Zusammenfassung
In der letzten Dekade hat in der chirurgischen Behandlung von instabilen Verletzungen des hinteren Beckenringes ein deutlicher Trend hin zu minimal-invasiven Stabilisierungstechniken eingesetzt. Primär infrage kommen hierfür instabile, nicht dislozierte B‑ oder C‑Verletzungen. Aber auch Verletzungen mit mäßiger Dislokation, die durch geschlossene Repositionstechniken oder über limitierte Zugänge in anatomische Stellung überführbar sind, können so adressiert werden. Demgegenüber bleiben geschlossene, nicht reponible Verletzungen die Domäne der offenen Reposition und internen Stabilisierung über klassische Zugänge. Die Wahl des korrekten Zeitpunktes für eine definitive interne Osteosynthese ist insbesondere bei polytraumatisierten Patienten von entscheidender Bedeutung. Gemäß dem Damage-Control-Konzept liegt das für sekundäre Definitivversorgungen infrage kommende „chirurgische Fenster“ zwischen dem 5. und 14. Tag nach Trauma. Demgegenüber finden sich in jüngster Zeit Hinweise, dass eine (quasi)definitive Stabilisierung in der Primärphase des Polytraumas in gedeckten Techniken mittels sog. „rescue screws“ gewinnbringend erscheint, da auf temporäre externe Stabilisationen (Beckenzwinge, Fixateur externe) verzichtet und im weiteren Behandlungsverlauf ggf. ein sekundärer Eingriff vermieden oder deutlich kleiner gehalten werden kann. Voraussetzung bleibt jedoch, dass dieses Vorgehen mit der Kreislaufsituation des Patienten und der chirurgischen Performance vereinbar ist.
Abstract
In the last decade there has been a clear trend towards minimally invasive stabilization techniques for the surgical treatment of unstable injuries of the posterior pelvic ring. Primarily, this involves unstable, non-dislocated B or C type injuries; however, this can also pertain to injuries with a moderate dislocation, which are either treatable by closed reduction or accessible by limited approaches in an anatomical position. In contrast closed injuries which are not reducible remain the domain of open reduction and internal fixation via wide dissection approaches. The choice of the correct timing for a definitive internal osteosynthesis is of decisive importance especially for polytraumatized patients. According to the damage control concept, the surgical window for secondary definitive care lies between 5 and 14 days after the trauma. Recently, evidence has been found that a percutaneous (quasi) definitive stabilization during the primary phase of polytrauma may be advantageous in covered techniques by means of so-called rescue screws. That is because temporary external stabilization (e. g. pelvic clamp, fixateur externe) can be avoided. In the further course of treatment secondary interventions may be avoided or minimized. Nevertheless, it is of essential importance that this procedure is compatible with the patient’s cardiovascular situation and the surgical performance.
In der letzten Dekade haben sich in der chirurgischen Behandlung von instabilen Verletzungen des hinteren Beckenrings einige Neuerungen etablieren können. Die Entwicklungen auf dem Gebiet der digitalen Bildgebung erlauben heutzutage die routinemäßige überlagerungsfreie oder auch 3‑dimensionale CT-Darstellung der Fraktursituation im Rahmen der präoperativen Planung. Aber auch im intraoperativen Setup haben moderne CT-basierte Techniken der Schnittbildgebung mittlerweile Einzug gehalten. Beflügelt durch die modernen PC-gestützten Möglichkeiten zur 3‑dimensionalen Darstellung des knöchernen Beckens konnten zudem zahlreiche wissenschaftliche Publikationen erheblich zum besseren chirurgischen Grundlagenverständnis beispielsweise der pelvinen Formenvariabilität beitragen und wichtige Erkenntnisse hinsichtlich Größe, Form und Häufigkeit sicherer Knochenkorridore für lange ilio-/transsakrale [1,2,3,4,5,6,7,8,9,10,11] oder iliakale [12] Schraubenimplantate erbringen.
