1 Einleitung

Das Konzept der symbolischen Gewalt kann als Konvergenzpunkt innerhalb von Pierre Bourdieus Soziologie betrachtet werden. Es ist mit Bourdieus sozialstrukturellen, feldanalytischen und ordnungstheoretischen Analysen genauso verbunden wie mit Überlegungen zu den soziokulturellen Grundlagen menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Die Ursachen und Wirkungen symbolischer Gewalt sind bei Bourdieu Gegenstand komplexer theoretischer Reflexionen, aber auch Anlass für konkrete Eingriffe in politische Diskurse. Vor allem aber eröffnet das Konzept die Möglichkeit, empirische Einsichten in die Herrschaftslogiken heterogener gesellschaftlicher Bereiche zu erlangen, wodurch auch die Identifikation der gemeinsamen Mechanismen hinter ökonomischen, geschlechtlichen, politischen oder kulturellen Hierarchisierungen möglich wird. Mit guten Gründen kann symbolische Gewalt somit als „Leitmotiv“, „Schwerpunkt“ und „Schlüsselkonzept“ von Bourdieus Werk gelten (Schultheis 2008, S. 25, 41; Moebius und Wetterer 2011, S. 1; Suderland 2014).

Bourdieus Analysen symbolischer Gewalt zielen in erster Linie auf die Beantwortung der Frage, warum verschiedene Arten von Herrschaftsverhältnissen ohne die Androhung oder Anwendung physischer Gewalt oder ökonomischen Zwangs hingenommen werden. Mehr noch: Sie möchten verständlich machen, warum Hierarchisierungen und Ungleichbehandlungen in vielen Fällen von den beherrschten Individuen nicht nur als natürlich und zwangsläufig wahrgenommen und akzeptiert, sondern auch aktiv reproduziert und als legitim verteidigt werden. Symbolische Gewalt ist laut Bourdieu „jene Form der Gewalt, die über einen sozialen Akteur unter Mittäterschaft dieses Akteurs ausgeübt wird“ (Bourdieu und Wacquant 2009, S. 204). Erklärt werden kann dieser Eigenbeitrag der Beherrschten nach Bourdieu nur, wenn jene Erkenntnisschemata und Wissensbestände in die herrschaftssoziologische Betrachtung mit einbezogen werden, die den Individuen im Zuge der Sozialisation vermittelt werden. Entscheidend sei hierbei, dass die Herrschaftsverhältnisse anhand von sozial vermittelten Klassifikationen und Schemata verstanden werden, die ihrerseits das Ergebnis der historischen Kämpfe um Macht und Herrschaft sind. „Der Beherrschte nimmt den Herrschenden mittels Kategorien wahr, die von der Herrschaftsbeziehung hervorgebracht wurden und von daher im Interesse des Herrschenden liegen.“ (Bourdieu 2004b, S. 197) Gerade weil die gesellschaftlichen Verhältnisse mittels herrschaftsimprägnierter Schemata erkannt werden, werden sie laut Bourdieu zugleich verkannt, wodurch die Legitimität der dadurch getragenen Ordnung letztlich anerkannt wird.Footnote 1 Die Individuen können dieser Logik zufolge ihrer eigenen Unterwerfung nicht gewahr werden – sie sind wie „Fische im Wasser“ (z.B. Bourdieu 2000, S. 14; 2005, S. 78). Dieses Passungsverhältnis von Erkenntnisschemata und Herrschaftsverhältnissen interpretiert Bourdieu (2004a, S. 221) im Rückgriff auf Durkheim als einen „logischen Harmonismus“, der dazu führe, dass die gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht in Form offener Konflikte problematisiert würden.Footnote 2

Der Forderung nach einer engen Verzahnung von empirischer Forschung und Theorieentwicklung entsprechend (vgl. etwa Bourdieu und Wacquant 2009, S. 194 ff.), ist Bourdieu der Funktionsweise symbolischer Gewalt in zahlreichen Bereichen nachgegangen. Teils fokussiert er hierbei auf spezifische Felder wie das Bildungs- und Hochschulsystem, die Sprache oder die Religion (vgl. Bourdieu und Passeron 1971; Bourdieu 1990, 2004b, S. 186 ff.), teils zielt er auf einer allgemeineren Ebene auf Herrschaftsdimensionen, die in mehreren oder gar allen Feldern wirkmächtig sind. – Zu denen gehören vor allem Klasse und Geschlecht.Footnote 3 In allen diesen Bereichen möchte er nachweisen, dass den Individuen Klassifikations- und Interpretationsschemata vermittelt werden, die die jeweiligen Ungleichheiten als natürlich, notwendig oder funktional erscheinen lassen. Hervorragende Schulleistungen erscheinen etwa als Ergebnis von „außergewöhnlichen Fähigkeiten“ (Bourdieu und Passeron 1971, S. 41), nicht als Resultat der unterschiedlichen Kapitalausstattung der Schüler. Insbesondere durch die oft unsichtbaren Effekte der maßgeblich familiär beförderten Inkorporierung kulturellen Kapitals werden die eigentlichen sozialen Dynamiken des Bildungserfolgs „verschleiert“ (vgl. Bourdieu 2005, S. 72 f.). Gemäß den durch die „Begabungsideologie“ (Bourdieu und Passeron 1971, S. 32) geprägten Klassifikations- und Deutungsschemata erscheint die gesellschaftliche Rangordnung als das notwendige Produkt eines gerechten Mechanismus. Erfolg und Misserfolg würden demnach aus dem Zusammentreffen von natürlichen oder charakterlichen Merkmalen wie Geschlecht, Intelligenz, Begabung oder Ehrgeiz und der meritokratischen Logik des Bildungs- und Berufssystems erklärt, während die sozialstrukturelle Position und die ungleiche Kapitalausstattung der Akteure unberücksichtigt bleibe.

Aufgrund ihrer zentralen Stellung und phänomenerschließenden Kraft avancierte die Begriffsschöpfung „symbolische Gewalt“ zu einem der „meist rezipierten und verwendeten theoretischen Konzepte Bourdieus“ (Schultheis 2008, S. 26) und wird inzwischen „als entscheidendes Stichwort der aktuellen Kultur- und Gesellschaftsanalyse“ betrachtet (Schmidt und Woltersdorff 2008a, S. 9).Footnote 4 Zugleich ist jedoch festzuhalten, dass Bourdieu das Konzept nicht in eine umfassende gewalt- und herrschaftssoziologische Perspektive eingebettet hat. „Bei Bourdieu“, so schreibt Lothar Peter (2011, S. 13), „ist ‚symbolische Gewalt‘ mehr als ein einzelner analytischer Begriff und weniger als eine ausgearbeitete Theorie.“ Probleme, Leerstellen und Widersprüche ergeben sich nicht nur aus den Verbindungen zwischen dem Konzept der symbolischen Gewalt und anderen Kernkonzepten Bourdieus, sondern auch aus der Begriffsbildung selbst.Footnote 5 Diese Konstruktionsprobleme von Bourdieus Schlüsselbegriff der symbolischen Gewalt sollen im vorliegenden Aufsatz genauer offengelegt werden.

Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass das Konzept der symbolischen Gewalt der intentionalen und phänomenalen Struktur von dem zuwiderläuft, was üblicherweise unter Gewalt verstanden wird. Diese Gegenläufigkeit macht auch besser verständlich, warum es bei Bourdieu zu einer unklaren Verhältnisbestimmung von symbolischen und physischen Gewaltaspekten kommt (Abschnitt 2). Ihre Fortsetzung finden diese konzeptuellen Probleme in Bourdieus ambivalenter Position bezüglich der historischen Entwicklung von Gewaltphänomenen. Unklar bleibt vor allem, ob symbolische Gewalt eine Form von Selbstzwang ist, die mit der Entstehung moderner Gesellschaften dominant wurde, oder ob alle, also auch (und gerade) vormoderne Gesellschaften wesentlich durch symbolische Gewalt geprägt sind (Abschnitt 3). Die konzeptuellen und geschichtstheoretischen Unklarheiten führen dazu, dass Bourdieu jenen normativen und gesellschaftskritischen Zugriff zu verlieren droht, den er – wie auch verschiedene andere Theorien – mit der Verwendung eines erweiterten Gewaltbegriffs gerade sicherstellen wollte (Abschnitt 4). Entgegen einer Reihe von Interpretationen wird im Anschluss gezeigt, dass die genannten begrifflichen Widersprüchlichkeiten nicht als intendierte Folge eines rhetorischen Kunstgriffs verstanden werden können. Wir haben es stattdessen mit einer Begriffsschöpfung zu tun, die unmerklich mit einer der grundlegenden terminologischen Strategien Bourdieus bricht. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Formulierungen wie beispielsweise dem „interesselosen Interesse“ oder dem „ernsthaften Spiel“ verbinden sich im Begriff der „symbolischen Gewalt“ nicht die emische Perspektive der Praxis und die etische Sichtweise der Soziologie in einem heuristisch produktiven Oxymoron. Vielmehr entpuppt sich die Rede von „symbolischer Gewalt“ als ein Pleonasmus, der Unklarheiten befördert, statt die analysierten Phänomene aufzuklären (Abschnitt 5). Bourdieus Konzeptualisierung symbolischer Gewalt kann auch dort nicht überzeugen, wo es um die Erfassung des Eigenbeitrags der beherrschten Individuen geht. Obwohl die „Komplizenschaft“ der Beherrschten immer wieder betont wird (z.B. Bourdieu 2012, S. 78; 1997, S. 228), werden insbesondere seine sozialisationstheoretischen Argumente dieser These nicht gerecht. Sie kommen letztendlich nicht über ein passivistisches Menschenbild hinaus, welches die Eigenleistung der unterworfenen Akteure ausblendet (Abschnitt 6). Ins Auge sticht schließlich auch Bourdieus nahezu synonyme Verwendung von „symbolischer Gewalt“, „symbolischer Macht“ und „symbolischer Herrschaft“. Diese Verwischung soziologischer Grundbegriffe scheint nicht das Ergebnis mangelnder Sorgfalt, sondern vielmehr eine bewusst vorgenommene Entdifferenzierung zu sein, die unter anderem den normativen Zugriff erleichtern soll. Darüber hinaus verdeckt die konzeptuelle Einebnung ein weiteres Problem von Bourdieus Konzeption. Denn wie die konkrete Herstellung von symbolischen Herrschaftsstrukturen durch konkret zuschreibbare symbolische Gewalthandlungen unter Rückgriff auf symbolische Machtressourcen vonstattengeht, wird von Bourdieu unzureichend analysiert (Abschnitt 7).

