrategie sie primär anwenden (Oser 1998). Dieses Vorgehen ist zur quasi-experimentellen Beschreibung von Professionalisierungstypen geeignet und sinnvoll. Dabei unterscheidet sich dieses Verfahren klar von dem hier intendierten Vorgehen, Gerechtigkeitseinschätzungen zu konkreten Situationen in Abhängigkeit von Kontextmerkmalen zu erfassen, die über personale Eigenschaften der BeurteilerInnen hinaus wirksam sind. Außerdem können konkrete Gerechtigkeitsurteile gleichermaßen von moralischen sowie nicht-moralischen Überlegungen motiviert sein (Skitka et al. 2016). In diesem Sinne stehen situationsgebundene Einflussfaktoren auf Gerechtigkeitsurteile in inklusiven Lernsettings im Vordergrund dieser Arbeit.

In der Gerechtigkeitspsychologie werden die folgenden vier Gerechtigkeitsdimensionen unterschieden: distributive, interpersonale, prozedurale und informationale Gerechtigkeit. Distributive bzw. Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich auf die Gerechtigkeitswahrnehmung der Verteilung von begrenzten Gütern oder Ressourcen infolge eines Entscheidungs- oder Aufteilungsprozesses (Colquitt und Greenberg 2003; Dalbert 2013b; Lotz et al. 2013; Peter et al. 2013). Eine solche Ressource im Schulkontext ist beispielsweise die Zeit, die einer Lehrkraft für die Förderung zur Verfügung steht. Es werden, wie oben bereits kurz erwähnt, drei Prinzipien beschrieben, die als Grundlage für Verteilungsentscheidungen dienen können: das Leistungs‑, Bedarfs- und Gleichheitsprinzip (Lotz et al. 2013; Mikula 2002; Peter et al. 2013). Bei einer Verteilung von Ressourcen in Anwendung des Leistungsprinzips hängt der individuell zu erhaltende Anteil von der Leistung der EmpfängerInnen ab (Mikula 2000; Peter et al. 2013). Eine Ressourcenverteilung nach dem Bedarfsprinzip meint, dass Ressourcen ungleich nach der Bedürftigkeit der Empfänger verteilt werden (Peter et al. 2013). Im Kontrast zu den beiden vorherigen Prinzipien erhalten bei einer Ressourcenverteilung nach dem Gleichheitsprinzip alle RezipientInnen die gleiche Menge, ungeachtet ihrer Leistung oder ihres Bedarfs (Peter et al. 2013). Die prozedurale Gerechtigkeitsdimension bezieht sich auf die Wahrnehmung des Vorgangs, der zu einer Entscheidung bzw. Verteilung einer Ressource führte (Colquitt und Greenberg 2003; Peter et al. 2013). Die interpersonale und informationale Gerechtigkeit beziehen sich beide auf die Wahrnehmung zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation (Peter et al. 2013). Interpersonale Gerechtigkeit fokussiert stärker auf die Qualität der Interaktion und ist gegeben bei respekt- und würdevollem zwischenmenschlichem Umgang, informationale Gerechtigkeit spiegelt angemessene Erklärungen und Transparenz, vor allem in der Vermittlung einer Entscheidung wider (Colquitt und Greenberg 2003; Lotz et al. 2013; Peter et al. 2013).

Die von Oser und Kollegen aufgestellten Aspekte weisen Ähnlichkeiten speziell zu der distributiven Gerechtigkeitsdimension auf, maßgeblich in der Bezugnahme auf die verschiedenen Verteilungsprinzipien. Die Definition von Wahrhaftigkeit nach Oser und Kollegen ähnelt der prozeduralen Gerechtigkeitsdimension. In ihrem Vorgehen spielt jedoch die Variation von Kontextmerkmalen keine Rolle.

2.1 Schwerpunktsetzung auf die distributive und interpersonale Gerechtigkeitsdimension

In der vorliegenden Arbeit wurde aus den folgenden drei Gründen auf die distributive sowie die interpersonale Gerechtigkeitsdimension fokussiert. Zunächst legt die Forderung der UN-BRK nach individueller Förderung eine bedarfsgerechte Verteilung der Aufmerksamkeit einer Lehrkraft nahe, was ggf. Anpassungen auf der distributiven Gerechtigkeitsdimension verlangen würde. Weiter sind auf der interpersonalen Gerechtigkeitsdimension die im Zusammenhang mit Inklusion zentralen Forderungen nach Anerkennung von und einem würdevollen Umgang mit allen Menschen verortet. So machten Ehrhardt und Kollegen (Ehrhardt et al. 2016) mit Beobachtungsstudien deutlich, dass vor allem typische Verhaltensweisen, die der Verteilungsgerechtigkeit (wie bspw. die Zeit und Aufmerksamkeit, die eine Lehrkraft jedem Kind zuwendet) und der interpersonalen Gerechtigkeit (z. B. respektvoller Umgangston) zugeordnet werden können, im Unterricht gut beobachtbar sind.

Abschließend ist anzuführen, dass SchülerInnen- sowie Lehrkraftvorstellungen einer gerechten Schule häufig Verhaltensweisen betreffen, die diesen beiden Dimensionen zugeordnet werden (Gorard 2012; Peter et al. 2013). Bezüglich interpersonaler Gerechtigkeit wünschen sich SchülerInnen, dass sie und ihre Meinungen respektvoll behandelt und sie nicht vor ihrer Klasse gedemütigt werden (Gorard 2012; Ulich 2001). Auch Lehrkräfte berichten, dass sie einen respektvollen Umgang als wichtiges Merkmal in der Kommunikation mit ihren SchülerInnen bewerten (Berti et al. 2010). In Bezug auf die drei Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit äußern SchülerInnen ggf. konfligierende Wünsche. So ist Lob für SchülerInnen, die es verdienen, erwünscht (Leistungsprinzip); die Bevorzugung fleißiger SchülerInnen durch die Lehrkraft erscheint jedoch aus SchülerInnensicht nicht gerechtfertigt (Gleichheitsprinzip) (Gorard 2012; Ulich 2001). Weiterhin wünschen sich SchülerInnen, dass alle gleich von ihrer Lehrkraft behandelt werden (Gleichheitsprinzip) und andererseits, dass bedürftige SchülerInnen zusätzliche Hilfe erhalten (Bedarfsprinzip) (Berti et al. 2010; Gorard 2012; Peter et al. 2013; Ulich 2001). Hier zeigen sich potenzielle Konflikte bzw. Dilemmata. Hinsichtlich einer gerechten Aufmerksamkeitsverteilung der Lehrkraft sind sich die SchülerInnen uneinig. Die Hälfte der Befragten einer internationalen Studie sprach sich für eine bedarfsorientierte Verteilung aus, die andere, etwas kleinere Hälfte, präferierte hingegen eine Gleichverteilung der Aufmerksamkeit der Lehrkraft (Gorard 2012). Demgegenüber scheinen Lehrkräfte das Bedarfs- sowie das Leistungsprinzip bei der Verteilung von Ressourcen im Unterricht zu präferieren (Berti et al. 2010). Grundschullehrkräfte benennen unter anderem die Verteilung der eigenen Zeit, insbesondere bezüglich Hilfestellungen im Unterricht, als eine der häufigsten gerechtigkeitsrelevanten Situationen im Schulalltag (Ehrhardt et al. 2016). Zur Beurteilung des Umgangs mit SchülerInnen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen (SFB) liegen bisher keine Forschungsergebnisse vor.