Wahl von Zugang und Osteosynthese – Trend zu minimal-invasiven Techniken
Die genannten Aspekte führen dazu, dass in zunehmendem Maß perkutane Instrumentationen bzw. Versorgungen über limitierte Inzisionen am instabilen hinteren Beckenring mit hoher Präzision und Patientensicherheit vorgenommen werden (Abb. 1). Insbesondere die sakroiliakale (SI-)Verschraubung oder in ihrer Erweiterung die komplette transsakrale (TS-)Stabilisierung mit oder auch ohne Navigation gehören in Zentren der traumatologischen Maximalversorgung heutzutage zu Routineeingriffen. Zudem sind auf dem Markt zunehmend Fixateur-interne-Systeme erhältlich, die auch spinopelvine Instrumentationen in nahezu minimal-invasiver Technik ermöglichen (Abb. 2). Der Vorteil gedeckter Techniken liegt auf der Hand. Neben einem geringeren perioperativen Weichteiltrauma werden insbesondere die bei offenen dorsalen Stabilisierungen beschriebenen, teils inakzeptabel hohen infektbedingten Komplikationsraten von 9 % [13] bis zu 21 % [14] beim gedeckten Vorgehen nicht mehr gesehen [15].
Nachteilig bleiben allerdings unverändert die nur eingeschränkten Möglichkeiten der geschlossenen Reposition [15]. Nichtsdestotrotz weist ein Großteil versorgungspflichtiger Instabilitäten vom Typ B (höhergradig) oder C primär entweder keine wesentliche Dislokation im Bereich des hinteren Beckenrings auf oder erlaubt über indirekte Repositionstechniken, z. B. über Traktion am Bein, Verwendung von Schanz-Pins als Joysticks oder gar mithilfe der einzubringenden Implantate eine anatomiegerechte Wiedereinrichtung und interne Fixation der Fragmente in minimal-invasiver Technik. Im klinikeigenen Vorgehen wird daher, wann immer möglich, ein perkutanes Vorgehen bevorzugt. In den letzten 5 Jahren wurden im eigenen Krankengut >80 % aller versorgungspflichtigen Instabilitäten minimal-invasiv versorgt. Lediglich bei geschlossen, nicht reponiblen Fehlstellungen oder frakturbedingtem neurologischem Defizit durch Verlegung des Sakralkanals oder Inkarzeration von Sakralwurzeln kommen klassische offene Zugänge zur Anwendung (Abb. 3).
Grad der Instabilität – Klassifikationen
Für die korrekte Wahl einer Osteosynthese dienen Klassifikationssysteme als Grundlage für die Beurteilung von Frakturmorphologie und Grad der resultierenden Instabilität. Im eigenen Vorgehen haben sich in der klinischen Routine folgende Klassifikationen bewährt. Eine einfache, sehr illustrative Einteilung traumatischer Instabilitäten am hinteren Beckenring basiert auf der Beschreibung der Frakturlokalisation [16]. Hierbei werden am hinteren Beckenring transazetabuläre, transiliakale, transiliosakrale und transsakrale Instabilitäten beschrieben. Die AO/OTA(Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese/Orthopaedic Trauma Association)-Klassifikation basiert auf der Einteilung von Pennal und Tile und beinhaltet in ihrer Typisierung nach A‑, B‑ und C‑Verletzungen das Ausmaß und die Dimension(en) der vorliegenden Instabilität des vorderen und hinteren Beckenrings. Zudem liefert sie eine effektive anatomische Beschreibung der Frakturmorphologie in einem alphanumerischen Code. Dieser Einteilung folgend, besteht bei höhergradigen, horizontal instabilen B‑Verletzungen eine (relative) Indikation zur operativen Stabilisierung des hinteren Beckenrings, wie z. B. bei weit klaffenden Open-book-Verletzungen. Eine absolute Operationsindikation liegt im Allgemeinen bei vertikal instabilen C‑Verletzungen vor. Für die Beschreibung von Sakrumfrakturen hat sich zudem die Einteilung nach Denis et al. [17] bewährt, wobei in Bezug auf Art und Ausmaß neurologischer Begleitverletzungen in einen transalaren (Zone Denis 1), einen transforaminalen (Denis 2) und einen zentralen Frakturverlauf (Denis 3) unterschieden wird. Isler und Ganz [18] wiesen auf die Bedeutung des Frakturverlaufes bei transsakralen Frakturen im Rahmen von C‑Verletzungen in Relation zum Facettgelenkfortsatz S1 hin. Aus einem Frakturverlauf durch den Gelenkfortsatz oder medial davon resultiert neben der Verletzung des hinteren Beckenrings zusätzlich eine rotatorische Instabilität im lumbosakralen Scharnier. Diese Erkenntnis sollte daher in der Wahl der Osteosynthese bei Versorgung instabiler hinterer Beckenringverletzungen im Sinne einer spinopelvinen Transfixation Berücksichtigung finden.