In Summe werden die skizzierten Probleme dazu führen, den Begriff der symbolischen Gewalt aufzugeben, aber am Ziel einer überzeugenden theoretischen Erfassung von symbolischen Herrschaftsverhältnissen festzuhalten. Denn dass Bourdieu mit dem Begriff der symbolischen Gewalt soziologisch höchst relevante Phänomene erfasst und in instruktiver Weise beschreibt, steht außer Frage. Sie müssen aber in verschiedener Hinsicht anders betrachtet und konzeptualisiert werden. Das Ziel dieses Aufsatzes ist also eine theoriekonstruktive Kritik, keine globale Zurückweisung von Bourdieus herrschaftsanalytischen Überlegungen.

2 Unwillentlich, unmerklich, allgegenwärtig und welterschließend. Die intentionale und phänomenale Struktur „symbolischer Gewalt“

Nach Bourdieu „vollzieht“ sich „symbolische Gewalt über einen Akt des Er- und Verkennens […], der noch vor den Kontrollen von Bewußtsein und Willen stattfindet“ (Bourdieu und Wacquant 2009, S. 209). Indem das Individuum mittels der gesellschaftlich überkommenen Klassifikationen seine Welt erkennt, wird die Gewalt, die es ausübt und erleidet, unkenntlich. Symbolische Gewalt wird von Bourdieu als „sanftes“, „lautloses“, „unmerkliches“, „unsichtbares“ und zugleich welterschließendes Geschehen beschrieben (Bourdieu 1990, S. 29; 2012, S. 8, 61; 1997, S. 218 ff.; Bourdieu und Wacquant 2009, S. 203). Die Akteure wissen weder um die Gewalttätigkeit ihres Handelns noch um den Schaden, den sie infolge der symbolischen Gewaltdynamiken erleiden. Sowohl die aktive als auch die passive Seite der symbolischen Gewalt erschließt sich laut Bourdieu nur dem soziologischen Blick.Footnote 6 Die soziologische Analyse fördert zudem nicht nur den unwillentlichen und unmerklichen Charakter, sondern auch die Allgegenwärtigkeit symbolischer Gewalt zutage. Nach Bourdieu steckt sie in jedem Akt des Wahrnehmens und Erkennens, in jeder Geste und „in jedem sprachlichen Tausch“ (Bourdieu 1990, S. 51).

Indem er ihren unmerklichen, unwillentlichen, allgegenwärtigen und welterschließenden Charakter behauptet, verleiht Bourdieu der symbolischen Gewalt eine intentionale und phänomenale Struktur, die in diametralem Gegensatz zu jener Struktur sozialer Interaktionen steht, die gewöhnlich als gewaltsam gekennzeichnet werden. Im Zentrum des Gewaltbegriffs – im Sinne von „violentia“, nicht „potestas“ oder „potentia“Footnote 7 – steht die körperliche, physische Schädigung. Gewalt lässt sich definieren als der „Übergriff auf den Körper eines anderen ohne dessen Zustimmung“ (Reemtsma 2013, S. 104). Es handelt sich um eine zurechenbare und klar wahrnehmbare Handlung. Darüber hinaus handelt es sich um einen gezielten Akt, nicht etwa um ein Malheur oder einen Unfall im Sinne einer nicht gewollten, mechanischen Kollision (vgl. Tyrell 1999, S. 271). Auch wenn sie in vielen Fällen nicht freiwillig ausgeführt wird – etwa wenn auf Befehl hin oder aufgrund einer Bedrohung gehandelt wird –, so ist eine Gewalthandlung doch absichtlich (vgl. Trotha 2011, S. 6). Geht man vom semantischen Kern des Begriffs aus, so zeichnen sich Gewalthandlungen demnach durch Zurechenbarkeit, Wahrnehmbarkeit und Absicht aus. Bourdieu bestimmt die symbolische Gewalt genau gegenläufig.

Dass Bourdieus Begriffsschöpfung der Gewaltsemantik widerstrebt, wird auch daran deutlich, dass er selbst immer wieder erläuternde Begriffe einflicht, die dem ubiquitären und nicht-intentionalen Charakter der symbolischen Gewalt widersprechen. Hierauf macht etwa Christian Fleck (2014, S. 239 ff.) anhand eines Zitats aus Praktische Vernunft aufmerksam: „Die symbolische Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die ‚kollektiven Erwartungen‘ stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpreßt, die als solche gar nicht wahrgenommen werden.“ (Bourdieu 2004b, S. 174) Wie die Gewalt ist auch die Erpressung üblicherweise eine konkrete, abgrenzbare und absichtlich durchgeführte Handlung. Die Rede von einer „versehentlichen Erpressung“ erscheint widersinnig.Footnote 8 Folglich schlüpfen bei Bourdieu anonyme Kräfte in die Rolle der intentional Handelnden. „Kollektive Erwartungen“ und der allgemein geteilte „Glaube“ werden zu den Instanzen der „Erpressung“ und „Gewalt“. Die Klarheit des Konzepts wird hierdurch deutlich geschmälert, da der semantisch kontraintuitive Gebrauch nicht konsequent durchgehalten wird.

Auch auf der passiven, also erleidenden Seite unterscheidet sich symbolische Gewalt radikal von körperlicher Gewalt. Symbolische Gewalt beschreibt Bourdieu sowohl als allgegenwärtigen und welterschließenden als auch als grundsätzlich unwillentlichen und unmerklichen Vorgang. Physische Gewalt wird hingegen als etwas Hartes und Invasives erfahren, das bei den betroffenen Lebewesen Schmerz verursacht. Dadurch wird sie zu etwas Unausblendbarem. Mit Elaine Scarry ließe sich sagen, dass starke Gewalterfahrungen eine weltzerstörende Qualität haben, denn in ihnen verdichtet sich die Existenz auf die unabweisbare und absolute Gegenwart körperlichen Leidens. „Intensiver Schmerz tilgt die Welt aus.“ (Scarry 1992, S. 47) Mit Blick auf die Folter argumentiert Scarry zudem, dass uns der Schmerz „in einen Zustand zurück[versetzt], in dem Laute und Schreie vorherrschen, deren wir uns bedienten, bevor wir Sprache lernten“ (ebd., S. 13). Extreme körperliche Gewalt würde uns demnach den sprachlichen Weltzugang nehmen und uns auf vorsymbolische Kommunikationsformen zurückwerfen. Spezifisch für physische Gewaltakte ist schließlich auch, dass sie gegen den Willen der betroffenen Personen durchgeführt werden. Nicht alle physisch invasiven Handlungen können demnach als gewaltsam gelten. Einvernehmliche medizinische, ästhetische, rituelle, sexuelle oder spielerische Ein- und Übergriffe auf andere scheiden aus dem semantischen Feld der Gewalt also aus (vgl. Trotha 2011, S. 10 f.). Während symbolische Gewaltprozesse laut Bourdieu welterschließend wirken und von den ihnen unterliegenden Individuen nicht als gewaltsam erfahren und aus diesem Grund auch nicht abgelehnt werden, sind körperliche Gewalthandlungen weltzerstörend, unausblendbar und unerwünscht.Footnote 9

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen verwundert es nicht, dass Bourdieus Verhältnis zu Phänomenen physischer Gewalt problematisch ist. An verschiedenen Stellen unterscheidet er eine „harte“, „nackte“, „reale“ oder „physische“ Ausprägung von GewaltFootnote 10 von dem „symbolischen Gewalttypus“, der – wie soeben gezeigt – als „unmerklich“, „sanft“ und „unsichtbar“ charakterisiert wird. Eine solche dichotome Unterscheidung führt allerdings unmittelbar zu Problemen, da sie Phänomene physischer Gewalt als eine Art factum brutum jenseits der symbolischen Ordnung erscheinen lässt. Physische Gewalthandlungen lassen sich aber nur verstehen, wenn sie im Zusammenhang mit sozialen Klassifikationen interpretiert werden. Dies ließe sich – um nur ein Beispiel zu nennen – am Pogrom verdeutlichen, der nicht nur auf symbolischen Grenzziehungen (zugehörig/fremd; höher/niedriger) beruht, sondern diese auch kommunizieren und verstärken kann („Ihr gehört weder zu uns noch hierher!“) (vgl. Fleck 2014, S. 242).