2.2 Aktueller Forschungsstand zum Gerechtigkeitserleben in der Schule unter Berücksichtigung von Einstellungen zu Inklusion

Gerechtigkeitserleben in der Schule kann und sollte aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, wie der Sicht der Lehrkraft, der SchülerInnen, der Eltern und eben auch angehender Lehrkräfte. Dabei ist die SchülerInnenperspektive eine besonders bedeutsame. Dies ist vor dem Hintergrund sinnvoll, dass eine als gerecht erlebte schulische Lernumgebung in positivem Zusammenhang zur individuellen wie sozialen Entwicklung der SchülerInnen steht (Dalbert 2011, 2013a; Donat et al. 2018a; Kahileh et al. 2013; Lotz und Feldhaus 2013; Resh und Sabbagh 2016; Umlauft et al. 2013; Umlauft und Dalbert 2017). Auch die Perspektive der (angehenden) Lehrkräfte erscheint in diesem Kontext hoch relevant, tragen sie doch (zukünftig) maßgeblich zum Beziehungsaufbau in der Schule bei (Prengel 2019; Thies 2017). Im folgenden Abschnitt wird das schulische Erleben dieser Personengruppen näher betrachtet.

Die bisherigen, wenigen Studien zur Lehrkraftsicht auf Gerechtigkeit in der Schule kommen zu unterschiedlichen Befunden. So schätzten Lehrkräfte im Zuge eines deutschen Demokratieprojektes ihr eigenes Handeln nur „manchmal“ bis „selten“ als ungerecht oder kränkend ein (Abs et al. 2007). Etwas häufiger erlebten sie ungerechtes oder kränkendes Verhalten der SchülerInnen ihnen gegenüber. Ihr eigenes Handeln in Bezug auf die Verteilung von Lob und Aufmerksamkeit schätzten Lehrkräfte in einer Studie von Ehrhardt-Madapathi et al. (2018) dagegen als sehr gerecht ein.

Lehramtsstudierende stellen in diesem Kontext eine interessante Untersuchungsgruppe dar, da sie sich auf dem Weg zur praktizierenden Lehrkraft befinden, ihre eigene Schulzeit jedoch noch nicht weit zurückliegt. Sie bilden also eine zentrale Schnittstelle, an der Beurteilungsprozesse, je nach Phase des Studiums, in unterschiedlichem Maße SchülerInnen- oder Lehrkraftperspektiven entsprechen dürften. Nach unserem Wissen liegen in diesem Feld bisher keine Arbeiten mit dieser Gruppe vor, während experimentelle Studien bislang mit keiner Statusgruppe durchgeführt wurden.

Nicht-experimentelle, internationale und nationale Studien, die auf die erlebte Gerechtigkeit aus SchülerInnenperspektive fokussierten, berichten sehr unterschiedliche Erfahrungen der SchülerInnen. So zeigen einige Studien die Alltäglichkeit ungerechter Erfahrungen in der Schule auf (Abs et al. 2007; Berti et al. 2010; Gorard 2011; Krumm und Weiß 2000). Peter et al. (2013) arbeiteten in ihrem Überblick zu schulischem Gerechtigkeitserleben aus Lernendensicht heraus, dass SchülerInnen aller Klassenstufen und verschiedener Kulturräume Erfahrungen mit ungerechten Erlebnissen haben. Es gibt jedoch auch gegensätzliche Befunde in der Literatur, die darauf hindeuten, dass unterrichtliche Interaktionen mit Lehrkräften allgemein eher als gerecht bewertet werden (Donat et al. 16,17,a, b; Prengel 2019).

Gerechtigkeit ist aus SchülerInnensicht ein sehr wichtiges Lehrkräftemerkmal und gerecht behandelt zu werden, hat für die SchülerInnen einen hohen Stellenwert (Peter et al. 2013; Ulich 2001; Wilbert und Gerdes 2007). Ebenso ist Gerechtigkeit auch für Lehrkräfte von großer Bedeutung (Wilbert und Gerdes 2007). Welche situationsbedingten Faktoren dazu beitragen, ob Lehrkrafthandeln als gerecht oder ungerecht erlebt wird, wurde bisher kaum untersucht. SFB eines Kindes könnten ein bedeutsamer Faktor sein, der die Gerechtigkeitseinschätzung von SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen beeinflusst, da hier interpersonale (z. B. Anerkennung) und Verteilungsfragen (z. B. Hilfestellung nach besonderen Bedarfen) direkt berührt werden. Schulische Inklusion, verstanden als „bestmögliche Leistungsförderung und die unbedingte Anerkennung aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von jeglichen Voraussetzungen als vollständiger Teil der Gemeinschaft“ (Grosche et al. 2017), kann neue Bewertungen, was als eine gerechte Schule und gerechter Unterricht zu verstehen ist, bedeuten. Debatten um Verteilungs- und interpersonale Gerechtigkeitsfragen rund um schulische Inklusion sind bereits beschrieben worden (Kiel und Kahlert 2017; Werning 2014). Es ist denkbar, dass Lehrkräftehandeln in Bezug auf diese Aspekte auch maßgeblich von den jeweiligen Antworten auf diese Fragen abhängt, die die Lehrkräfte sich dazu geben. Und dies ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam, da Lehrkräftehandeln wiederum beispielsweise entscheidend auf das Zugehörigkeitsgefühl der SchülerInnen einwirken kann (Huber 2011; Umlauft und Dalbert 2017). Dass für Urteile und Handlungen von Lehrkräften in inklusiven Schulen auch gerade in Bezug auf SchülerInnen mit SFB die Einstellungen der Lehrkräfte zu Inklusion eine wichtige Rolle spielen, darf auf Grund des Forschungsstandes angenommen werden. Dabei stehen Lehrkräfte und Lehramtsstudierende einer inklusiven Beschulung von Kindern mit dem SFB emotionale-soziale Entwicklung (ESE) am kritischsten gegenüber (Avramidis und Norwich 2002; Cassady 2011; Langner 2015; Lübke et al. 2016; Rotter und Knigge 2014; Schwab und Seifert 2015), welcher neben einem SFB Lernen besonders häufig in der inklusiven Schule anzutreffen ist (Statistisches Bundesamt 2017). Die inklusive Beschulung eines Kindes mit SFB Lernen scheinen Lehrkräfte positiver zu bewerten, wenn auch abhängig von der Schwere des Unterstützungsbedarfes (Avramidis und Norwich 2002; Langner 2015; Lübke et al. 2016; Schwab und Seifert 2015).

2.3 Ableitungen von Hypothesen zum sonderpädagogischen Förderbedarf als möglichen Einflussfaktor auf Gerechtigkeitsbeurteilungen zu SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen

Welche Effekte die Wahrnehmung eines SFB auf Gerechtigkeitsbeurteilungen von SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen hat, ist bisher nicht bekannt. Vor dem Hintergrund der geschilderten Befundlage soll der Forschungsfrage nachgegangen werden, inwieweit Informationen über einen SFB eines Kindes die Gerechtigkeitsbeurteilung von verteilungs- oder interpersonalfokussierten Unterrichtssituationen bei angehenden Lehrkräften beeinflussen. Der Paradigmenwechsel hin zu einem inklusiven Schulsystem macht eine vermehrte Anwendung des Bedarfsprinzips notwendig, für die solche Gerechtigkeitseinschätzungen bedeutsam sein dürften. Die gemeinsame Beschulung von Kindern ohne und mit SFB findet im Spannungsfeld individueller Förderung bzw. zusätzlicher Zuwendung der Lehrkraft (Bedarfsprinzip) und einer möglichst gleichen Verteilung der Aufmerksamkeit bzw. Anerkennung der Lehrkraft auf alle SchülerInnen (Gleichheitsprinzip) statt. Bei Vorliegen eines SFB können Abweichungen vom Gleichheitsprinzip im Sinne eines Bedarfsprinzips ggf. als gerechter beurteilt werden als ohne einen SFB. Bezugnehmend auf die obige Fragestellung kann hier die folgende, erste Hypothese abgeleitet werden:

  1. 1.