Aus der Vielzahl bekannter Stabilisierungsverfahren kann somit das richtige Osteosyntheseverfahren, basierend auf den 3 genannten Klassifikationen AO/OTA (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese / Orthopaedic Trauma Association), Denis und Isler, unter Berücksichtigung des Grades der vorliegenden Instabilität sowie des Frakturverlaufes/-musters einfach festgelegt werden. Ob ein minimal-invasives Vorgehen in Betracht gezogen werden kann oder ob ein offener Zugang angezeigt ist, bleibt vom Ausmaß der Frakturdislokation und dem vorliegenden neurologisches Status des Patienten abhängig. So sind nicht oder nur gering dislozierte Verletzungen des hinteren Beckenringes zumeist einer perkutanen Technik zugänglich. Stärkere Dislokationen, die direkte Repositionsmanöver erfordern, oder das Vorliegen sensomotorischer Defizite machen in der Regel offene Zugänge bzw. eine Dekompression neuronaler Strukturen notwendig (Abb. 4). Die Tab. 1 gibt einen systematischen Überblick über das hauseigene operative Vorgehen bezüglich der Wahl der Osteosynthese und des Zuganges.
Wahl des Versorgungszeitpunktes – (Quasi‑)Primärversorgung beim mehrfachverletzten oder polytraumatisierten Patienten
Die definitive interne osteosynthetische Stabilisierung von höhergradigen Beckenverletzungen bei mehrfachverletzten oder polytraumatisierten Patienten ist nach den Regeln des Damage-Control-Konzeptes in der sog. Sekundärphase im Zeitfenster zwischen dem 5. und 14. Tag post Trauma angesiedelt. Die Primärphase sollte lebensrettenden chirurgischen Sofortmaßnahmen vorbehalten bleiben. Am Becken finden hierfür in der Regel externe Stabilisierungsverfahren wie der Fixateur externe oder die Beckenzwinge Anwendung. Unter gewissen Voraussetzungen kann bei ausreichend stabilen Kreislaufverhältnissen unter Anwendung oben genannter gedeckter Techniken in diesem Zeitfenster aber durchaus auch eine (quasi)definitive interne Versorgung erfolgen, ohne das Dogma des Damage-Control zu konterkarieren. Insbesondere bietet sich hierfür die gedeckte Implantation langer kanülierter Großfragmentschrauben im Verlauf sog. sicherer Knochenkorridore [1, 3,4,5,6, 10, 11] z. B. von SI- oder transsakralen Schrauben an, die bei einer überschaubaren, nicht dislozierten oder geschlossen reponiblen Fraktursituation schnell und risikoarm eingebracht werden können. Für die Einbringung solcher Schrauben im Rahmen der Primärphase der Polytraumaversorgung beginnt sich mittlerweile der Begriff der sog. „rescue screw“ zu etablieren. In versierter chirurgischer Hand ist der hierfür erforderliche Zeitaufwand vergleichbar mit der Anlage eines supraazetabulären Fixateurs oder einer Beckenzwinge. Abhängig vom Ausmaß der Instabilität kann dann (falls überhaupt erforderlich) über eine spätere sekundäre Komplettierung z. B. mit einer spinopelvinen Instrumentation entschieden werden. Ob der betreffende Patient bzw. die individuelle Situation für ein „Abweichen von der Regel“ geeignet ist, hängt von folgenden Einflussfaktoren ab:
-
Patientenspezifische unfallabhängige Parameter
-
Gesamtverletzungsmuster (Mono‑/Mehrfach- oder Polytrauma)
-
Aktuelle Kreislaufsituation
-
Pro: Patient stabil oder „transient responder“
-
Kontra: „non-responder“, Patient in extremis
-
-
Komplexität/Dislokationsgrad der Beckenverletzung
-
Pro: nicht dislozierte oder geschlossen reponible Frakturen
-
Kontra: komplexe Fraktursituationen mit grober Dislokation
-
-
-
Patientenspezifische unfallunabhängige Parameter
-
Patientenalter
-
Komorbidität
-
-
Perioperatives Setup in der Primärphase
-
Vorhandene Bildgebung (BV [Bildwandler]), ggf. 3-D-BV oder intraoperative CT (Computertomografie)
-
Chirurgische Performance
-
Ergibt sich aus einer günstigen Kombination der genannten Parameter eine Situation, in der bei einem ausreichend kreislaufstabilen Patienten eine zu stabilisierende, aber in ihrem Ausmaß sicher zu interpretierende hintere Beckenringverletzung vorliegt (nicht disloziert oder geschlossen reponibel), die einer perkutanen internen Fixation zugänglich ist, kann bei entsprechend vorhandener chirurgischer und technischer Performance die (quasi)definitive interne Stabilisierung in das Fenster der Primärversorgung vorverlegt werden (Abb. 5), ohne dass die Prinzipien des Damage-Control verletzt werden.
