Adipositas nimmt weltweit zu und hat sich seit den 1980er-Jahren mehr als verdoppelt. Die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung ist mittlerweile übergewichtig oder adipös. Laut der Weltgesundheitsorganisation waren 2014 bereits 39 % der Männer und 40 % der Frauen übergewichtig und 11 % der Männer und 15 % der Frauen adipös [1]. International steigt sowohl die Rate an jungen Frauen mit Adipositas, darunter auch jener mit einem Vollbild des metabolischen Syndroms, als auch die Prävalenz der Adipositas bei älteren Frauen. Die Fettverteilung unterscheidet sich bei jüngeren Menschen ab der Pubertät deutlich zwischen den Geschlechtern, wobei Männer – unabhängig vom Gewicht – mehr viszerales und mehr Leberfett aufweisen, niedrigere Adiponektinspiegel und eine ausgeprägtere Insulinresistenz zeigen und dadurch auch durch ein höheres kardiovaskuläres Risiko als Frauen charakterisiert sind [2, 3]. Frauen weisen deshalb auch öfter einen „metabolisch gesunden Übergewichtstyp“ auf als Männer, wobei aber auch in diesen Fällen oft im weiteren Verlauf eine Progression in die „metabolisch ungesunde Variante“ stattfindet. Nach der Menopause und dem Östrogenverlust nimmt jedoch auch bei Frauen das Bauch- und Leberfett zu und sie gleichen sich mehr dem männlichen Bild der Fettverteilung an [4]. Gleichzeitig steigt auch ihr kardiovaskuläres Risiko stärker an als das bei Männern gleichen Alters. Allerdings haben Frauen auch mehr braunes Fettgewebe, das auch eine höhere Aktivität aufweist, als dies bei Männern der Fall ist, was in Zukunft möglicherweise auch therapeutisch genutzt werden kann.

Für die Zunahme der Adipositas sowie anderer assoziierter nicht übertragbarer Krankheiten (NCDs) (Abb. 1) sind viele Faktoren verantwortlich, biologische Faktoren, wie die Gene und die Sexualhormone, aber auch gesellschaftliche, kulturelle und Umweltfaktoren. Bei Frauen ist ein niedriges Bildungsniveau und ein niedriges Einkommen stärker mit Adipositas assoziiert als bei Männern, bei denen in manchen Regionen sogar die Beziehung zwischen sozioökonomischem Status und Übergewicht/Adipositas direkt proportional ist [5]. Auch werden vor allem junge adipöse Frauen stärker durch ihr Aussehen stigmatisiert und generell leiden adipöse Frauen öfter unter Angstzuständen und Depressionen als adipöse Männer. Ein Großteil der TeilnehmerInnen bei Gewichtsreduktionsprogrammen und klinischen Studien zur Gewichtsabnahme sind Frauen, 80 % der PatientInnen, die sich einer bariatrischen Operation unterziehen, sind weiblich. Das ist vor allem ihrem größeren Leidensdruck und dem Wunsch, den weiblichen gesellschaftlichen Schönheitsvorgaben zu entsprechen, zuzuschreiben, während Männer eher erst beim Auftreten medizinischer Komplikationen ärztliche Hilfe suchen.

Abb. 1
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Sex, Gender und NCDs (nicht übertragbare Krankheiten). Zu NCDs zählen u. a. Adipositas, Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebserkrankungen. Sowohl Sex als auch Gender beeinflussen die individuelle Funktionsfähigkeit einen Menschen ein Leben lang. NCD-Prävention ist daher über den gesamten Lebenslauf ein Thema. Adaptiert nach Schiebinger et al. [8]

Auch scheint Stress und eine Störung der Chronobiologie wie häufige Nachtdienste, wechselnde Schichtdienste sowie Schlafentzug im allgemeinen nicht nur zu Veränderungen in der Ernährung, sondern auch zu neuroendokrinologischen Fehlanpassungen zu führen und dadurch eine Gewichtszunahme zu begünstigen [6], wobei auch unter diesen Lebensumständen Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Empfindlichkeit gegenüber diesen Stressoren und den Bewältigungsmechanismen beschrieben wurden.