    Bei Vorliegen einer Kontextinformation, die auf einen SFB eines Kindes schließen lässt, sollte die Gleichverteilung von Ressourcen und Zuwendung (Aufmerksamkeit, Unterstützung, …) weniger gerecht erlebt werden (Bedarfsprinzip) als ohne weitere Kontextinformationen (Gleichheitsprinzip).

Spezifisch sollen die SFB ESE und Lernen als Ausprägungen des Einflussfaktors SFB untersucht werden. Sie eigenen sich gut für einen ersten Vergleich, da sie beide häufig im gemeinsamen Unterricht anzutreffen sind (Statistisches Bundesamt 2017) und die Förderbedarfe aufgrund ihrer Symptomatik ein unterschiedlich adaptives Lehrkrafthandeln im Unterricht fordern (Lübke et al. 2016). Hier könnten sich in der Beurteilung durch die Lehramtsstudierenden Dynamiken mit den fokussierten Dimensionen von Gerechtigkeit ergeben. Kinder mit dem SFB Lernen sind hinsichtlich ihres schulischen Lern- und Leistungsverhaltens beeinträchtigt. Für Lehrkräfte ergibt sich in der Beschulung die Herausforderung, die Lernziele und Methoden im Unterricht entsprechend anzupassen und zu differenzieren (Lübke et al. 2016). Kinder mit externalisierenden Verhaltensstörungen im SFB ESE benötigen von ihren Bezugspersonen ein sehr hohes Maß an Zuwendung und weisen gleichzeitig ein von der Norm abweichendes Verhalten sowie starke affektive Reaktionen auf (Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland 2000). Das rein theoretische Wissen der Lehramtsstudierenden über die SFB könnte hier zu inadäquaten Heuristiken hinsichtlich der Art der Bedarfe der SchülerInnen führen. In diesem Sinne könnte (tendenziell fälschlich) angenommen werden, dass Kinder mit einem SFB Lernen weniger auf ein gesteigertes Maß an Zuwendung (interpersonal) angewiesen sind, sondern ausschließlich erhöhte Bedarfe an Lernressourcen (Verteilung) haben, während bei einem Kind mit dem SFB ESE Verteilungsfragen und interpersonale Gerechtigkeit im Sinne benötigter Aufmerksamkeit und Zuwendung bzw. Beziehungsarbeit in einem umfassenderen Sinne für notwendig gehalten werden könnten. Daraus ergibt sich die zweite Hypothese:

  1. 2.

    Die Variation des SFB führt in Verbindung mit den in den Situationen fokussierten Gerechtigkeitsdimensionen zu differentiellen Gerechtigkeitsurteilen. Für die Verhaltensbeschreibung gemäß eines SFB Lernen fallen Gerechtigkeitsbeurteilungen in distributiv und interpersonal fokussierten Situationen unterschiedlich aus, während sich für den SFB ESE kein dimensionsspezifisch differentielles Bewertungsmuster ergibt.

Verhaltensbeschreibungen und explizite Diagnosen eines SFB können ggf. zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen bezüglich der Anwendung des Bedarfsprinzip führen (Powell 2016). Es soll geprüft werden, welchen Effekt das explizite Label „sonderpädagogischer Förderbedarf“ in Ergänzung zu Verhaltensbeschreibungen auf Gerechtigkeitsurteile hat. Die folgende Hypothese wird abgeleitet:

  1. 3.

    Eine zusätzlich zur Verhaltensbeschreibung gegebene Information zur expliziten Diagnose eines SFB führt bei Gleichverteilung von Aufmerksamkeit oder Zuwendung bzw. negativer Abweichung von dieser zu einer geringeren Gerechtigkeitsbeurteilung gemäß dem Bedarfsprinzip als bei ausschließlicher Verhaltensbeschreibung.

Zur Annäherung an dieses wenig erforschte Feld wurden Lehramtsstudierende zu Beginn ihrer Studienzeit als Stichprobe gewählt. Aufgrund des besuchten Studiengangs und damit einhergehender Praktika im Feld und der Nähe zur eigenen Schulzeit sollte den Studierenden die Gerechtigkeitsbeurteilung der Situationen aus eigener sowie der Perspektive der SchülerInnen leichtfallen. Daneben kann mit der einsetzenden Professionalisierung im Rahmen des Studiums ein Bewusstsein für die spezifischen Herausforderungen gelingender, inklusiver Beschulung bei den Befragten angenommen werden. Lehramtsstudierende als Zwischengruppe zwischen SchülerInnen und praktizierenden Lehrkräften ermöglichen außerdem erste wichtige Einblicke in die Gerechtigkeitsbeurteilung unterrichtlicher Interaktionen aus einer Zwischenperspektive. Dies ersetzt nicht die Notwendigkeit zu einer Forschung mit Lehrkräften und SchülerInnen, ermöglicht aber mindestens erste Einblicke.

3 Methode

3.1 Stichprobe

Die Stichprobe setzt sich aus 284 Studierenden (weiblich: 145, männlich: 98, queer: 2, keine Angabe: 39) des Lehramts für die Sekundarstufen I & II an der Universität Potsdam zusammen. Die Studierenden befanden sich zum Zeitpunkt der Befragung durchschnittlich im 4. Fachsemester (SD = 2,14) und waren ungefähr 23 Jahre alt (SD = 4,63). Die Daten von neun Studierenden wurden aufgrund fehlender Werte auf der abhängigen Variablen ausgeschlossen. Die Erhebung fand im Wintersemester 2017/18 statt. Jede/r TeilnehmerIn beantwortete sechs Textvignetten, sodass 1650 Vignettenurteile die Grundlage der Analysen bilden.

3.2 Pilotierung des Instruments zur Erhebung der Gerechtigkeitsurteile

Zur systematischen Untersuchung des Einflusses des situativen Merkmals SFB auf Gerechtigkeitsurteile wurden sechs Textvignetten (Situationsbeschreibungen) verwendet – eine in der Gerechtigkeitsforschung gängige Methode (Atria et al. 2006; Auspurg et al. 2009; Liebig et al. 2015; Steiner und Atzmüller 2006; Weibler und Feldmann 2012).

Es wurden 18 Textvignetten pilotiert, in denen Verteilungs- und interpersonale Gerechtigkeitsaspekte thematisiert werden. In der Studie von Ehrhardt und Kollegen wurde, wie oben erläutert, Unterrichtssituationen identifiziert, die distributiven Gerechtigkeitsfragen entsprechen: Verteilung von Feedback, Verteilung der Aufmerksamkeit und Hilfestellung der Lehrkraft auf die SchülerInnen, Verteilung von Lob, ausbleibende Hilfestellung (Ehrhardt et al. 2016). In der INTAKT-Studie von Prengel (2019) wurden wiederkehrende Muster anerkennenden und verletzenden Lehrkraftverhaltens identifiziert, die mit der Definition distributiver Gerechtigkeit einhergehen: Leistung loben, SchülerInnen aufmerksam zuhören, SchülerIn nicht anhören (Prengel 2019, S. 120). Die SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen in den distributiv-orientierten Vignetten orientieren sich an diesen Befunden.