Folgende Fallbeispiele demonstrieren das beschriebene Vorgehen.
Fallbeispiel 1
Eine 29-jährige Patientin wurde als Fußgängerin von einem PKW mit ca. 80 km/h erfasst. Nach primärer Schutzintubation und Anlage eines Beckengurtes durch den Notarzt bei klinisch instabilem Becken erfolgte der luftgebundene Transport in unsere Klinik. Bei Übernahme im Schockraum zeigten sich unter Volumengabe und begleitender niedrig dosierter Katecholamintherapie kreislaufstabile Verhältnisse. Die Polytrauma-Spiral-CT ergab als führende Verletzung eine mäßig dislozierte transforaminale Sakrumfraktur links mit begleitendem Lendenwirbelkörper(LWK)5-Querfortsatzabriss sowie ipsilateraler oberer und unterer Schambeinastfraktur (AO: 61-C1.3a2c1, Denis Zone 2, Isler A; Abb. 6). Zudem fanden sich eine Kalottenfraktur, eine nicht dislozierte rechtsseitige Facettfraktur Halswirbelkörper(HWK)7, ein bilaterales stumpfes Thoraxtrauma, eine kleinvolumige Leberlazeration im Segment VI (Moore 2), eine Klavikulaschaftfraktur und Skapulablattfraktur links sowie eine distale Unterschenkelschaftfraktur links. Der Injury Severity Score (ISS) betrug 43. Es erfolgte die umgehende Verbringung der Patientin in den Operationssaal. Unter BV-Kontrolle konnte durch Längszug am linken Oberschenkel eine gute Frakturstellung des vorderen und hinteren Beckenrings erreicht werden. Der beckenchirurgisch versierte Unfallchirurg entschied sich daher zur primären transversalen SI-Verschraubung auf Segmenthöhe S2 bei Sakrumdysplasie unter Verwendung einer Vollgewindeschraube, um eine Kompression der transforaminalen Sakrumfraktur (Denis 2) zu vermeiden (Abb. 7). Zudem erfolgte die Stabilisierung der Unterschenkelfraktur im Fixateur externe. Der gesamte Eingriff nahm lediglich 35 min in Anspruch. Hiernach konnte die supportive Katecholamingabe zügig beendet werden; 24 h später konnte die Patientin problemlos extubiert werden. Am 5. Tag nach Trauma erfolgten die perkutane Komplettierung der Stabilisierung der linksseitigen pelvinen C‑Verletzung mittels Fixateur interne von LWK5 auf das Ilium im Sinne der triangulären Fixation (Abb. 8) sowie die Marknagelung des linken Unterschenkels.