Auf dieses Problem hat Bourdieu selbst reagiert. So schreibt er in den Meditationen: „Selbst dann, wenn Herrschaft auf nackter Gewalt – der der Waffen oder der des Geldes – beruht, hat sie stets auch eine symbolische Dimension, und die Akte der Unterwerfung und des Gehorsams sind Akte des Erkennens und Anerkennens.“ (Bourdieu 2004a, S. 220) Auch hier verwendet er noch immer einen weiten Gewaltbegriff (die „nackte Gewalt des Geldes“), doch es wird klar, dass für Bourdieu auch jede physische Gewalthandlung eine „symbolische Dimension“ aufweist. Damit nicht genug: In Die männliche Herrschaft geht er zur Gegenoffensive über, indem er den Kritiken an seinem Konzept „Reduktionismus“ und „schlichten Materialismus“ vorwirft, da sie „‚symbolisch‘ als Gegensatz zu real und effektiv“ begreifen und „symbolische Gewalt“ daher als „eine rein ‚geistige‘ Gewalt“ missverstehen (Bourdieu 2012, S. 64). Nicht nur ist physische Gewalt für Bourdieu symbolisch, sondern symbolische Gewalt hat ihm zufolge auch sehr reale, sogar direkte körperliche Auswirkungen (etwa wenn es um Körperideale und -praktiken geht).

Die Einsicht in die symbolischen oder klassifikatorischen Voraussetzungen physischer Gewalt und die Analyse der körperlichen Effekte von Erkenntnis- und Deutungsschemata sind von größter Wichtigkeit. Sie sollte auch mit Bourdieus Überlegungen zu symbolischen Herrschaftsverhältnissen verbunden werden. Dafür, so scheint es, müssen aber substanzielle begriffliche Veränderungen vorgenommen werden. Denn nimmt man Bourdieus Gegenkritik ernst, so müsste man ja nun von „symbolischer physischer Gewalt“ und von „symbolischer symbolischer Gewalt“ sprechen, um die symbolische Grundierung aller Gewaltformen zu berücksichtigen, zugleich aber zwischen harten und sanften Formen der Gewalt unterscheiden zu können. Auf ganz ähnliche Probleme stößt man, wenn man sich Bourdieus sporadische Äußerungen zur geschichtlichen Entwicklung von Gewalt ansieht.

3 Zunehmender Selbstzwang oder historische Kontinuität? Bourdieu über die Geschichte der symbolischen Gewalt

Das Konzept der symbolischen Gewalt lässt sich einer heterogenen Gruppe von Positionen zuordnen, die davon ausgehen, dass ein auf physische Übergriffe begrenzter Begriff von Gewalt entscheidende Macht- und Herrschaftsmechanismen aus dem Blick verlieren muss. Diese Einschätzung geht oft von der Hintergrundannahme aus, dass sich in weitgehend pazifizierten modernen Gesellschaften neue Formen nicht-physischen sozialen Zwangs entwickelt haben, für deren Wirkungen der Begriff der Gewalt als angemessen erachtet wird. So erkennt etwa Norbert Elias „ein ganzes Gemisch verschiedener Arten von Gewalt oder Zwang, das in Menschenräumen zurückbleibt, wenn die körperliche Gewalttat langsam von der offenen Bühne des gesellschaftlichen Alltags zurücktritt und nur noch in vermittelter Form an der Züchtung der Gewohnheiten mitarbeitet“ (Elias 1997, S. 331 f.).Footnote 11

Einiges spricht dafür, dass Bourdieu, wie Elias, ein solches Internalisierungsnarrativ für plausibel erachtet und von einer Transformation von „Fremd- zu Selbstzwängen“ ausgeht, die die externe Gewalt(androhung) durch die „waffenlosen Zwänge und Gewalten“ einer internalisierten „Selbstkontrollapparatur“ (ebd., S. 339, 328) ersetzt.Footnote 12 Diese Kontrollapparatur operiert auf affektiver Ebene nicht mehr über die außenorientierte Angst vor Strafe oder Tadel, sondern vor allem über die Innenorientierung der Scham. Verschiedene Beschreibungen Bourdieus lassen sich dieser Argumentation gemäß lesen, etwa wenn er den „Selbstausschluß“ der Frauen aus dem öffentlichen Leben beschreibt:

Nach der Beseitigung äußerer Zwänge und dem Erwerb der formalen Freiheiten […] treten, wie man beobachtet, der Selbstausschluß und die „Berufung“ […] an die Stelle des ausdrücklichen Ausschlusses: Der Ausschluß von den öffentlichen Plätzen muß nicht, wie bei den Kabylen, explizit erfolgen […]. Beinahe ebenso effektiv kann er andernorts durch diese Art gesellschaftlich aufgezwungener Agoraphobie sein, die die Aufhebung der sichtbarsten Verbote lange Zeit überdauern kann und die die Frauen dazu bringt, sich von der agora selbst auszuschließen. (Bourdieu 2012, S. 73)

Einen solchen Übergang von vormodernen Außenzwängen zu modernen Selbstzwängen erkennt Bourdieu offensichtlich auch im Hinblick auf andere gesellschaftliche Bereiche. So argumentieren Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1973, S. 28 f.) in ihrer Studie Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, dass „so verschiedene soziale Bereiche wie Kirche, Schule, Familie, psychiatrische Klinik und sogar Unternehmen und Armee allesamt die Tendenz haben, das ‚harte Durchgreifen‘ durch die ‚sanfte Tour‘ zu ersetzen“.Footnote 13

Gegen die These einer Zunahme von symbolischer Gewalt in der Moderne sprechen allerdings andere Argumente Bourdieus. Auffällig ist ja gerade, dass er sich in sehr vielen Fällen auf das aus seiner Sicht prototypische Anschauungsbeispiel der kabylischen Kultur bezieht, um die Wirkmacht symbolischer Gewalt zu demonstrieren:

Jene Gesellschaft in den Bergen Nordafrikas ist deshalb so interessant, weil sie ein regelrechtes Kulturreservat darstellt, in dessen rituellen Praktiken, Dichtungen und mündlichen Überlieferungen ein System von Vorstellungen oder besser von Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien lebendig geblieben ist, die der gesamten mediterranen Kultur gemeinsam sind und bis auf den heutigen Tag in unseren mentalen und teilweise auch sozialen Strukturen fortleben. Also gehe ich mit dem Fall der Kabylen wie mit einer „Vergrößerung“ um, auf der sich die Grundstrukturen der männlichen Weltsicht leichter dechiffrieren lassen: die „phallonarzißtische“ Kosmologie, die sie öffentlich und kollektiv vorführen, geistert auch durch unser Unbewußtes. (Bourdieu und Wacquant 2009, S. 208)

Bourdieu erklärt hier eine dezidiert vormoderne Gesellschaft zum besonders eindrücklichen Beleg für eine Gewaltform, die – wie zuvor gezeigt wurde – an anderen Stellen als typisch modern erscheint.Footnote 14 Umgekehrt kommt Bourdieu auf Phänomene physischer Gewalt nicht nur im Hinblick auf die Kabylen, sondern auch im Zusammenhang mit modernen Gesellschaften zu sprechen. So wendet er sich in Die männliche Herrschaft gegen eine Ausblendung realer Gewalt. Keineswegs sei „die Betonung der symbolischen Gewalt gleichbedeutend […] mit einer Verharmlosung der Rolle physischer Gewalt und einem Vergessen(machen) der Tatsache, daß Frauen geschlagen, verletzt, ausgebeutet werden, oder schlimmer noch, mit der Absicht verbunden […], die Männer von dieser Form der Gewalt zu exkulpieren.“ (Bourdieu 2012, S. 64)

Es ist demnach unklar, welche Position Bourdieu hinsichtlich der Frage nach der Historizität der Gewaltformen bezieht. Einerseits scheinen seine Argumente zur Transformation von externen zu internen Zwängen darauf hinzudeuten, dass er „physisch“ und „symbolisch“ als unterschiedliche Aggregatzustände der Gewalt versteht, die in historisch unterschiedlichen Mischverhältnissen vorkommen und gemäß einer Art von Gewalterhaltungssatz variieren. Ein Nachlassen physischer Gewalt und expliziten Zwangs würde also zu einer Steigerung der symbolischen Gewalt und des impliziten Zwangs führen und vice versa. Andererseits scheint es so, dass Bourdieu sowohl vormoderne als auch moderne Gesellschaften von symbolischen Gewaltphänomenen durchzogen sieht, wobei sich diese in vormodernen Kulturen besonders deutlich zeigten. Dieser Deutung gemäß würde die symbolische Gewalt mit dem Menschen in die Welt kommen und alle Gesellschaften in gleichem Maße durchwalten – unabhängig davon, ob die symbolischen Herrschaftsverhältnisse durch physische oder nicht-physische Praktiken, expliziten oder impliziten Zwang erzeugt, aktualisiert oder modifiziert werden.