Analog wurden in der Studie von Prengel (2019) anerkennende und verletzende Verhaltensweisen von Lehrkräften identifiziert, die auf die Definition interpersonaler Gerechtigkeit anwendbar sind: Kinder freundlich ansprechen, Konflikte erkennen und bei der Konfliktlösung helfen, „Kinder anbrüllen, sarkastisch ansprechen, lächerlich machen, beschämen, ignorieren, unterbrechen, […] vor die Tür schicken“ (Prengel 2019, S. 120), bei Konflikten unter den SchülerInnen nicht eingreifen. Ehrhardt und Kollegen konnten ebenso Unterrichtssituationen identifizieren, die Gerechtigkeitsfragen hinsichtlich eines würde- und respektvollen Umgangs miteinander thematisieren: respektvoller Umgangston, freundliche, respektvolle und unterstützende Lehrkraft-Kind-Interaktion, angemessene und sensible Rückmeldungen an SchülerInnen, abwertende Bemerkung der Lehrkraft über ein Kind (Ehrhardt et al. 2016). In einer retrospektiven Befragung von Studierenden zu kränkendem Lehrkraftverhalten in der eigenen Schulzeit, berichten diese in ihren Falldarstellungen von verletzendem Lehrkraftverhalten, das interpersonaler Gerechtigkeit zugeordnet werden kann: abwertende Bemerkungen, ignorieren, offen gezeigte Antipathie, Schreien sowie wütende, zornige, beleidigende Reaktionen auf Schüleräußerungen (Krumm und Weiß 2000). Die dargestellten Situationen in den Vignetten mit Fokus auf interpersonale Gerechtigkeit basieren auf diesen Befunden.

Zur Kontrolle von Effekten des Geschlechts der VignettenprotagonistInnen wurden deren Namen und Personalpronomina zufällig zwischen einer weiblichen und einer männlichen Form variiert. Die Piloterhebung erfolgte ebenfalls im Wintersemester 2017/18 (N = 566). Die erlebte Gerechtigkeit wurde folgendermaßen erfragt: „Wie gerecht haben Sie die dargestellte Situation empfunden?“. Die Antwort erfolgte auf einer 5‑stufigen Ratingskala (1 = ungerecht bis 5 = gerecht) mit neutralem Mittelpunkt.

Als Selektionskriterien für die weiter zu verwendenden Vignetten wurden die mittlere Gerechtigkeitseinschätzung und die Standardabweichung jeder Vignette herangezogen. Die mittlere Gerechtigkeitseinschätzung pro Vignette wurde berechnet, um in Anlehnung an Prengel (2019) ein variables Spektrum an Interaktionen – gerechte sowie ungerechte – in der späteren Studie abzubilden. Eine höhere Standardabweichung wurde als weiteres Kriterium herangezogen, da sie eine interindividuelle Variabilität der Einschätzungen zu jeder Vignette abbildet, die hinsichtlich des geplanten Fortgangs der Untersuchung im Sinne der Identifikation von Effekten einer experimentellen Kontextvariation der Vignetten günstig erschien. Sowohl für die Dimension der Verteilungsgerechtigkeit wurden je eine durchschnittlich eher gerecht beurteile Vignette (M = 4,38; SD = 0,99), eine eher ungerecht eingeschätzte Vignette (M = 1,59; SD = 0,89) und eine Vignette eher neutraler Einschätzung (M = 2,92; SD = 1,07) ausgewählt, als auch für die Dimension der interpersonalen Gerechtigkeit (durchschnittlich eher gerecht beurteilte Vignette (M = 4,33; SD = 0,98), eher ungerecht beurteilte Vignette (M = 1,35; SD = 0,58), eher neutral beurteilte Vignette (M = 3,60; SD = 1,09)). In Tab. 1 werden die sechs Textvignetten inklusive der Geschlechtsvariation der Vignettenprotagonisten dargestellt. Die pilotierte, mittlere Gerechtigkeitsausprägung sowie die Zuordnung zu einer der beiden Gerechtigkeitsdimensionen sind in der ersten Spalte unter den Namen der Vignetten aufgeführt.

Tab. 1 Vignettentexte mit Variation des Geschlechts des Kindes und der Lehrkraft

3.3 Design

Wie oben beschrieben, bilden die für die Weiterarbeit ausgewählten sechs Vignetten die Kombination der fokussierten Gerechtigkeitsdimensionen (distributiv, interpersonal) und der ohne weitere Kontextinformationen pilotierten, mittleren Gerechtigkeitsausprägung (gerecht, neutral, ungerecht) ab. Es handelt sich dabei um zwei analog benannte Faktoren im Studiendesign, alle berücksichtigten Faktoren sind in Tab. 2 im Gesamtüberblick zu sehen.

Tab. 2 Variierende Vignettenmerkmale (Faktoren) mit den dazugehörigen Faktorstufen

Gemäß der Fragestellung wurden als weiterer zentraler Faktor die Förderbedarfe ESE und Lernen in den pilotierten Textvignetten als Kontextinformationen variiert, um deren Einfluss auf die Gerechtigkeitsurteile von Lehramtsstudierenden zu den Unterrichtssituationen zu untersuchen. Dabei bildet die Verhaltensbeschreibung des SFB ESE ausschließlich die Symptomatik einer externalisierenden Verhaltensstörung ab, internale Störungsbilder bleiben im vorliegenden Design unberücksichtigt. Darüber hinaus wurde gemäß der dritten Hypothese ein Faktor einer zusätzlichen Information über den Diagnosestatus hinzugefügt. Diese Information wurde randomisiert zusätzlich zu den SFB-Verhaltensbeschreibungen mit in die Situationsdarstellungen aufgenommen.

Für jede der sechs Basisvignetten wurden 24 Versionen erzeugt, die sich aus der dreifachen Variation des SFB (ohne SFB, Verhaltensbeschreibung gemäß SFB Lernen, Verhaltensbeschreibung gemäß SFB ESE – externalisierende Verhaltensstörung), der zweifachen Variation der zusätzlichen Diagnoseinformation (keine oder eine explizite Angabe einer Diagnose von SFB) sowie der jeweiligen Variation des Geschlechts des Kindes und der Lehrkraft (siehe Tab. 2). Insgesamt wurden also 144 verschiedene Vignetten verwendet. Zur Verdeutlichung folgt nun eine Beispielvignette, die je eine mögliche Variante der vier variablen Vignettenkomponenten enthält:

Paul hat eine deutlich langsamere Auffassungsgabe und ist schneller überfordert. Er ist in den meisten Fächern zwei Jahre und mehr hinter den im Mittel in dieser Altersstufe erwarteten Lernständen entfernt. Der Schüler hat einen diagnostizierten, sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen. Heute sollen Paul und seine KlassenkameradInnen in Stillarbeit ein Arbeitsblatt bearbeiten. Paul verweigert die Bearbeitung des Aufgabenblattes. Herr Schmidt ermahnt ihn kurz zur Arbeit an seinen Aufgaben. In der restlichen Stunde wendet er sich den Fragen der anderen SchülerInnen zu.

Der erste Satz bildet die Variation des SFB für die Ausprägung „Lernen“ ab, respektiv lautet die Beschreibung für den SFB ESE: „Paul hat große Schwierigkeiten, sich zurückzuhalten und dauerhaft dem Unterrichtsgeschehen zu folgen. Er gerät häufig mit dem Personal und den MitschülerInnen an der Schule aneinander.“ Der zweite Satz gibt eine Variation über die zusätzliche diagnostische Information wieder. Die äquivalente Variante nennt explizit den Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung als Diagnose. In der Bedingung ohne Diagnose entfällt nur der zweite Satz. Danach folgt die Situationsdarstellung gemäß der Vignette „Arbeitsverweigerung“. Zur Variation des Geschlechts wurde entweder Paul oder Lisa mit entsprechenden Personalpronomina in der Vignette verwendet, um hier möglichen Geschlechtereffekten vorzubeugen und bei den StudienteilnehmerInnen die Identifikation mit den Vignettenprotagonisten zu erleichtern. Ebenso wurde das Geschlecht der Lehrkraft durch die entsprechende Bezeichnung Herr oder Frau zufällig variiert.