Neben Genen, die Appetit, die neuroendokrinologische Steuerung des Energiehaushalts und die Körperfettverteilung beeinflussen, sind auch epigenetische Effekte, die sich bereits in utero geschlechtsspezifisch auswirken können, sowie eine obesigene Umwelt für die Zunahme der Adipositas verantwortlich. Bewegungsmangel und ein Überangebot an hochkalorischer Nahrung tragen zur Adipositasepidemie bei, vermehrter Konsum von Soft drinks ist weltweit für Übergewicht und assoziierte gesundheitliche Komplikationen und frühere Sterblichkeit bei beiden Geschlechtern mit großen regionalen Unterschieden mitverantwortlich. Sowohl das Ausmaß an körperlicher Aktivität als auch die Vorliebe für bestimmte Nahrungsmittel sind durch Geschlechterrollen beeinflusst, was sich meist bereits in der Kindheit zeigt. So sieht man weltweit auch eine Zunahme an übergewichtigen Kindern, wobei Präventionsmaßnahmen oft nur mäßigen Erfolg zeigen [7]. Es ist unser aller Verantwortung, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und das Gesundheitsbewusstsein der Jugendlichen beiderlei Geschlechts zu stärken, sowie ihre Freude an sportlicher Betätigung und ihr Wissen um und ihre Lust auf gesunde Ernährung zu erhöhen. Übergewichtige Kinder werden meist auch übergewichtige Erwachsene und tatsächlich beginnt die Prägung schon im Mutterleib. Makrosome Neugeborene haben nicht nur schon bei der Geburt mehr Fettmasse, sondern auch später eine höheres Risiko für Übergewicht und Stoffwechselprobleme, wobei unterschiedliche Ausprägungen zwischen Buben und Mädchen beschrieben wurden.

Adipositas ist mit Fertilitäts- und Schwangerschaftskomplikationen, Komplikationen wie Typ 2 Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, bestimmten Krebserkrankungen, degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparats und auch einer höheren Rate an neurodegenerativen Erkrankungen verbunden. Bei all diesen Folgekrankheiten sind geschlechtsspezifische Unterschiede sowohl in der Häufigkeit, dem Altergipfel als auch dem relativen Risiko und dem Outcome zu beobachten. Bei starker Adipositas ist schließlich auch eine kürzere Lebenserwartung bei Männern und Frauen beschrieben.

Adipositas stellt somit weltweit eine Herausforderung an alle Berufsgruppen im Gesundheitssystem, aber auch an die Gesundheitspolitik im allgemeinen dar und ist mit hohen Kosten für die Folgekrankheiten verbunden. „Health in all policies“ ist deshalb zur Bekämpfung der Adipositas bei beiden Geschlechtern notwendig, die Maßnahmen müssen bei der Bildung, in der Städte- und Verkehrsplanung, der Lebensmittelindustrie und der Technologie (Bereich „gendered innovations“) ansetzen [8]. Primärprävention muss bereits bei Kinderwunsch und in der Schwangerschaft beginnen, in dem junge Frauen und Mütter unterstützt werden, ihr Normalgewicht zu halten oder bereits vor Schwangerschaftsbeginn zu erreichen. In der Schwangerschaft muss die Gewichtszunahme überwacht und der Entwicklung eines Schwangerschaftsdiabetes entgegengewirkt werden. Bei Kindern und Jugendlichen soll stärker auf ausreichend Bewegung und gesunde Ernährung in der Erziehung, den Kindergärten und Schulen geachtet werden. Geschlechts-sensitive Screening- und Präventionsprogramme sollten in Zukunft vermehrt angeboten werden, da erste Ergebnisse geschlechtsspezifischer Modell-Programme sehr Erfolg versprechend sind [9].

Andererseits gibt es derzeit wenig medikamentöse Behandlungsoptionen, einige Medikamente mussten in der Vergangenheit wegen schwerer zentraler und kardiovaskulärer Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen werden, wobei vor allem Frauen von diesen Komplikationen betroffen waren [10]. In nächster Zukunft sind jedoch neue selektivere medikamentöse Ansätze zu erwarten, wobei hier die Sicherheit der PatientInnen im Vordergrund stehen muss.

In dieser Ausgabe widmet sich die WMW deshalb dem Schwerpunkt-Thema Adipositas aus der Geschlechter-Perspektive. Der Vorstand der Österreichischen Adipositasgesellschaft hat die Leitung seiner Arbeitsgruppe „Gender“ beauftragt, eine Übersicht über wichtige, Praxis-relevante Adipositas-assoziierte Probleme in Form des „Österreichischen Gender Obesity Reports“ zu verfassen, um Gesundheitsberufe für diese Problematik zu sensibilisieren und die Betreuung der betroffenen PatientInnen zu verbessern. Die WMW hat sich bereits in der Vergangenheit mit dem Thema Gendermedizin auseinandergesetzt und diesem Schwerpunkt-Ausgaben gewidmet. Das beruht unter anderem auch auf der Tatsache, dass der Editor Prof. Pietschmann, ein international anerkannter Osteoporoseforscher, selbst auch Genderforscher ist. Auch bei Adipositas findet sich ein höheres Frakturrisiko, das nicht nur mit einer verminderten Knochendichte, sondern auch einer Veränderung der Knochenqualität und ‐mikroarchitektur assoziiert und möglicherweise bei Männern sogar besonders ausgeprägt sein könnte [11]. Außerdem sind Personen nach bariatrischer Chirurgie für die Entwicklung einer ausgeprägten Osteoporose gefährdet und bedürfen einer besonderen Überwachung und Prophylaxe. In dieser Schwerpunkt-Ausgabe werden deshalb Genderaspekte bei verschiedenen Adipositas-assoziierten Problemen aufgezeigt:

Dorner berichtet über die aktuellen Prävalenzraten zu Übergewicht und Adipositas und die Trends in der Gewichtsentwicklung in der österreichischen Bevölkerung [12]. Dabei zeigt der Public Health Forscher auch die geschlechtsspezifische Verteilung von psychosozialen Risikofaktoren und Folgekrankheiten auf.