Bei Bourdieu erscheint symbolische Gewalt demnach teils als Resultat einer psychogenetischen Sedimentierung der menschlichen Gewaltgeschichte, teils jedoch als eine im Menschen angelegte Bürde, die zwar stets eine soziokulturell spezifische Form erhält, an sich jedoch universal und unhintergehbar ist. Diese Unklarheit scheint die zuvor angesprochene begriffliche Ambiguität zu spiegeln. Im Fall der Internalisierungsthese erscheint „symbolisch“ als Synonym zu „sanft“ oder „unmerklich“ und als Antonym zu „körperlich“, „physisch“, „roh“ oder „hart“. Im Fall der Kontinuitätsthese wäre erneut der symbolische Charakter auch des offenen Zwangs und der rohen Gewalt zu betonen. Das Antonym zum Begriff „symbolisch“ wäre in diesem Fall „asymbolisch“. Es verweist nicht auf die Differenz zu physischen Formen der Gewalt, sondern leitet zu einer anthropologischen Bestimmung über. Nicht die Typologisierung menschlicher Gewaltakte, sondern die symbolische Strukturierung sowohl des menschlichen Soziallebens als auch des menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und Handelns rückt in diesem Fall in den Fokus. Symbolische Gewalt wäre dann jene Form von Gewalt- und Dominanzdurchsetzung, die das animal symbolicum von anderen Tieren unterscheidet.

4 Eine bessere Gewalt? Normativitätstheoretische Probleme

Bourdieus Soziologie ist „eminent politisch“ (Krais 2004, S. 176). Dem Begriff der symbolischen Gewalt kommt in ihrem Rahmen eine zentrale Funktion zu, wenn es darum geht, „Sand ins Getriebe des Selbstverständlichen und scheinbar Nicht-Hinterfragbaren [zu] streuen“ (Peter 2006, S. 21). Bourdieu bedient sich eines erweiterten Gewaltbegriffs, um die normative Überzeugungskraft seiner Argumente zu verstärken. Wie auch andere Autorinnen und Autoren wählt Bourdieu diese rhetorische Strategie, um auf die Verfasstheit einer Gesellschaft aufmerksam zu machen, die von vielen als weitgehend pazifiziert erfahren wird.Footnote 15 Der Rückgriff auf einen in der westlichen Moderne so affektiv und negativ besetzten Begriff wie den der Gewalt erscheint vielen dann als Möglichkeit, einer Verharmlosung gegenwärtiger sozialer Zustände vorzubeugen (vgl. Peter 2011, S. 16 ff.). In der Tat lässt die Formulierung aufhorchen, und der intendierte Effekt bleibt selten aus. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Bourdieus Begriff der symbolischen Gewalt nicht nur bei ihm selbst, sondern auch in der an ihn anschließenden Literatur im Vergleich zu den Geschwisterbegriffen der symbolischen Macht und der symbolischen Herrschaft deutlich häufiger verwendet wird – wodurch die Differenzierung wiederum erschwert wird.

Der Preis für die Aufmerksamkeit erscheint allerdings zu hoch. Denn neben den bereits dargestellten Problemen führt die Inflation des Gewaltbegriffs auch in normativitätstheoretische und gesellschaftskritische Sackgassen. Zum einen führt sie – trotz Bourdieus Mahnungen – zu einer tendenziellen Marginalisierung physischer Gewaltprozesse, was weder in soziologischer noch in gesellschaftskritischer Hinsicht hinnehmbar ist. Auf die paradoxe Folge einer erweiterten Gewaltkonzeption hat Jan Philipp Reemtsma (1991, S. 9) hingewiesen: „Ersonnen, um der Opposition gegen das Selbstbild einer Gesellschaft, die sich für gewaltfrei hält, Ausdruck zu verleihen, läßt sie sich auf deren Lebenslüge ein.“Footnote 16 Zum anderen macht es Bourdieus terminologische Strategie schwer, normativ für etwas Stellung zu beziehen, da alles unterschiedslos als gewaltsam erscheint. Durchführbar erschiene dann nur noch eine indifferente oder zynische Analyse der Vielfalt der unvermeidlichen Gewaltformen, nicht aber die Formulierung einer positiven normativen Theorie.

In manchen Texten scheint Bourdieu tatsächlich für eine solche „zynische“ Sichtweise einzutreten. Gemeinsam mit Passeron hält er etwa im Hinblick auf das Bildungssystem fest:

[...] auch der radikalste Protest gegen eine pädagogische Macht schöpft stets aus der selbstzerstörerischen Utopie einer Pädagogik ohne Willkür oder aus der spontaneistischen Utopie, die dem Individuum die Macht zuspricht, in sich selbst das Prinzip seiner eigenen „Entfaltung“ zu finden, wobei alle diese Utopien ein Instrument des ideologischen Kampfs für die Gruppen bilden, die mittels der Anprangerung einer pädagogischen Legitimität danach trachten, sich das Monopol der legitimen Durchsetzungsweisen zu sichern. (Bourdieu und Passeron 1973, S. 27)

Dieser Argumentation zufolge unterliegen jene Pädagogiken, die jeglichem gesellschaftlichen Einfluss skeptisch gegenüberstehen und auf die Selbstentfaltung des Individuums hoffen, nur einer naiven Selbsttäuschung. Sie täuschen sich zum einen, weil sie an die Möglichkeit einer vorsozialen individuellen Entwicklung glauben, die nicht auf überkommene kulturelle Erkenntnis‑, Deutungs- und Bewertungsschemata zurückgreifen muss. Sie täuschen sich zum anderen, weil sie nicht erkennen, dass sie selbst Partei in einem Konflikt um symbolische Macht sind. Im obigen Zitat werden die soeben angedeuteten Implikationen des Begriffs der symbolischen Gewalt recht konsequent an einem konkreten Beispiel ausformuliert. Wenn Gewalt unmerklicher Bestandteil von Wahrnehmungs‑, Erkenntnis- und Deutungsprozessen ist und wenn sie „in jedem sprachlichen Tausch“ (Bourdieu 1990, S. 51) aktualisiert wird, dann erscheint eine Vermeidung, Reduzierung oder Einhegung der Gewalt konzeptuell ausgeschlossen. Auch eine Pädagogik, die sich als gesellschaftskritisch, gewalt- und herrschaftsfrei versteht, kann folglich – wie jede andere denkbare Form pädagogischen Vorgehens – nicht umhin, symbolische Gewalt auszuüben.

Die „zynische“ Perspektive erscheint jedoch mit anderen Impulsen in Bourdieus Denken schwer vereinbar. Nicht nur hat der „engagierte Intellektuelle“ Bourdieu spätestens seit Ende der 1980er-Jahre in vielen politischen Debatten prominent Position „gegen die neoliberale Invasion“ (Bourdieu 1998) bezogen (vgl. Peter 2006, S. 26 ff.; 2016). Auch der „Wissenschaftler“ Bourdieu hat immer wieder betont, dass es Aufgabe der Soziologie sei, die Mechanismen der Herrschaft offenzulegen und die Einsichten in die determinierenden gesellschaftlichen Kräfte dazu zu nutzen, die „Produktionsverhältnisse von symbolischer Macht“ zu verändern und damit eine „symbolische Revolution“ zu entfachen (Bourdieu und Wacquant 2009, S. 211; siehe auch Bourdieu 1997, S. 227 ff.). Die Wahrscheinlichkeit solcher Revolutionen stuft Bourdieu in seinen Schriften unterschiedlich ein. Während der „optimistische“ Bourdieu etwa von der Möglichkeit einer „echte[n] Befreiung der Frauen“ (Bourdieu und Wacquant 2009, S. 211) spricht, betont der „pessimistische“ Bourdieu (2012, S. 7) die Starrheit und Unveränderlichkeit der Herrschaftsverhältnisse und bewertet nachhaltige Veränderungen im Machtgefüge als „historische Zufälle“.Footnote 17 Gemeinsam ist dem „optimistischen“ und dem „pessimistischen“ Bourdieu jedoch eine klare normative Position – auch wenn die Wahrscheinlichkeit ihrer Durchsetzbarkeit jeweils unterschiedlich eingeschätzt wird. Gemeinsam sind beiden Positionen auch der aufklärerische Impetus und „ein prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft“ (Rehbein 2011, S. 23; vgl. auch Swartz 1997, S. 9 ff.).