Um eine möglichst umfassende Gerechtigkeitseinschätzung jeder Vignette zu erhalten, erschien es sinnvoll, verschiedene Perspektiven in der Gerechtigkeitsbeurteilung abzubilden (Ehrhardt et al. 2016). So wurde die Gerechtigkeitsbeurteilung jeder Vignette mittels drei Items erhoben. Das erste Item erfragte die wahrgenommene Gerechtigkeit aus Perspektive der Befragten. Hier kann angenommen werden, dass die Perspektive der Lehramtsstudierenden schon stark an der Lehrkraftperspektive orientiert ist – dies konnte beispielsweise in Studien zum Praxissemester gezeigt werden (Holtz 2014; Meyer und Kiel 2014). Die Items zwei und drei forderten die Befragten auf, sich jeweils in die Lage des Kindes bzw. seiner/ihrer MitschülerInnen zu versetzen, und eine Gerechtigkeitsbeurteilung der Situation aus deren Perspektive abzugeben. Hier könnte die oben benannte Nähe zur eigenen Schulzeit die Übernahme dieser Perspektiven begünstigen. Die Antwortskala blieb unverändert. Die drei Items wurden für die Analysen über den Mittelwert zu einer Skala zusammengefasst. Damit gibt die Skala Aufschluss über die allgemeine Gerechtigkeitsbeurteilung der Situation.

3.4 Ablauf der Untersuchung

Die Befragten beurteilten die Vignetten im Rahmen einer Vorlesung für Lehramtsstudierende für die Sekundarstufe I & II an der Universität Potsdam. Die Onlinebefragung war Teil des Studienbegleitforschungsprogramms ProfInk (Knigge et al. 2020). Die Befragung erfolgte mittels des Online-Fragebogentools „EFS Survey“. In dem Fragebogen wurden Vignettensets gebildet. Jedes Set enthielt eine Variante jeder der sechs Situationsbeschreibungen. Weiterhin waren in jedem Set die Geschlechteranteile der Protagonisten ausgeglichen und je eine Variation des Faktors SFB (inklusive einer Vignette ohne Verhaltensbeschreibung und der Variation ohne zusätzliche diagnostische Information) enthalten. So wurden 24 Sets á 6 Vignetten gebildet. Die Studierenden wurden in der Onlinebefragung per Zufall einem Set zugewiesen. Die Vignetten wurden den TeilnehmerInnen in randomisierter Reihenfolge präsentiert, um möglichen Reihenfolgeeffekten vorzubeugen (Steiner und Atzmüller 2006).

3.5 Analyse

Da jede/r TeilnehmerIn jede der sechs Vignetten beantwortete, liegt eine Messwiederholung vor, die es inferenzstatistisch zu beachten gilt (Steiner und Atzmüller 2006). Die Daten wurden mittels Linearer Mischmodelle (LMM) mit den R‑Paketen lme4 (Bates et al. 2015a) und RePsychLing (Bates et al. 2015b) unter Verwendung der Maximum-Likelihood-Schätzung und BOBYQA-Optimizer analysiert, die p-Werte und Freiheitsgrade wurden mit dem Paket lmerTest (Kuznetsova et al. 2017) mittels der Satterthwaite-Schätzung in R (R Core Team 2020) berechnet. Effektstärken wurden mit dem R‑Paket effectsize ermittelt (Ben-Shachar et al. 2020). Mit den 24 Versionen der sechs Vignetten wurde ein faktorielles Design realisiert. Aufgrund der geringen Vignettenanzahl wurden diese analog zur obigen Beschreibung mittels zweier Faktoren aus pilotierter, mittlerer Gerechtigkeitsausprägung (ungerecht, gerecht, neutral) und Gerechtigkeitsdimension (distributiv, interpersonal) als feste Effekte modelliert. So konnte für die Unterschiedlichkeit der Vignetten kontrolliert werden. Weiterhin wurden die oben beschriebenen variierenden Vignettenmerkmale in entsprechende Faktoren (SFB, diagnostische Information, Geschlecht des Kindes und der Lehrkraft) überführt und als feste Effekte in das Modell aufgenommen. Die resultierenden Faktoren inklusive ihrer Faktorstufen können Tab. 2 entnommen werden.

Für die Antworten der StudienteilnehmerInnen auf der abhängigen Variable wurden Random Intercepts modelliert (Varianz der interindividuellen mittleren Gerechtigkeitsurteile über alle Experimentalbedingungen hinweg). Außerdem wurden Random Slopes modelliert, die die interindividuellen Unterschiede der experimentellen Effekte repräsentieren. Zufällige Effekte, die nicht von den Daten unterstützt wurden, sprich keine interindividuelle Varianz erklärten, wurden in den finalen Modellen ausgeschlossen. Die Bestimmung eines sparsamen LMM (Bates et al. 2015b) führte zur Aufnahme der beiden Kontraste des Faktors der pilotierten Gerechtigkeitsausprägung und der damit assoziierten Korrelationsparameter in die Schätzung der Varianzkomponenten.

Für alle Prädiktoren wurden Kontraste zwischen den benachbarten Faktorstufen spezifiziert (siehe Tab. 2) (Venables und Ripley 2002). Diese Art der Kontrastkodierung ist aufgrund der Orthogonalität der Kontrastmatrix besonders bei mehreren Prädiktoren und der Modellierung von Interaktionen von Vorteil. Der Modell-Intercept entspricht weiterhin dem Gesamtmittelwert über alle Faktoren hinweg (Schad et al. 2020). So können die resultierenden Schätzungen als Unterschied in der Gerechtigkeitsbeurteilung zwischen den Faktorstufen interpretiert werden (Faktorstufe 2 minus Faktorstufe 1); für den dreistufigen Faktor „pilotierte Gerechtigkeitsausprägung“ werden entsprechend zwei Kontraste gebildet: die Differenz zwischen den Faktorstufen (1) ungerecht und gerecht sowie (2) neutral und gerecht. Auch für die weiteren zweistufigen Faktoren wurden analoge Kontraste definiert. Die Schätzung von Interaktionen zwischen den Faktoren ähnelt dem Vorgehen in Post-Hoc-Testungen bei der klassischen ANOVA (z. B. TukeyHSD-Test). Die Kombinationen der Faktorstufen werden jedoch kreuzweise gegeneinander getestet.

Entsprechend der ersten Hypothese wurden die Haupteffekte des Faktors SFB geschätzt. Zur Prüfung der zweiten Hypothese wurden zwei Kontrast zur Abbildung der Interaktion aus Gerechtigkeitsdimension und SFB berechnet. Gemäß der dritten Hypothese wurde der Haupteffekt für die zusätzliche Diagnoseinformation sowie dessen Interaktionen mit dem Faktor SFB geprüft. Um für die Unterschiedlichkeit der Textvignetten zu kontrollieren, wurden Haupt- und Interaktionseffekte für die Faktoren pilotierte Gerechtigkeitsausprägung und Gerechtigkeitsdimension sowie der weiteren Kontrollfaktoren Geschlecht der Lehrkraft und Geschlecht des Kindes und deren Interaktion in dem Modell geschätzt.

Die internen Konsistenzen der Gerechtigkeitsskala insgesamt und je Vignette wurde mittels Cronbachs α über die verschiedenen Perspektivangaben hinweg berechnet (vgl. Tab. 3). Über alle Vignetten hinweg betrug die interne Konsistenz der Gerechtigkeitsskala α = 0,83. Für drei der sechs Vignetten lag α in gutem bis sehr guten Bereich (α = 0,89 bzw. 0,80). Die interne Konsistenz der anderen drei Vignetten lag im Bereich von α = 0,42 bis 0,60. Die Schätzung der Effekte in den Modellen erfolgte jedoch entsprechend der vorliegenden Messwiederholung über alle 6 Basisvignetten hinweg. Die Aussagekraft der Ergebnisse sollte deswegen durch die niedrigen Cronbachs α je Vignette nicht eingeschränkt sein. Trotzdem gab dies Anlass zu Zusatzanalysen für die drei Vignetten mit niedriger interner Konsistenz auf Itemebene. Die mit dem effectsize-Paket ermittelten Effektstärken wurden zur Berücksichtigung der Abhängigkeit der Daten anhand der Teststatistik berechnetFootnote 1. Das so ermittelte Cohens d ist entsprechend als Schätzung zu verstehen (Ben-Shachar et al. 2020). Die lineare Abhängigkeit zwischen den Roheffektwerten und d ist damit aufgrund der Berechnung anhand der t‑Teststatistik nicht eins zu eins gegeben.