Fallbeispiel 2
Eine 17-jährige Frau wurde als Sozia eines Kleinwagens durch einen auf das Stauende ungebremst auffahrenden 40-Tonner in der deformierten Fahrgastzelle eingeklemmt. Die Bergung der wachen, hypotonen, aber kreislaufstabilen Patientin nahm ca. 60 min in Anspruch. Vom Notarzt wurde ein regelrechter peripher-neurologischer Status dokumentiert. Nach Schutzintubation erfolgte der luftgebundene Transport in unsere Klinik mit anschließender Verbringung in den Schockraum. Die Polytrauma-Spiral-CT ergab als führende Verletzung eine komplexe Beckenverletzung (OTA: 61-C2.3b2.2c6) mit dislozierter transforaminaler Sakrumfraktur links (Denis 2), einer Zerreißung der rechten SI-Fuge bei anteriorer Kompressionsfraktur des Sakrumflügels und einer verhakten Symphysenruptur (Abb. 9a, b) mit begleitendem Vaginaleinriss. Zudem fanden sich eine Thoraxkontusion rechts und eine nicht dislozierte Tibiakopffraktur (B-Verletzung) mit begleitendem knöchernem Ausriss des hinteren Kreuzbandes rechts. Der Injury Severity Score betrug 21 Punkte. Unter adäquater Volumensubstitution waren die Kreislaufverhältnisse unverändert stabil. Die Patientin wurde zur Versorgung der instabilen Beckenverletzung in den Operationssaal verbracht. Zunächst erfolgte die Montage eines supraazetabulären Fixateur externe. Zuvor wurde die verhakte Symphyse unter Verwendung der platzierten Schanzschrauben als Joystick eingerichtet und die kranialisierte linke Beckenhälfte durch Längszug am Bein reponiert. Mit der hierdurch erreichten Reposition des hinteren Beckenrings bot sich die beidseitige SI-Verschraubung auf Segmenthöhe S1 als Alternative gegenüber einer zusätzlichen Beckenzwinge an, insbesondere da bei Letzterer durch den schwer kontrollierbaren Kompressionseffekt eine Kompromittierung der linkseitigen Sakralwurzeln im Bereich der transforaminalen Trümmerfraktur zu befürchten gewesen wäre. Der komplette Schluss der rechten SI-Fuge gelang aufgrund eines inkarzerierten Fragments nicht komplett. Ansonsten war die Ringkonfiguration nahezu anatomisch wiederhergestellt (Abb. 9c–e). Die operative Versorgung beanspruchte inklusive der chirurgischen Versorgung des Vaginaleinrisses 85 min.
Am 5. Tag nach Unfall erfolgte die sekundäre Komplettierung der Beckenstabilisierung durch die offene Reposition der klaffenden SI-Fuge über einen dorsalen Zugang nach Matta. Die primär eingebrachten SI-Schrauben wurden durch eine lange transsakrale Schraube ersetzt. Zudem erfolgte die Transfixation mittels einer spinopelvinen Abstützung von LWK5 auf beide Darmbeinflügel und die Verplattung des vorderen Beckenrings über einen modifizierten Stoppa-Zugang. Die Patientin konnte nach 33 Tagen in die stationäre Anschlussheilbehandlung verlegt werden (Abb. 10).
Diskussion und Schlussfolgerung
In der letzten Dekade hat in der chirurgischen Behandlung von instabilen Verletzungen des hinteren Beckenringes ein deutlicher Trend hin zu minimal-invasiven Stabilisierungstechniken eingesetzt. Primär infrage kommen hierfür instabile, nicht dislozierte B‑ oder C‑Verletzungen des hinteren Beckenrings. Aber auch Verletzungen mit mäßiger Dislokation, die durch geschlossene Repositionstechniken oder über limitierte Zugänge in anatomische Stellung überführbar sind, können so adressiert werden. Die damit verbundene Reduktion des iatrogenen perioperativen Weichteiltraumas bietet sowohl beim zumeist mehrfachverletzten bzw. polytraumatisierten Patienten mit einer pelvinen Rasanzverletzung als auch dem geriatrischen Patienten bei osteoporosebedingten Beckenverletzung entscheidende Vorteile. Für perkutane Instrumentierungen bieten sich neben dem Besatz sicherer Knochenkorridore mit langen Schraubenimplantaten auch über limitierte Inzisionen eingebrachte Fixateur-interne-Systeme im Sinne einer spinopelvinen Stabilisierung an. Während kanülierte Großfragmentschrauben in zahlreichen Varianten vonseiten der Industrie angeboten werden, muss die technische Entwicklung in Sachen adäquater Implantate z. B. für spinopelvine als auch für transsakrale Instrumentationen dem Trend zu minima-linvasiven Techniken erst noch Rechnung tragen.