Erneut offenbart die Analyse des Konzepts der symbolischen Gewalt eine Spannung in Bourdieus Werk. Auf der einen Seite greift er bewusst auf den Gewaltbegriff zurück, um jene Verletzungen, Schädigungen und Ungleichbehandlungen herauszustellen und zu kritisieren, die unmerklich und ohne körperlichen Zwang herbeigeführt werden. Gerade durch die wohl normativ motivierte Erweiterung der Gewaltsemantik wird es für ihn aber schwer, eine positive normative Position zu formulieren. Das Ergebnis ist eine eigentümliche Vielstimmigkeit seiner Texte. Während der „zynische“ Bourdieu jede soziale Praxis und jede Institution als gewaltsam betrachtet, zielen der „optimistische“ und der „pessimistische“ Bourdieu darauf, „menschliches Leiden zu erkennen und letztlich zu beseitigen“ (Rehbein 2011, S. 23). Demnach sollte auch eine Verringerung symbolischer Gewalt möglich sein – was aber mit der vorgeschlagenen Gewaltterminologie schwer zu vereinen ist, müsste man doch für eine bessere, legitimere und weniger gewaltsame Form symbolischer Gewalt werben.

5 Ein doppelt scholastischer Begriff. „Symbolische Gewalt“ als rhetorische Fehlkonstruktion

Die vorgebrachte Kritik an den Widersprüchlichkeiten von Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt erscheint manchen Leserinnen und Lesern bisher vielleicht nicht überzeugend, ja voreilig. Ist die Verbindung von sich scheinbar widersprechenden Begriffen nicht geradezu ein Markenzeichen Bourdieus? Nutzt er nicht immer wieder das Kontraintuitive als heuristischen Kniff, um allzu Vertrautes in ein neues Licht zu tauchen? Entsprechend ist in der Literatur wiederholt zu lesen, Bourdieu bediene sich mit dem Begriff der symbolischen Gewalt bewusst des Stilmittels des Oxymorons (vgl. z.B. Mauger 2005, S. 216). In Begriffen der Logik formuliert, würde er also absichtlich eine „contradictio in adjecto“, eine spezifische Form des „Widerspruch[s] in sich“ begehen (Schmidt und Woltersdorff 2008a, S. 8; Schmidt 2014, S. 231). In der Tat scheint es so, dass Bourdieu genau dies mit seiner Begriffsprägung im Sinn hatte. Entgegen diesen Interpretationen lässt sich jedoch zeigen, dass Bourdieu im Fall der symbolischen Gewalt mit seinem üblichen rhetorischen Vorgehen scheitert. Denn statt mit einem erkenntnisgenerierenden Oxymoron haben wir es beim Begriff der symbolischen Gewalt mit einem unfreiwilligen und erkenntnisbehindernden Pleonasmus zu tun.

Der Wert eines Oxymorons – man denke etwa an den „Friedenskämpfer“, die „Hassliebe“ oder das „offene Geheimnis“ – ergibt sich daraus, dass es gerade durch seine innere Gegensätzlichkeit oder Absurdität einen klareren Blick auf das Widersprüchliche, Vielschichtige oder Außergewöhnliche eines Phänomens ermöglicht. Dieser rhetorischen Strategie bedient sich Bourdieu tatsächlich sehr häufig und überaus effektiv, um zentrale und komplexe soziologische Überlegungen in konzise Formeln zu gießen. Nur dem soziologischen Blick offenbart sich nach Bourdieu etwa das „interesselose Interesse“ (Bourdieu 2004b, S. 172), das sich auch hinter jenen Handlungen versteckt, die von den Individuen als freigiebig und selbstlos deklariert und wahrgenommen werden. All diese Handlungen entpuppen sich als Elemente einer „nicht-ökonomischen Ökonomie“ (Bourdieu 2004a, S. 247), die gerade durch ihre subjektive Geringschätzung und Verachtung des ökonomischen Kapitals eine objektiv beschreibbare „Ehrenökonomie“ verdeckt, die um das Streben nach Prestige organisiert ist.Footnote 18 Allein die Soziologie kann laut Bourdieu die Kontingenz und Beliebigkeit der sozialen „Spiele“ nachweisen, an denen die involvierten Akteure so „ernsthaft“ teilnehmen (Bourdieu 2004b, S. 203 ff.; 2004a, S. 20 ff.). Nur auf diesem Wege kann deutlich werden, dass die scheinbar unzweifelhaften Wahrheiten und Erkenntnisse meist nur kulturell willkürliche Deutungen darstellen, die durch die jeweilige feldspezifische „epistemische Doxa“ (Bourdieu 2004b, S. 205; 2004a, S. 24) und die „gelehrte Unwissenheit (docta ignorantia)“ (Bourdieu 1987, S. 40, 188; 2004a, S. 238) der Individuen unsichtbar bleiben. In allen gesellschaftlichen Bereichen versucht die Soziologie Bourdieus, die Logik der „unfreiwilligen Wahl“ (Bourdieu 2011a, S. 290) offenzulegen, also zu zeigen, dass das, was die Akteure als Entscheidungsautonomie erfahren, über die sozialen Trieb‑, Präge- und Lenkungskräfte hinwegtäuscht, denen sie unterliegen.

Blickt man auf diese Oxymora, so wird deutlich erkennbar, dass sie alle der identischen argumentativen Logik folgen. In ihrer begrifflichen Widersprüchlichkeit dienen oxymoronische Wendungen Bourdieu dazu, die Kluft zwischen der erlebten Wirklichkeit der in der illusio verhafteten handelnden Subjekte und den durch die Soziologie enthüllten objektiven sozialen Vorgängen in prägnanter Form zu identifizieren. Bourdieus Soziologie begreift es als eine ihrer Hauptaufgaben, diese Kluft zwischen emischer und etischer Perspektive – in gewisser Weise auch die zwischen Phänomenologie und Strukturalismus – zu überwinden. Die Oxymora verdeutlichen diesen Anspruch in verdichteter Weise. Eines der wesentlichen Probleme, das mit dem Konzept der symbolischen Gewalt verbunden ist, liegt nun darin begründet, dass es – dem ersten Anschein entgegen – nicht entlang dieser allgemeinen Strategie Bourdieus konstruiert ist. Es verbindet nicht die subjektive Perspektive der Akteure und die objektivierende Sicht der Soziologie. Der Zusatz „symbolisch“ referiert nicht auf die Erfahrungen und Interpretationen der Akteure. Stattdessen liegen beide Bestandteile des Konzepts auf der scholastischen Ebene der soziologischen Betrachtung. Weder die symbolische noch die gewaltsame Dimension wird in der Erfahrung der Handelnden thematisch. Anders als bei den oben genannten Oxymora zielt auch das Adjektiv auf eine Einsicht, die sich nur aus der distanzierten Position jenseits des epistemologischen Bruchs ergibt. Im Vergleich dazu entsprechen Bourdieus Formulierungen der „sanften“ oder der „unmerklichen Gewalt“ dem oxymoronischen Bauplan besser. Allerdings werden sie nicht systematisch entwickelt, und der Bezug zu den grundlegenden Erkenntnis- und Sprachdimensionen symbolischer Herrschaftsphänomene geht bei ihnen verloren.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass das Konzept der symbolischen Gewalt der Handlungs- und Erfahrungsstruktur von Gewaltakten entgegenläuft, eine historische und normative Betrachtung von Gewaltprozessen erschwert, die symbolische Dimension von Gewaltakten zu einer unfruchtbaren Selbstverständlichkeit werden lässt und unmerklich von Bourdieus bewährter rhetorischer Begriffsstrategie abweicht. Damit wird das Konzept widersprüchlich und verfehlt in zweifacher Weise Bourdieus Intention, handelt es sich doch um einen pleonastischen und zugleich doppelt scholastischen Begriff. Problematisch sind jedoch nicht nur Bourdieus Begriffe des Symbolischen und der Gewalt sowie ihre Kombination. Konstruktionsprobleme zeigen sich darüber hinaus auch, wenn man die argumentativen Verstrebungen analysiert, die das Konzept der symbolischen Gewalt mit anderen Kernargumenten Bourdieus verbinden.

6 Passivität statt Komplizenschaft. Die sozialisationstheoretischen Schwächen von Bourdieus Herrschaftskonzeption

Eine der wesentlichen Eigenheiten von Bourdieus Konzeption symbolischer Gewalt besteht darin, den Eigenbeitrag der Beherrschten zu ihrer eigenen Beherrschung – also ihre „Komplizenschaft“ – zu behaupten (z.B. Bourdieu 2012, S. 78; 1997, S. 228). „Jede symbolische Herrschaft setzt von seiten der Beherrschten ein gewisses Einverständnis voraus, das keine passive Unterwerfung unter einen Zwang von außen, aber auch keine freie Übernahme von Wertvorstellungen darstellt.“ (Bourdieu 1990, S. 27) Symbolische Herrschaft ist demnach kein einseitiger Prozess, in dessen Rahmen den Herrschenden allein die aktive und den Beherrschten ausschließlich die passive Rolle zukommt. Vielmehr betont Bourdieu, dass die Herrschenden ebenfalls symbolischen Herrschafts- und Gewaltdynamiken unterliegen und dass die Beherrschten eigenmächtig und -motiviert dazu beitragen, das überkommene System aufrechtzuerhalten. Aufgrund dieser These müsste man bei Bourdieu ein Menschenbild vorfinden, das sich weder auf Passivität und Prägung noch auf die Idee einer vorsozialen Entfaltung stützt, sondern vor allem die aktive Aneignung, Aufrechterhaltung und Weitergabe der gesellschaftlichen Symbolbestände durch das Individuum beschreibt. Versucht man, in Bourdieus Texten entsprechende Ausführungen zu finden, so wird man jedoch enttäuscht. Wie sich die Aneignung der symbolisch organisierten „Wahrnehmungs‑, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, S. 101) aus der menschlichen Aktivität verstehen lässt, bleibt bei ihm aber insbesondere in sozialisationstheoretischer Hinsicht widersprüchlich.