Tab. 3 Deskriptive Kennwerte der Gerechtigkeitsbeurteilung der sechs Situationsbeschreibungen (N = 275)

4 Ergebnisse

4.1 Deskriptive Statistiken

In einem ersten Schritt wurden deskriptive Kennwerte der sechs Vignetten berechnet. Die durchschnittlichen Gerechtigkeitseinschätzungen der Vignetten fielen analog zur Pilotierung ohne Kontextinformationen aus (vgl. Tab. 3 sowie Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Boxplot zum Zusammenhang zwischen SFB und Gerechtigkeitseinschätzung der getesteten Vignetten. Die Raster bilden die im Modell geschätzten Gerechtigkeitsbeurteilungen in Boxplots je Vignette für den Faktor SFB ab

4.2 Einfluss des SFB auf die Gerechtigkeitsbeurteilung

In Tab. 4 sind die geschätzten Effekte aus dem LMM abgebildet. Die aufgeklärte Varianz des Gesamtmodells war substanziell (konditionales R2 = 0,70) und die auf die festen Effekte bezogene Varianzaufklärung (marginales R2) betrug 0,64. Die mittlere Gerechtigkeitsausprägung der Vignetten wurde analog zur Pilotierung bestätigt: gerechte Vignetten wurden durchschnittlich 2 Skaleneinheiten höher eingeschätzt als ungerechte Vignetten (p < 0,001, d = 1,76) und neutrale Vignetten wurden im Mittel um eine Skaleneinheit niedriger auf der Gerechtigkeitsskala eingeschätzt als gerechte Vignetten (p < 0,001, d = 1,11) (Tab. 4, Zeilen 3 & 4). Vignetten mit einem interpersonalen Fokus wurden um 0,21 Einheiten gerechter beurteilt als Vignetten mit einem distributiven Schwerpunkt (p < 0,001, d = 0,25) (Tab. 4, Zeile 5).

Tab. 4 Schätzungen der Modellparameter des LMM zur Vorhersage der subjektiven Gerechtigkeitsurteile

Situationen, in denen ein Kind mit Kontextinformationen, die auf einen möglichen SFB ESE hinweisen, beschrieben wurde, wurden von den angehenden Lehrkräften im Mittel um 0,10 Skaleneinheiten weniger gerecht eingeschätzt als Situationen, in denen das Kind ohne entsprechende Kontextinformationen beschrieben wurde (M = 2,92 vs. 3,01, p = 0,017, d = 0,07; vgl. Tab. 4, Zeile 8). Nach Funder und Ozer (2019) kann dieser Effekt als sehr klein bewertet werden. Da es sich um ein wenig erforschtes Feld handelt, ist weitere Forschung nötig, um ihn adäquat einzuordnen. Außerdem sind in der experimentellen Forschung mit ähnlich komplexen Designs (auch in der Auswertung) typischerweise kleinere Effekte zu erwarten (Funder und Ozer 2019). Die differentielle Bewertung über alle Situationen hinweg kann auch in Abb. 1 jeweils im Vergleich der pro Basisvignette rechten Box mit der mittleren Box veranschaulicht werden. Die Situationen mit einer Kontextinformation, die auf einen SFB ESE hinweist, wurden als weniger gerecht beurteilt als ohne Kontextinformation über einen SFB. Dieser Effekt trat jedoch nicht für die Manipulation mit der Verhaltensbeschreibung des SFB Lernen auf. Der Unterschied zwischen SFB Lernen und der neutralen Verhaltensbeschreibung (M = 2,97 vs. 3,01) war als Haupteffekt nicht signifikant (p = 0,075, d = 0,05) (Tab. 4, Zeile 7).

4.3 Interaktion zwischen dem SFB und der Gerechtigkeitsdimension auf die Gerechtigkeitsbeurteilung

Einer der zwei Kontraste zur Schätzung der Interaktion von Gerechtigkeitsdimension und SFB war signifikant (p = 0,009, d = 0,07; vgl. Abb. 2 sowie Tab. 4, Zeile 14). Die unterschiedliche Beurteilung der interpersonal- und distributivorientierten Vignetten variiert stärker, wenn das Verhalten des Kindes gemäß eines Förderbedarfs Lernen (M = 3,12 vs. 2,78) beschrieben wurde als ohne einen Förderbedarf (M = 3,09 vs. 2,96). Sprich die angehenden Lehrkräfte beurteilten distributivorientierten Vignetten weniger gerecht, wenn Kontextinformationen zum Kind gemäß eines SFB Lernen (M = 2,78) beschrieben wurden als ohne diese Information (M = 2,96). Die Gerechtigkeitsurteile zu den interpersonalen Vignetten zeigten dieses Muster nicht.

Abb. 2
figure 2

Interaktionsplot zur Interaktion der Faktoren „SFB“ und „Gerechtigkeitsdimension“ auf die Gerechtigkeitsurteile

4.4 Einfluss der zusätzlichen diagnostischen Information auf die Gerechtigkeitsbeurteilung

Weder der Haupteffekt des Faktors „diagnostische Information“ (p = 0,744, d = 0,01, 95 % KI [−0,05–0,07], vgl. Tab. 4, Zeile 9) noch die Interaktionen mit dem Faktor „SFB“ (p = 0,286, d = 0,06, 95 % KI [−0,05–0,18], bzw. p = 0,199, d = 0,07, 95 % KI [−0,04–0,19], vgl. Tab. 4, Zeilen 12 f.) hatten einen bedeutsamen Einfluss auf die Gerechtigkeitsurteile der Befragten. Damit wurde kein Hinweis darauf gefunden, dass eine zusätzliche Diagnoseinformation über eine prototypische Verhaltensbeschreibung hinaus die Gerechtigkeitsurteile der Befragten beeinflusste.

Neben dem hier berichteten Modell wurde ein weiteres mit den Kontrollvariablen zur Balancierung des Geschlechts des Kindes und des Geschlechts der Lehrkraft gerechnet. Beide Geschlechtsfaktoren wiesen keine signifikanten Effekte und Interaktionen auf. Diese Studie liefert keinen Hinweis dafür, dass das Geschlecht des Kindes oder der Lehrkraft bzw. deren Zusammenspiel einen Einfluss auf Gerechtigkeitsurteile hat.

Die stark schwankende interne Konsistenz der Gerechtigkeitsskala je Vignette gab Anlass, zusätzliche Regressionsanalysen je Vignette auf Itemebene durchzuführen. Für die Vignette „Arbeitsverweigerung“ war die Verhaltensbeschreibung des Kindes gemäß eines SFB für die Beurteilung aus der eigenen Perspektive (Item 1) bedeutsam und für die Perspektive des Kindes (Item 2) war die Verhaltensbeschreibung gemäß SFB Lernen sowie die Interaktion aus SFB und diagnostische Information für den SFB ESE bedeutsam. Der SFB Lernen war für die Beurteilung der Vignette „Vor die Tür“ aus Perspektive des Kindes bedeutsam. Ebenso war die Verhaltensbeschreibung gemäß SFB Lernen für die Beurteilung der Vignette „Hänseleien“ aus eigener Perspektive bedeutsam. Für die Gerechtigkeitsbeurteilung aus Perspektive der Mitschülerinnen konnte keine signifikanten Effekte identifiziert werden. Die Ergebnisse replizieren die oben berichteten Befunde im Allgemeinen.