Die Wahl des korrekten Zeitpunktes für eine definitive interne Osteosynthese ist insbesondere bei polytraumatisierten Patienten von entscheidender Bedeutung. Gemäß dem Damage-Control-Konzept wird das für sekundäre Definitivversorgungen infrage kommende „chirurgische Fenster“ zwischen dem 5. und 14. Tag nach Trauma angegeben. Allerdings finden sich in der Literatur Hinweise, dass betroffene Patienten mitunter von einem zeitlich vorverlegten Versorgungszeitpunkt im Gesamt-Outcome ihrer Verletzungen profitieren können. So beschrieben Böhme et al. 2013 den Vorteil einer frühen Definitivversorgung von Beckenverletzungen bei Polytraumapatienten mit begleitendem schwerem Thoraxtrauma [19]. Eine (quasi)definitive Stabilisierung des hinteren Beckenringes in der Primärphase des Polytraumas mittels sog. „rescue screws“ erscheint im selben Kontext gewinnbringend, da auf temporäre externe Stabilisationen (Beckenzwinge, Fixateur externe) verzichtet und im weiteren Behandlungsverlauf ggf. ein sekundärer Eingriff vermieden oder deutlich kleiner gehalten werden kann. Unabdingbare Voraussetzung bleibt jedoch, dass dieses Vorgehen mit der Gesamtsituation des Patienten und der vorhandenen chirurgischen Performance vereinbar ist. Bei fehlender Studienlage steht der Beweis für den klinischen Vorteil einer primären (Quasi‑)Definitivversorgung des hinteren Beckenringes aktuell jedoch noch aus. Gemäß dem hippokratischen Grundsatz „Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare!“ ist und bleibt eine gedeckte primäre interne Osteosynthese instabiler Beckenverletzungen beim Polytraumapatienten letztlich eine Individualentscheidung des behandelnden Traumatologen.
Fazit für die Praxis
-
Die Möglichkeiten der modernen Bildgebung forcieren einen klaren Trend zu minimal-invasiven Versorgungen am hinteren Beckenring.
-
Nicht oder nur gering dislozierte, geschlossen reponible Verletzungen des hinteren Beckenringes sind zumeist einer perkutanen Technik zugänglich.
-
Bei nichtreponiblen Fehlstellungen, starker Dislokation oder frakturbedingtem neurologischem Defizit kommen weiterhin klassische offene Zugänge zur Anwendung.
-
Beim Polytrauma kann unter ausreichend stabilen Kreislaufverhältnissen die perkutane Versorgung nicht dislozierter oder geschlossen reponibler Verletzungen ggf. in die Primärphase vorverlegt werden, ohne dass die Prinzipien des Damage-Control verletzt werden.
-
Dabei können lange kanülierte Großfragmentschrauben im Verlauf sicherer Knochenkorridore minimal-invasiv implantiert werden (sog. „rescue screws“).
-
Diese (quasi)definitive Stabilisierung des Beckens in der Primärphase des Polytraumas erscheint gewinnbringend, da auf temporäre externe Stabilisationen verzichtet und ein sekundärer Eingriff vermieden oder kleiner gehalten werden kann.
-
Die primäre Osteosynthese instabiler Beckenverletzungen beim Polytraumapatienten bleibt jedoch eine Individualentscheidung des behandelnden Traumatologen.