Symbolische Herrschaft beruht laut Bourdieu wesentlich auf der Internalisierung von gesellschaftlichen Erkenntnis- und Wissensschemata im Laufe der Ontogenese. Folglich stellt sich die Frage, ob er eine Sozialisationstheorie anbieten kann, die die schrittweise individuelle Aneignung dieser Schemata auf überzeugende Weise darstellt. Die Notwendigkeit einer gelungenen Verbindung seiner Herrschaftssoziologie mit einer Sozialisationstheorie betont Bourdieu selbst, wobei er sich erneut gegen eine Sichtweise wendet, die allein Prägung und Passivität fokussiert. So beginnt das Kapitel über „Symbolische Gewalt und politische Kämpfe“ in den Meditationen wie folgt: „Der Erwerb des primären Habitus innerhalb der Familie hat nichts von einem mechanischen Prozeß schlichten Eintrichterns, bei dem man etwa unter Druck einen ‚Charakter‘ prägen mag.“ (Bourdieu 2004a, S. 210)

Betrachtet man vor diesem Hintergrund Bourdieus Charakterisierungen des Sozialisationsprozesses genauer, so ergeben sich eklatante Widersprüche zu seiner eigenen These. Sozialisation erscheint bei ihm als eben jener „mechanische Prozeß schlichten Eintrichterns“, den er für unplausibel erachtet und der mit seiner herrschaftstheoretischen These der „Komplizenschaft“ unvereinbar ist. Das zeigt sich nicht nur an den mechanistischen Bildern, die sich in Bourdieus Analysen immer wieder finden. Die im Zuge der Sozialisation erworbenen Dispositionen etwa werden als „Triebfedern“ und „Auslösemechanismen“ bezeichnet, die mit „geringe[m] Energieaufwand operieren“ (Bourdieu 2004a, S. 216; 2012, S. 71). Darüber hinaus strotzen Bourdieus Studien vor passivistischen Metaphern. Sozialisation wird im Wesentlichen als „Prägung“ (Bourdieu 2004a, S. 177) beschrieben. Gesellschaftliche Kräfte hinterlassen „mehr oder weniger sichtbare Spuren“ (Bourdieu 2005, S. 57) und tragen dazu bei, den Habitus „von Kindesbeinen an zu formen“ (Bourdieu 2000, S. 28). Neben diesen Figuren physischer Prägung finden wir auch zahlreiche Begriffe, die eine psychische Passivität der Individuen zum Ausdruck bringen. In diese Kategorie fällt Bourdieus Betonung einer steten, subtilen und negativen „Konditionierung“ (Bourdieu 2004a, S. 222, 235; 2011a, S. 174, 290), die im Übrigen nicht zu seiner Abgrenzung vom Behaviorismus passen will (vgl. Bourdieu 1987, S. 103; 1993, S. 74). Sozialisation wird zudem als eine „Dressur“ (Bourdieu 2004a, S. 219 f.) und als ein Prozess des „Einpaukens“ (Bourdieu 1990, S. 39) präsentiert, die weniger über explizite Unterweisung und bewusstes und reflexives Lernen erfolgt, sondern über die „stummen Mahnungen“, „stillschweigenden Ordnungsrufe“ (Bourdieu 2012, S. 47, 57) und die „heimliche Überredung durch eine stille Pädagogik“ (Bourdieu 1987, S. 128; 1979, S. 200; s.a. 1990, S. 28). Bourdieus Terminologie präsentiert demnach an den meisten Stellen gerade jenes Bild des „Eintrichterns“ und „Prägens“, das er kritisiert. Die wenigen aktiven Formulierungen – etwa das Bild der „Arbeit an der Sozialisation“ oder die „Suche nach Anerkennung“ (Bourdieu 2004a, S. 210, 212, 213) – gehen im Schwall der passivistischen Begriffe unter. Sozialisation erscheint so als etwas „Aufgezwungenes“ (ebd., S. 218, 226), das der Personen von außen „eingeschrieben“ (Bourdieu 1993, S. 73; 2004a, S. 219) wird. Aufgrund dieser Betonung von Präge- und Einschreibeprozessen wirken dann auch die somatischen Prozesse der „Einverleibung“, „Verkörperung“ oder „Inkorporierung“ bei Bourdieu (1993, S. 58; 2004a, S. 216) passiver und einseitiger als in anderen verkörperungstheoretischen Ansätzen.Footnote 19

Das Pochen auf eine Verlegung von kognitiven, perzeptuellen und affektiven Prozessen nach innen, in die Tiefen des Körpers, in das dem Bewusstsein Verborgene befördert entgegen Bourdieus Absichten eher eine dualistische Sicht, die dem Körper, dem Unzugänglichen, dem Unbewussten und dem Innen in einem schroffen Kontrast den Geist, das Zugängliche, das Bewusste und das Äußerliche entgegenstellt. Dieser Dualismus wird nicht überwunden, sondern droht, nach einer Seite hin verabsolutiert zu werden. Kognitive oder bewusste Leistungen werden nicht rekonstruktiv aus ihrer Körpergebundenheit und habituellen Grundierung verstanden und als wichtige Prozesse identifiziert, sondern mittels starker Metaphern verdrängt. So schreibt Bourdieu beispielsweise in den Meditationen, dass die „symbolische Herrschaft (des Geschlechts, der Ethnie, der Bildung, der Sprache usw.) ihre Wirksamkeit nicht in der reinen Logik erkennenden Bewußtseins [entfaltet], sondern in dunklen Dispositionen des Habitus“ (Bourdieu 2004a, S. 218). Bourdieu, so zeigt sich, denkt Sozialisation vor allem passiv und negativ – als die Demarkation von Grenzen, die heranwachsenden Menschen gesetzt und andressiert werden. Im Verein sorgen die mechanischen, passiven und körperlichen BilderFootnote 20 dafür, dass die Aktivität der Heranwachsenden aus dem Blick gerät, was auch die Frage aufwirft, wie Bourdieu den aktiven Beitrag der Komplizen und Komplizinnen zur symbolischen Herrschaft von dieser sozialisationstheoretischen Grundlage aus erfassen will.Footnote 21

7 Herrschaft = Macht = Gewalt? Bourdieus semantische Einebnung und das Problem des „unendlich Kleinen“

Wohl kaum jemand würde behaupten, dass die Begriffe „Gewalt“, „Macht“ und „Herrschaft“ eine identische Bedeutung haben. Daran dürfte sich auch nichts ändern, wenn man das Adjektiv „symbolisch“ hinzufügt. Es überrascht daher nicht, dass wiederholt daran Anstoß genommen wird, dass Bourdieu die Begriffe „symbolische Gewalt“, „symbolische Macht“ und „symbolische Herrschaft“ nicht explizit voneinander abgrenzt oder sie gar synonym verwendet.Footnote 22 Als unwahrscheinlich erscheint es, dass die fehlende Differenzierung schlicht das Ergebnis von Nachlässigkeit ist. Dafür ist das Konzept zu zentral, Bourdieus Vertrautheit mit der einschlägigen Literatur zu groß und sein begrifflicher und theoretischer Reflexionsgrad zu hoch. Folglich stellt sich die Frage, warum Bourdieu die Begriffe bewusst vermengt.Footnote 23

Ein Grund dürfte im normativen Grundimpuls seines Werkes liegen. Durch die Einebnung der Herrschafts‑, Macht- und Gewaltsemantik und die Bevorzugung des Gewaltbegriffs erscheinen im Grunde alle herrschaftssoziologisch relevanten Zusammenhänge als gewaltsam. Dadurch verspricht sich Bourdieu wohl einen direkteren und wirkungsvolleren gesellschaftskritischen Zugriff. Mit der Entdifferenzierung von Gewalt, Macht und Herrschaft kommt es darüber hinaus zu einer Verwischung der intentionalen Struktur der Prozesse. Während der Begriff der Herrschaft ein längerfristiges, institutionalisiertes und unpersönliches soziales Unterordnungsverhältnis nahelegt, impliziert der Gewaltbegriff einen konkreten Übergriff eines intentional handelnden Akteurs. Wie oben am Beispiel der „Erpressung“ gezeigt wurde, nutzt Bourdieu die terminologische Nivellierung, um beide Bedeutungshorizonte zu verbinden. So kann er eine diffuse Zuschreibung von Verantwortung vornehmen, gleichzeitig aber den systemischen, unmerklichen und unwillentlichen Charakter der Herrschaftsphänomene betonen. Auch dies dürfte auf Bourdieus gesellschaftskritische Motive zurückzuführen sein. Wie zu sehen war, resultieren aus diesem Vorgehen jedoch schwere normativitätstheoretische Probleme.