5 Diskussion

Die Schule stellt in ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsfunktion eine entscheidende Institution zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen dar (Fend 2009). Die in der UN-BRK betonte Berücksichtigung der Förderung individueller Möglichkeiten jedes/r Einzelnen bringen Anpassungsdruck für Ressourcenumverteilungen und bestehende Interaktionskulturen mit sich, die eine Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitsfragen im Sinne erlebter Gerechtigkeit sinnvoll erscheinen lassen. Die vorliegende Arbeit ging deshalb der Frage nach, inwieweit Informationen über SFB von Kindern Gerechtigkeitsurteile zu SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen im Unterricht beeinflussen. Dafür wurden Situationsbeschreibungen verwendet, in denen die Verteilungsgerechtigkeit sowie die Gerechtigkeit der Qualität des zwischenmenschlichen Umgangs thematisiert wurden, da solche Situationen in der Schule beobachtbar vorkommen und von SchülerInnen und Lehrkräften als besonders bedeutsam für eine gerechte Schul- und Unterrichtsgestaltung beschrieben werden. Um erste Einblicke in das bisher wenig erforschte Feld der Gerechtigkeitskognitionen im Kontext inklusiver Bildung zu erhalten, wurden angehende Lehrkräfte als Stichprobe gewählt. Neben der guten Erreichbarkeit dieser Akteursgruppe kann davon ausgegangen werden, dass mit Beginn der Professionalisierung im Rahmen des gewählten Studiums ein grundlegendes Bewusstsein für die spezifischen Herausforderungen inklusiver Beschulung bei den Befragten besteht. Andererseits begünstigt die Nähe zur eigenen Schulzeit die in der Befragung angeregte Übernahme der Perspektive der SchülerInnen vermutlich.

5.1 Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse

Die erste Hypothese, die neben dem Gleichheitsprinzip eine tendenzielle, zusätzliche Berücksichtigung des Bedarfsprinzips in der Gerechtigkeitsbeurteilung bei Wahrnehmung eines Kindes mit SFB annahm, konnte im Zuge der inferenzstatistischen Analysen nur teilweise bestätigt werden. Hypothesenkonform wurden SchülerInnen-Lehrkraft-Interaktionen, in denen der/die SchülerIn mit Kontextinformationen bezüglich externalisierenden Verhaltensstörungen beschrieben wurde, entsprechend der Berücksichtigung des Bedarfsprinzips im Falle einer Gleich- oder Schlechterstellung des Kindes weniger gerecht von den Lehramtsstudierenden eingeschätzt als bei einer analogen Beschreibung eines unauffälligen Kindes (p = 0,017, d = 0,07). In Bezug auf Kontextinformationen zu dem Förderbedarf Lernen führte diese nicht in allen beschriebenen Situationen zu einem signifikanten Unterschied. Die abgebildeten SFB scheinen also unterschiedliche Effekte auf die Gerechtigkeitsbeurteilungen der Lehramtsstudierenden zu haben.

Der in Hypothese 2 vermutete Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeitsdimension und der Manipulation (SFB) wurde durch die bedeutsame Interaktion der Gerechtigkeitsdimension und dem SFB Lernen (p = 0,009, d = 0,07) gestützt. Die angehenden Lehrkräfte beurteilten die verteilungsfokussierten Situationen für die SchülerInnen mit beschriebenen Lernschwierigkeiten bedarfsorientiert weniger gerecht als für neutral beschriebene SchülerInnen. Eine spezifische Interaktion der Manipulation gemäß des SFB ESE und der Gerechtigkeitsdimension der Vignetten wurde nicht gefunden.

Betrachtet man die Ergebnisse der ersten beiden Hypothesen gemeinsam, zeigt sich, dass eine Gleichbehandlung aller in der sozialen Vergleichsgruppe (Klasse) gemäß dem Bedarfsprinzip weniger gerecht gesehen wurde, wenn die interagierenden SchülerInnen mit SFB beschrieben wurden. Entsprechend könnte eine bedarfsgerechtere Verteilung von Lob und Aufmerksamkeit bei Vorhandensein eines SFB eher präferiert werden, auch wenn dies in der vorliegenden Studie so nicht explizit untersucht wurde. Das dies möglich sein könnte, lässt sich auch deskriptiv in Abb. 1 daran ablesen, dass die Gerechtigkeitsbewertungen der distributiven Vignetten „allgemeines Lob“, „Arbeitsverweigerung“ und „keine Rückmeldung“ bei Beschreibung eines SFB durchweg im Sinne einer Verletzung des Bedarfsprinzips niedriger ausfielen.

Für Situationen mit Fokus auf zwischenmenschliche Gerechtigkeitsfragen ergab sich kein eindeutiges Bild. Die Situation „wertschätzendes Feedback“ wurde deskriptiv ähnlich bewertet wie die zuvor beschriebenen, verteilungsorientierten Situationen (vgl. Abb. 1). Eventuell stand hier in der Wahrnehmung der Vignette die Verteilung des Feedbacks eher im Vordergrund als der angestrebte Fokus auf Wertschätzung. Auch hier wurde gemäß der ersten Hypothese die Interaktion zwischen Lehrkraft und Klasse bedarfsorientierter beurteilt. In der Beurteilung der Situation „Vor die Tür“ zeigte sich unerwartet (vgl. Abb. 1) ein gerechteres Erleben beim Vorliegen von Kontextinformationen zu einem SFB Lernen. Dies widerspricht der erwarteten Bewertung nach dem Bedarfsprinzip. Eventuell greift hier in den Beurteilungen das Leistungsprinzip in dem Sinne, dass das beschriebene Verhalten des Kindes als geringere Leistung betrachtet wird und ein Bedarfsprinzip keine Anwendung findet, weil ein SFB Lernen in der Sicht der Studierenden fälschlicherweise so interpretiert worden sein könnte, dass damit nicht häufig auch Verhaltensprobleme assoziiert wären. Es könnten also Überzeugungen der Lehramtsstudierenden zur Kontrollierbarkeit des Verhaltens – im Vergleich zum SFB ESE – zu dieser Beurteilung beitragen. Auch wenn dies häufig nicht der Realität entsprechen dürfte, könnte es eine mögliche Beurteilungsheuristik sein, die hier angewandt wurde. Die etwas gerechtere Beurteilung des Nicht-Eingreifens der Lehrkraft in der Situation „Hänseleien“ für ein Kind mit dem SFB Lernen als für einen SFB ESE könnte auf ähnliche Heuristiken der Studierenden zur Kontrollierbarkeit des Verhaltens durch das Kind zurückgehen.

Die Befunde zu den Hypothesen 1 und 2 deuten darauf hin, dass die Befragten eine Gleichverteilung der Ressourcen in den beschriebenen lernrelevanten Unterrichtsinteraktionen (Lob, Aufmerksamkeit der Lehrkraft) im Falle des Vorliegens eines SFB weniger gerecht beurteilten, und das für beide untersuchte Förderschwerpunkte. Dies stützt die Annahmen zur Anwendung des Bedarfsprinzips in der Bildung von Gerechtigkeitsurteilen auch im Zusammenhang mit inklusiver Schul- und Unterrichtsgestaltung (Peter et al. 2013). Die bedarfsorientierte Gerechtigkeitsbeurteilung der Situationen bei Beschreibung eines Kindes mit dem SFB ESE könnte auf Wissen zur Bedeutung zwischenmenschlicher Zuwendung im adaptiven Unterrichtshandeln bei diesem Förderbedarf hindeuten (Lübke et al. 2016). Eine ähnliche Bewertungsheuristik für das Vorhandensein des SFB Lernen konnte in dieser Untersuchung nicht für Situationen mit Fokus auf interpersonale Gerechtigkeit gezeigt werden. Die Übertragung der Verteilungsprinzipien auf Interaktionen, die die Gerechtigkeit der Qualität von Interaktionen betreffen, erscheint aufgrund dieser Befunde nur bedingt möglich. Die Ergebnisse dieser Studie deuten in der Summe aber zumindest teilweise auf eine erste Sensibilisierung der Studierenden für die besonderen Bedürfnisse der Kinder mit SFB hin.