Lamina et al. vermitteln neue Erkenntnisse aus dem Bereich der genetischen Forschung und was wir aus den Genom-weiten Assoziationsstudien im Bereich Adipositas lernen können [13]. Obwohl der Großteil des genetisch bedingten Übergewichts noch in seiner Ursache ungeklärt ist, zeigen vor allem Genvarianten, die mit dem Phänotyp Waist-Hip-Ratio in Zusammenhang stehen, geschlechtsspezifische Unterschiede.

Die folgenden 2 Beiträge befassen sich mit dem Grundproblem des Energieüberschusses bei Adipositas, der meist sowohl durch falsche Ernährung (exzessive Energiezufuhr) als auch Bewegungsmangel (unzureichender Energieverbrauch) bedingt ist. Dämon et al. geben einen Überblick über Genderrollen und Essverhalten und weisen auf die Bedeutung geschlechtersensibler Beratung und von Zielgruppen- und Lebensphasen-spezifischen Angeboten hin [14]. Haider et al. beschreiben die Wichtigkeit gesundheitswirksamer körperlicher Aktivität und zeigen anhand österreichscher Pilotprojekte, dass Qualitäts-gesicherte, strukturierte Bewegungsprogramme auch bei adipösen Männern und Frauen einen gesundheitlichen Nutzen bringen können [15].

Ardelt-Gattinger et al. stellen Geschlechtertrends im Ess- und Bewegungsverhalten adipöser Jugendlicher und Erwachsener anhand der Auswertung einer für Österreich repräsentativen Gesamtstichprobe dar und zeigen ungünstige psychische Steuerungsmechanismen vor allem bei adipösen Mädchen mit Essstörungen auf [16]. Kinzl beschreibt die Bedeutung des bio-psycho-sozialen Modells in der Adipositasentstehung und berichtet über unterschiedliche Coping-Strategien und begleitende psychische Störungen bei den betroffenen Männern und Frauen [17]. Abrahamian et al. geben eine Zusammenfassung über die Häufigkeit von Sexualstörungen bei adipösen Männern und Frauen – auch anhand österreichischer Daten –, wie diese vor allem bei Frauen immer noch tabuisierten Probleme, in Zukunft in der Praxis besser erhoben werden sollen und welche weitere Abklärung jedenfalls nötig bzw. welche ärztliche Hilfestellung derzeit möglich ist [18].

Die beiden nächsten Beiträge befassen sich mit einer großen Gruppe von Frauen im reproduktionsfähigen Alter, wie adipösen Frauen mit Schwangerschaftskomplikationen [19] und Frauen mit PCOS [20]. Ungefähr 15 % der Schwangeren entwickeln einen Gestationsdiabetes und ungefähr 10 % aller Frauen leiden unter einem PCOS. Übergewicht ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für beide Erkrankungen, die sowohl mit Fertilitäts- als auch Schwangerschaftskomplikationen und einem höheren kardiometablischen Risiko einhergehen. Adipöse Schwangere haben – selbst wenn sie keinen Schwangerschaftsdiabetes entwickeln – ein deutlich höheres Risiko für perinatale Komplikationen und genetische und epigenetische Effekte scheinen auch die Gesundheit der Kinder – teilweise geschlechtsspezifisch – im späteren Leben nachhaltig zu beeinflussen. Außerdem nimmt die Zahl der Schwangeren nach bariatrischer Chirurgie stark zu, wobei diese Gruppe oft eine Mangelversorgung und spezifische Komplikationen aufweist und einer speziellen Betreuung bedarf.

Der letzte Beitrag beschreibt Adipositas-assoziierte Probleme im letzten Lebensabschnitt [21]. Obwohl in dieser Lebensphase Mangelernährung und Frailty das Hauptproblem darstellen, sind auch starkes Übergewicht bzw. Adipositas im Alter besonders bei Frauen häufig anzutreffen und mit verschiedenen Gesundheitsproblemen und einer weiteren Einschränkung der Mobilität und Selbstständigkeit verbunden.

Wir hoffen, dass diese Ausgabe das Bewusstsein für die Adipositas-assoziierten Probleme sowie für eine geschlechtersensitive Betrachtung der massiv ansteigenden NCD steigert und zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem komplexen Krankheitsbild der Adipositas und der Begleiterkrankungen beiträgt. Weiters hoffen wir, mehr Forschung in diesem wichtigen Feld, Adipositas und Gendermedizin, zu stimulieren und auch die für Forschungsförderung Verantwortlichen anzuregen, innovative Forschung in diesem komplexen und Zukunfts-orientierten Bereich zu unterstützen.