Es scheint aber noch einen weiteren Grund für die fehlende Begriffsunterscheidung zu geben. Indirekt lässt sich dieser aus verschiedenen Rekonstruktionsversuchen ablesen, die im Anschluss an Bourdieu versuchen, die drei Konzepte der symbolischen Gewalt, symbolischen Macht und symbolischen Herrschaft systematisch voneinander zu trennen. So spricht nach Beate Krais (2008, S. 53) etwa „vieles dafür, dass er [Bourdieu] von ‚Herrschaft‘ (domination) spricht, wenn es um Herrschaft als gesellschaftliches Strukturprinzip geht, als Herrschaftsverhältnis, und von ‚Gewalt‘ (violence), wenn es um einen spezifischen Modus der Herrschaftsausübung geht, insbesondere um die Aktualisierung und Befestigung eines Herrschaftsverhältnisses in einer unmittelbaren Interaktion.“ Robert Schmidt (2014, S. 231) geht zusätzlich auch auf das Verhältnis zur symbolischen Macht ein. Er versteht diese als „Möglichkeit zur Ausübung symbolischer Gewalt“, während „symbolische Herrschaft“ die „Verstetigung dieser Möglichkeit“ darstellt. Lothar Peter (2011, S. 12 ff.) fügt eine weitere Differenzierung hinzu, wenn er zu bedenken gibt, dass Herrschaft immer mit Macht einhergeht, aber Macht auch gegen Herrschaft gerichtet sein kann. Symbolische Gewalt kann also von verschiedenen Seiten im Rahmen symbolischer Konflikte ausgeübt werden. Folglich ließe sich symbolische Gewalt verstehen als der konkrete Eingriff in symbolische Machtkämpfe, die jeweils auf Grundlage der institutionalisierten symbolischen Herrschaftsverhältnisse stattfinden und zugleich über deren Fortbestehen oder Veränderung entscheiden.

Führt man die verschiedenen Rekonstruktionen zusammen, so erscheint es folgerichtig, symbolische Gewalthandlungen als die Nutzung symbolischer Machtressourcen zu verstehen, die zur Stärkung oder Bekämpfung von auf Dauer gestellten symbolischen Herrschaftsstrukturen genutzt werden. Eine solche systematische Differenzierung macht deutlich, dass mit Bourdieus semantischer Nivellierung auch eine herrschaftsanalytische Entdifferenzierung von Mikro- und Makroebene einhergeht. Obwohl Bourdieu immer wieder anschauliche Einzelbeschreibungen von symbolischen Herrschaftseffekten präsentiert, trägt seine Vermengung von anonymen und akteurszentrierten, von systemischen und intentionalen Begriffen dazu bei, dass letztendlich keine detaillierte Analyse davon vorgelegt wird, wie die Hervorbringung, Aufrechterhaltung und Veränderung von symbolischen Herrschaftsstrukturen in konkreten Interaktionen und durch spezifische Handlungen vonstattengehen. Zu dieser Problembestimmung passt, dass Bourdieu (2012, S. 66) in Die männliche Herrschaft schreibt, dass er eine „Beschreibung des unendlich Kleinen der Interaktionen“, in denen geschlechtliche Hierarchien hergestellt und gefestigt werden, nicht vorlegen kann. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang auch die Häufigkeit der (meist zustimmenden) Goffman-Verweise, die sich in Bourdieus Schriften gerade auch dort finden lassen, wo Phänomene symbolischer Gewalt eine Rolle spielen.Footnote 24 Hier deutet sich an, dass Bourdieu seine Herrschaftsanalysen stärker mit einer mikro- und interaktionssoziologischen Betrachtungsweise verbinden müsste. Dass er dieser notwendigen Weiterentwicklung nicht systematisch nachging, dürfte auch mit seiner frühen und scharfen Ablehnung interaktionistischer Ansätze zu tun haben, die er dafür kritisiert, einer „Spontantheorie des Handelns“ zu folgen, blind gegenüber den Strukturen zu sein und „die objektiven Mechanismen und ihre Wirkung“ zu ignorieren (Bourdieu 1979, S. 150, 488).

8 Fazit

Eine Analyse von Bourdieus Überlegungen zur symbolischen Gewalt offenbart wesentliche Stärken und Schwächen seiner soziologischen Perspektive. Einerseits zeigt sich die große sensibilisierende und phänomenerschließende Kraft des Konzepts, da es auf Hierarchisierungs- und Herrschaftseffekte aufmerksam macht, die ansonsten unerkannt blieben. Es entfaltet diese Wirkung im Hinblick auf verschiedene grundlegende Dimensionen des Sozialen (wie Klasse und Geschlecht) und in einer Vielzahl gesellschaftlicher Felder (von der Sprache und Bildung über Philosophie, Kunst, und Religion bis hin zu Wissenschaft, Politik und Justiz) (vgl. Moebius und Wetterer 2011, S. 1). Dabei offenbart sich zugleich die generalisierende und phänomenverbindende Kraft des Konzepts, können doch die Grundmechanismen symbolischer Gewalt in unterschiedlichen Bereichen identifiziert und die Wechselwirkungen verschiedener Herrschaftsdimensionen untersucht werden.

Andererseits bringen Bourdieus begriffliche Grundsatzentscheidungen vielfältige theoriesystematische Schwierigkeiten mit sich. Erstens erscheint es als problematisch, von symbolischer Gewalt zu sprechen, da die intentionale und phänomenale Struktur von symbolischen Gewaltakten in diametralem Gegensatz zur Struktur körperlicher Gewalt steht. Während die symbolische Gewalt von Bourdieu als unwillentliches, unmerkliches, allgegenwärtiges und welterschließendes Geschehen beschrieben wird, kann die physische Gewalt als unausblendbarer, absichtlicher, konkret spezifizierbarer und potenziell weltzerstörender Vorgang charakterisiert werden. Die Inflationierung des Gewaltbegriffs und die – zudem nicht konsequent durchgehaltene – intentionale und phänomenale Gegenläufigkeit zu dem, was üblicherweise unter Gewalt verstanden wird, führen darüber hinaus zu einer unklaren Verhältnisbestimmung von physischen und symbolischen Gewaltphänomenen und erschweren in der Folge auch die Entwicklung einer historischen Vergleichsperspektive sowie eines normativen Maßstabes. Zweitens ist es auch problematisch, von symbolischer Gewalt zu sprechen, da sich die Bedeutung des Adjektivs je nach argumentativem Kontext ändert. In zahlreichen Passagen nutzt Bourdieu das Wort „symbolisch“, um den Kontrast zu harten, körperlichen und physischen Formen der Gewalt zu markieren. Kritik an dieser Entgegensetzung kontert er dann aber mit dem Argument, dass auch körperliche Gewalt stets symbolisch sei. Folglich wäre jede Form von menschlicher Gewalt symbolisch, womit die Formulierung zu einem Pleonasmus wird und ihren Nutzen für eine Unterscheidung von Gewaltformen weitestgehend verliert. Noch gravierender werden die begrifflichen Probleme, wenn man nicht nur die beiden Teilbegriffe, sondern auch deren Verbindung genauer betrachtet. Es ist also, drittens, auch problematisch, von symbolischer Gewalt zu sprechen. Dass die Begriffskombination unter Konstruktionsmängeln leidet, lässt sich deutlich erkennen, wenn man sie mit anderen Formulierungen wie der „nicht-ökonomischen Ökonomie“, dem „interesselosen Interesse“ oder dem „ernsthaften Spiel“ vergleicht. Die Rede von „symbolischer Gewalt“ soll nach Bourdieu analog zu diesen scheinbar widersinnigen, aber heuristisch erhellenden Begriffsprägungen funktionieren, tut es aber nur auf den ersten Blick. Betrachtet man Bourdieus terminologische Strategie genauer, so fällt auf, dass er mit dem Begriff der symbolischen Gewalt – im Gegensatz zu den anderen Formulierungen – keinen überraschenden Erkenntniseffekt generieren kann, da sich in ihm nicht die emische Sichtweise der Akteursebene mit der etischen Sichtweise der Soziologie oxymoronisch verbindet. Stattdessen werden zwei soziologische Reflexionsbegriffe gedoppelt. Der unfreiwillige Pleonasmus entpuppt sich so auch als einseitig scholastischer Begriff.