Literatur
Gras F, Gottschling H, Schroder M, Marintschev I, Hofmann GO, Burgkart R (2016) Transsacral osseous corridor anatomy is more amenable to screw insertion in males: a biomorphometric analysis of 280 pelves. Clin Orthop Relat Res 474:2304–2311
Gras F, Hillmann S, Rausch S, Klos K, Hofmann GO, Marintschev I (2015) Biomorphometric analysis of ilio-sacro-iliacal corridors for an intra-osseous implant to fix posterior pelvic ring fractures. J Orthop Res 33:254–260
Mendel T, Noser H, Kuervers J, Goehre F, Hofmann GO, Radetzki F (2013) The influence of sacral morphology on the existence of secure S1 and S2 transverse bone corridors for iliosacroiliac screw fixation. Injury 44:1773–1779
Mendel T, Noser H, Wohlrab D, Stock K, Radetzki F (2011) The lateral sacral triangle—a decision support for secure transverse sacroiliac screw insertion. Injury 42:1164–1170
Mendel T, Radetzki F, Wohlrab D, Stock K, Hofmann GO, Noser H (2013) CT-based 3‑D visualisation of secure bone corridors and optimal trajectories for sacroiliac screws. Injury 44:957–963
Radetzki F, Wohlrab D, Goehre F, Noser H, Delank KS, Mendel T (2014) Anatomical conditions of the posterior pelvic ring regarding bisegmental transverse sacroiliac screw fixation: a 3D morphometric study of 125 pelvic CT datasets. Arch Orthop Trauma Surg 134:1115–1120
Wagner D, Kamer L, Rommens PM, Sawaguchi T, Richards RG, Noser H (2014) 3D statistical modeling techniques to investigate the anatomy of the sacrum, its bone mass distribution, and the trans-sacral corridors. J Orthop Res 32:1543–1548
Wagner D, Kamer L, Sawaguchi T, Richards GR, Noser H, Uesugi M et al (2017) Critical dimensions of trans-sacral corridors assessed by 3D CT models: Relevance for implant positioning in fractures of the sacrum. J Orthop Res 35:2577–2584
Wagner D, Kamer L, Sawaguchi T, Richards RG, Noser H, Hofmann A et al (2017) Morphometry of the sacrum and its implication on trans-sacral corridors using a computed tomography data-based three-dimensional statistical model. spine J 17:1141–1147
Reilly MC, Bono CM, Litkouhi B, Sirkin M, Behrens FF (2003) The effect of sacral fracture malreduction on the safe placement of iliosacral screws. J Orthop Trauma 17:88–94
Carlson DA, Scheid DK, Maar DC, Baele JR, Kaehr DM (2000) Safe placement of S1 and S2 iliosacral screws: the “vestibule” concept. J Orthop Trauma 14:264–269
Schildhauer TA, McCulloch P, Chapman JR, Mann FA (2002) Anatomic and radiographic considerations for placement of transiliac screws in lumbopelvic fixations. J Spinal Disord Tech 15:199–205 (discussion)
Schildhauer TA, Josten C, Muhr G (2006) Triangular osteosynthesis of vertically unstable sacrum fractures: a new concept allowing early weight-bearing. J Orthop Trauma 20:S44–S51
Leung KS, Chien P, Shen WY, So WS (1992) Operative treatment of unstable pelvic fractures. Injury 23:31–37
Jazini E, Weir T, Nwodim E, Tannous O, Saifi C, Caffes N et al (2017) Outcomes of lumbopelvic fixation in the treatment of complex sacral fractures using minimally invasive surgical techniques. Spine J 17:1238–1246
Pohlemann T, Gansslen A, Kiessling B, Bosch U, Haas N, Tscherne H (1992) Determining indications and osteosynthesis techniques for the pelvic girdle. Unfallchirurg 95:197–209
Denis F, Davis S, Comfort T (1988) Sacral fractures: an important problem. Retrospective analysis of 236 cases. Clin Orthop Relat Res 227:67–81
Isler B (1990) Lumbosacral lesions associated with pelvic ring injuries. J Orthop Trauma 4:1–6
Bohme J, Hoch A, Gras F, Marintschev I, Kaisers UX, Reske A et al (2013) Polytrauma with pelvic fractures and severe thoracic trauma: does the timing of definitive pelvic fracture stabilization affect the clinical course? Unfallchirurg 116:923–930
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
T. Mendel, M. Heinecke, F. Klauke, F. Göhre, G.O. Hofmann und B.W. Ullrich geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Mendel, T., Heinecke, M., Klauke, F. et al. Versorgung instabiler Verletzungen des hinteren Beckenringes – bewährte Methoden und neue Konzepte. Trauma Berufskrankh 20 (Suppl 4), 206–215 (2018). https://doi.org/10.1007/s10039-018-0389-4
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s10039-018-0389-4