Inwiefern hier individuelle Fähigkeiten der Perspektivübernahme und der Empathiefähigkeit eine Rolle spielen und zum weiteren Ausbau der Akzeptanz des Bedarfsprinzips beitragen können, erscheint für zukünftige Untersuchungen von großer Relevanz zum tiefergehenden Verständnis der hier ablaufenden Bewertungsprozesse. Durch die experimentelle Anlage wurde dieser Aspekt in der vorliegenden Studie randomisiert konstant gehalten. Ob die SchülerIn-Perspektive in hohem Maße die Beobachtersensibilität der Befragten anspricht und die MitschülerInnen-Perspektive die Beobachter- oder auch die Nutznießersensibilität, ist dabei in zukünftiger Forschung zu klären, denn es könnten in Abhängigkeit von Perspektiven unterschiedliche Facetten von Ungerechtigkeitssensibilität angesprochen werden (Schmitt et al. 2009). Die Untersuchung möglicher Zusammenhänge zwischen den Facetten von Ungerechtigkeitssensibilität und den einzelnen Perspektiven in den Items könnte also vielversprechend sein. Eine damit einhergehende Stärkung der einzelnen Perspektiven auf Gerechtigkeit erscheint für weitere Erhebungen lohnend.

Die dritte Hypothese hinsichtlich des verstärkenden Effekts einer zusätzlichen diagnostischen Information ergänzend zu einer SFB-adäquaten Kontextinformation auf die erlebte Gerechtigkeit konnte in dieser Arbeit nicht bestätigt werden. Eine zur Verhaltensbeschreibung zusätzliche Information über den Diagnosestatus des interagierenden Kindes beeinflusste die Gerechtigkeitswahrnehmung der Studierenden offenbar nicht. Der Einfluss einer zusätzlichen diagnostischen Information, die eine reine Verhaltensbeschreibung ergänzt, scheint basierend auf diesen Ergebnissen für Gerechtigkeitsfragen zumindest für die Studierendengruppe keinen zusätzlichen Effekt auf die soziale Akzeptanz von Bedarfsorientierung zu haben. Ob dies für andere Gruppen ähnlich und bei einem Vergleich nur Diagnose vs. nur Verhaltensbeschreibung ebenso ist, ist eine offene Frage.

5.2 Limitationen

Die hinsichtlich der Hypothesen 1 und 2 berichteten Befunde sind in ihrer Aussagekraft limitiert, da nur Interaktionen untersucht wurden, in denen alle SchülerInnen das gleiche bekommen oder der/die im Fokus stehende SchülerIn etwas nicht bekommt, was seine/ihre MitschülerInnen bekommen (negative Abweichung vom Gleichheitsprinzip). Ob entsprechend auch ein Mehr an Aufmerksamkeit oder Lob als gerechter beurteilt würde, ist aus der vorliegenden Untersuchung nicht abzuleiten. Der Literatur zufolge führt eine negative Abweichung potenziell eher zu wahrgenommener Ungerechtigkeit als eine positive Abweichung (Lotz et al. 2013). Eine positive Abweichung von der Gleichbehandlung aller SchülerInnen könnte daher zu anderen Effekten führen, die gerade im inklusiven Unterricht und im Sinne des Bedarfsprinzips potenziell bedeutend sind und daher unbedingt in zukünftigen Untersuchungen fokussiert werden sollten. Die Erforschung der gefundenen Effekte mit Situationsbeschreibungen, in denen eine positive Abweichung vom Gleichheitsprinzip stattfindet, ist für zukünftige Erhebungen geplant. Ebenso sind Wirkungen des Diagnosestatus’ nur teilweise untersucht und bedürfen weiterer Klärung.

Besonders eine höhere Anzahl an Situationsbeschreibungen wäre nützlich gewesen, um die Varianz der einzelnen Vignetten besser im Modell berücksichtigen zu können. Den Empfehlungen folgend hätten 10 bis 20 Vignetten besser als zufällige Einflussvariable im Modell berücksichtigt werden können (Singmann und Kellen 2019). Um in der vorliegenden Studie trotzdem zumindest teilweise für Effekte der Unterschiedlichkeit der Vignetten zu kontrollieren, wurden sie in die Faktoren Gerechtigkeitsdimension und pilotierte Gerechtigkeitsausprägung aufgeschlüsselt und als fixe Effekte modelliert. Dies ermöglichte eine genauere Schätzung der Effekte der implementierten Manipulationen. Eine höhere Vignettenanzahl stellt erhebliche Anforderungen an ein Studiendesign. Eine Umsetzbarkeit sollte in zukünftigen Studien aber gründlich geprüft werden.

Neben den genannten Punkten sollen die stark schwankenden Werte der internen Konsistenz der Gerechtigkeitsskala je Vignette nicht außer Acht gelassen werden. Wie oben beschrieben, wurden die Analysen im Sinne einer Messwiederholung pro TeilnehmerIn über alle Vignetten hinweg in randomisierten Varianten durchgeführt. In Zusatzanalysen mit Einzelitems zeigten sich die Gesamtergebnisse zwar grundsätzlich bestätigt, es gab aber auch Hinweise, dass auch die Bedeutung der verschiedenen Perspektiven für die Gerechtigkeitsbeurteilung mehr Berücksichtigung finden sollte. So könnte es sein, dass einige der Vignetten geeigneter für dieses Erhebungsformat waren als andere. Die Auswahl nach der durchschnittlichen Gerechtigkeitsbewertung und der Variabilität (SD) erschien zum Zeitpunkt der Pilotierung als ein angemessenes Vorgehen. Für die zukünftige Pilotierung neuer Vignetten ist angedacht, neben den bisherigen Kriterien, die eingeschätzte Realitätsnähe sowie von Beginn an Maße der internen Konsistenz (Cronbachs α und McDonalds ω) und/oder Mehrperspektivität anhand verschiedener Skalen zu berücksichtigen.

Die berichteten Ergebnisse sind aufgrund der Stichprobe nur eingeschränkt generalisierbar. Die hier realisierte Stichprobe Lehramtsstudierender des Sekundarstufenlehramtes ist eine sehr spezifische Gruppe. Es ist unklar, ob Gerechtigkeitsurteile von Lehrkräften und SchülerInnen ähnlichen Mustern folgen und ob dies nochmal z. B. nach Primar- und Sekundarstufenzugehörigkeit und/oder Schulform variiert. Die Analysen auf Itemebene weisen jedoch auf differenzierte Perspektivübernahmen der Studierenden in ihren Gerechtigkeitsurteilen hin und sprechen hier für Erkenntnisse, die auch auf SchülerInnen und Lehrkräfte übertragbar sein könnten. Inwiefern die Studierenden sich selbst schon mit der Lehrkraftperspektive identifizierten, konnte nicht überprüft werden, erscheint aber vor dem Hintergrund aktueller Literatur möglich (Holtz 2014; Meyer und Kiel 2014). Die Befragten bilden, wie eingangs erwähnt, eine interessante Zwischengruppe ab, die erste Einblicke in dieses Feld sowie erste Hinweise zum differentiellen Erleben aus Lehrkraft- und SchülerInnenperspektiven liefern könnte. Inwiefern eine zunehmende Professionalisierung der Lehrkräfte die Gerechtigkeitsurteile verändert, bildet ein weiteres Forschungsdesiderat ab. Daher sind Erhebungen mit Lehrkräften ebenso wie mit SchülerInnen und anderen Studierendengruppen eine wichtige Fortsetzung dieser Forschung.