Was folgt aus dieser Kritik für weitere gewalt-, ordnungs- und herrschaftssoziologische Überlegungen? Erstens sollte der Gewaltbegriff im Bourdieu’schen Sinne aufgegeben werden. Die Analyse der intentionalen und phänomenalen Struktur von Gewalthandlungen zeigt, dass symbolische Gewalt keine Gewalt ist. Alles andere bedeutet, dem Terminus „Gewalt“ „Gewalt anzutun“. Zweitens sollte der Begriff des Symbolischen klarer bestimmt und ausdifferenziert werden. Wenn alle Gewalt symbolisch ist, dann erzeugt es nichts als begriffliche Verwirrung, auf dieser Grundlage eine symbolische und eine physische Form der Gewalt zu unterscheiden. Erreicht werden kann eine konzeptuelle Klärung allerdings nicht durch eine einfache Ersetzung der Begriffe – etwa durch die Verwendung von Formulierungen wie „sanfte Gewalt“ oder „symbolischer Zwang“ –, denn damit würde eine begriffliche Übergeneralisierung durch eine andere ersetzt. Bourdieus Herrschaftsanalyse leidet gerade an semantischen Überdehnungen und einer pauschalen Charakterisierung von symbolischer Gewalt als unwillentlich, unmerklich und allgegenwärtig.

Entscheidend für eine überzeugendere Theoretisierung von Herrschaft wäre demnach die Erarbeitung eines konzeptuellen Rahmens, der eine angemessene Binnendifferenzierung von dem ermöglicht, was Bourdieu unter dem Begriff der symbolischen Gewalt verhandelt. Die basalste Unterscheidung wäre zunächst die zwischen symbolischen und asymbolischen Durchsetzungsformen von Überlegenheit. Diese müsste mit einer anthropologischen Reflexion darauf einhergehen, welche Durchsetzungsformen – sowohl nicht-körperlicher als auch körperlicher Art – nur dem Menschen möglich sind und welche er mit anderen sozialen Tieren teilt. Während etwa bestimmte, sozialkognitiv hochentwickelte Tiere Artgenossen bewusst täuschen und bedrohen können, ist es allem Anschein nach nur dem Menschen möglich, andere durch Beleidigung oder Folter zu verletzen – gerade weil er über symbolische Formen des Erkennens, Beurteilens und Kommunizierens verfügt (vgl. dazu genauer Nungesser 2016). Auf dieser Unterscheidung aufbauend, wäre es dann möglich, zwischen physischen und nicht-physischen sowie zwischen absichtlichen und unwillentlichen symbolischen Herrschaftsmitteln und -praktiken zu unterscheiden. Innerhalb vieler Formen der Erniedrigung und Demütigung etwa werden die vorherrschenden kulturellen Klassifikationsschemata (höher/niedriger; männlich/weiblich; rein/unrein etc.) teils unbewusst, oft aber durchaus bewusst eingesetzt, um andere herabzusetzen. Dasselbe gilt auch für physische Übergriffe, denen oftmals bestimmte symbolische Unterscheidungen (laut Bourdieu Akte symbolischer Gewalt) der körperlichen Gewalt zugrundeliegen. So beruhen Pogrome (wir/ihr), Übergriffe auf Frauen (männlich/weiblich) und auf Behinderte (normal/anormal) oder die industrialisierte Massentötung von Tieren (Mensch/Tier; Haus‑/Nutztier) auf gesellschaftlich spezifischen Klassifikationen. Diese Klassifikationen können die jeweiligen Gewalttaten motivieren, legitimieren und neutralisieren; sie können zugleich aber auch zum Ansatzpunkt von Kritik- und Protesthandlungen werden, welche auf die Erschütterung der Legitimität dieser Klassifikationen zielen. Bereits diese skizzenhaften Ausführungen verdeutlichen, dass man mit einer Reduzierung der Gewaltsemantik auf ihren Bedeutungskern, einer genaueren Ausdifferenzierung des Konzepts des Symbolischen und einer konzeptuellen Auffächerung der Durchsetzungsweisen von Überlegenheitsansprüchen der Vielfalt symbolischer Herrschaftsmechanismen deutlich besser gerecht wird. Auch und gerade das bei Bourdieu unklare Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Klassifikationsschemata und physischen Gewaltdynamiken könnte auf diese Weise weiter aufgeklärt werden.

Die Schwierigkeiten des Konzepts der symbolischen Gewalt erschöpfen sich demnach nicht in rein begrifflichen Unklarheiten, sondern haben weitreichende theoriesystematische Folgen. Das wurde auch in den Abschnitten deutlich, in denen die Einbettung der Gewaltkonzeption in das weitere Theoriegebäude Bourdieus untersucht wurde. Zum einen zeigte sich hierbei, dass Bourdieu den von ihm nachdrücklich behaupteten Eigenbeitrag der Beherrschten nicht überzeugend zu erfassen vermag. Gerade auf sozialisationstheoretischer Ebene enttäuschen seine Ausführungen, da sie einer Anthropologie der Konditionierung und Dressur anhängen und damit jenes Bild einer mechanischen Prägung zeichnen, das eigentlich widerlegt werden soll. Hilfreich könnte an dieser Stelle der Rückgriff auf die pragmatistische Sozialtheorie sein, die die aktive Seite der Aneignung gesellschaftlicher Deutungsbestände stärker betont. Vor allem George Herbert Mead bindet die ontogenetische Internalisierung zunehmend komplexer symbolischer Perspektiven an die jeweils altersspezifischen Handlungsherausforderungen. Auf diese Weise verschränkt er die aktive Dimension der individuellen Impulsivität und Expressivität mit der passiven Dimension der Übernahme tradierter kultureller Schemata. Auch dieses Modell betont die soziale Abhängigkeit des Individuums, fasst sie aber anders als Bourdieu nicht allein als gesellschaftliche Prägung. Aus pragmatistischer Perspektive erlangen Kinder ihre Handlungsfähigkeit gerade durch Aktivität, wobei diese Aktivität im Laufe der Zeit durch die gelungene Aneignung der sozialen Wahrnehmungs‑, Erkenntnis- und Handlungsschemata kontrollierter, kompetenter und autonomer wird. Die Verbindung eines solchen Modells mit Bourdieus Überlegungen zur symbolischen Herrschaft könnte besser verständlich machen, wieso Individuen in vielen Fällen durch ihr eigenes Handeln, aber auch durch ihr Reflektieren und Urteilen einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der jeweiligen symbolischen und sozialen Ordnung leisten.Footnote 25 Zugleich wird den Akteuren damit eine größere Kompetenz zu Reflexion und Kritik zugesprochen, als dies in Bourdieus Soziologie – zum Missfallen vieler Kritikerinnen und Kritiker – der Fall ist.Footnote 26

Schließlich offenbarte die Analyse der semantischen Einebnung von „symbolischer Gewalt“, „symbolischer Macht“ und „symbolischer Herrschaft“, dass Bourdieu mit seiner inflationären Gewaltsemantik nicht nur einen gesellschaftskritischen Effekt erzielen will, sondern auch die brüchige Verbindung zwischen konkreten Interaktionssituationen und institutionalisierten Herrschaftsstrukturen, also zwischen Mikro- und Makroanalyse verdeckt. Bourdieus Goffman-Bezüge deuten in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Verbindung mit einer interaktionistischen Theorie weiterführend wäre, die nicht – wie von Bourdieu befürchtet – macht- und strukturblind ist, sondern einen Blick für die Dynamiken der Hierarchisierung, Stigmatisierung, Demütigung und Selbsterniedrigung in konkreten sozialen Situationen hat. In der Tat helfen Arbeiten, die an Mead und Goffman anschließen, zu verstehen, warum die in konkreten Interaktionen eingenommenen Perspektiven nicht universalistisch und neutral sind, sondern durch konkrete institutionelle Macht- und Herrschaftsstrukturen geprägt sind (vgl. dazu Pettenkofer 2013, 2014). Andere Arbeiten in der interaktionistischen Tradition machen wiederum besser verständlich, warum Individuen mit einem unterschiedlichen sozialen Status innerhalb von Gruppen in ungleichem Maße und mit abweichender Genauigkeit die Perspektiven von Anderen einnehmen können. Sie zeigen, dass Personen in beherrschten sozialen Positionen subtile Signale und Handlungsanzeichen genauer deuten können als solche in dominanten Positionen (vgl. Thomas et al. 1972; Forte et al. 1996).Footnote 27 Dieses Phänomen des „besondere[n] Scharfblick[s] der Beherrschten“ (Bourdieu 2012, S. 59) ist auch für Bourdieus Überlegungen zu symbolischen Herrschaftsverhältnissen von wesentlicher Bedeutung.Footnote 28

Bourdieu, so ist zu schließen, untersucht in seinen Analysen symbolischer Gewalt gesellschaftliche Prozesse von höchster Relevanz, aber er tut es mit widersprüchlichen Begriffen und auf der Grundlage unzureichender und inkonsistenter sozialisationstheoretischer Annahmen. Dadurch verdeckt Bourdieu mit seinen theoretischen Konzepten eben jene Vielfalt und jene Eigendynamik der Erzeugungs- und Aktualisierungsmodi symbolischer Herrschaft, die in seinen faszinierenden empirischen Einzelbeschreibungen und in der von ihm herangezogenen Literatur oft mit Händen zu greifen ist. Anstatt Bourdieus Konzeption in Gänze zu verwerfen, sollte daher versucht werden, den subtilen und vielschichtigen Wirkweisen symbolischer Herrschaft mithilfe geeigneterer begrifflicher Mittel nachzuspüren.