Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Geschichte der Heilkunst ist eine äußerst interessante, unterhaltsame, aber auch horizonterweiternde Angelegenheit. Der Begriff Heilkunst hingegen findet sich leider kaum noch im Sprachgebrauch des Klinikers und der heutigen Medizin.

Was nützt uns die Beschäftigung mit der Medizingeschichte?

Es liegt in der Natur der Dinge, dass die Kenntnisse darüber, wann, wo und wie bestimmte Entwicklungen in der Heilkunst ihren Anfang gefunden haben, mit der vergehenden Zeit verblassen. Unterzieht man sich aber der Mühe ihre Wurzeln auszugraben, erfährt man so manch Bewundernswertes, Erstaunliches und auch Kurioses. Deshalb kann man sich der Faszination der Geschichte zuweilen nicht entziehen. Am Beispiel der Hochkulturen der ägyptischen und griechischen Antike beobachtet man, je älter eine Epoche ist, desto faszinierender erscheint ihre Geschichte.

Dank der Geschichtsschreiber der Antike wie Herodot, der pater historiae, Diodor, Plutarch, Plinus und Tacitus sind wir in der Lage, zumindest kulturgeschichtlich sehr weit zurückzublicken. Aber auch unter den Heilkundigen gab es fleißige Schreiber, die uns die Entwicklungen in der Medizin, jedenfalls teilweise, zurückverfolgen lassen.

Spätestens seit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften im Jahr 1901 und durch den in Leipzig tätigen Arzt und Medizinhistoriker Karl Sudhoff (1853-1938) gehört die Medizingeschichte zum festen Bestandteil der deskriptiven Wissenschaft Medizin.

1906 wurde in Leipzig das Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, das seit 1938 seinen Namen trägt, als erstes medizinhistorisches Institut der Welt eröffnet.

Wie bedeutend man in noch früheren Zeiten die Medizingeschichte als akademisches Lehrfach empfand, belegt der Umstand, dass bereits 1789 an der damaligen Ottonia-Fredericiana zu Bamberg durch Professor Anton Georg Dorn (1760-1830) die Geschichte der Chirurgie öffentlich vorgetragen wurde.

„Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“ so Hans Sachs zu Ritter Walther von Stolzing in Richard Wagners (1813-1883) „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868): ein künstlerisches Gleichnis über die Vereinbarkeit zwischen dem Althergebrachten und Modernen. Dieses bekannte Zitat lässt sich aber auch derart interpretieren, dass es uns selbstverständlich sein sollte, die Leistungen unserer beruflichen Vorfahren zu würdigen und ihnen dadurch ein Denkmal zu setzen.

Das medizinhistorische Bewusstsein zu schärfen, scheint gerade in einer Zeit angebracht zu sein, in der Technikversessenheit und das Anbeten des Götzen „Evidenz“ die Schöngeister zu verdrängen drohen.

Dennoch blicken wir voller Stolz auf die rasante Entwicklung der Gefäßchirurgie, einer hoch spezialisierten chirurgischen Disziplin, die erst innerhalb der letzten 60 Jahre in die tägliche Praxis Eingang gefunden hat. Ihre Entwicklung hat die damaligen Vorstellungen bei weitem übertroffen.

Bemerkenswert allerdings ist der Umstand, dass vor ca. 100 Jahren die Grundlagen der Gefäßchirurgie tierexperimentell und technisch bereits gelegt waren. Ernst Jeger (1884-1915) setzte 28-jährig mit seinem wegweisenden Lehrbuch „Die Chirurgie der Blutgefäße und des Herzens“ der Gefäßchirurgie einen Meilenstein. Er verstarb im Alter von nur 30 Jahren in Kriegsgefangenschaft. Mit ihm verlor die Gefäßchirurgie ein hoffnungsvolles Ausnahmetalent. Über ihn wird in einem geplanten Artikel berichtet werden.

Die erste Hälfte des 20. Jh. mit ihren beiden Weltkriegen sowie der Zwischen- und Nachkriegszeit ließ dieses Wissen leider wieder in Vergessenheit geraten. So stagnierte die Gefäßchirurgie über etwa 50 Jahre.

Im Vergleich zur Allgemeinchirurgie, die auf eine lange Historie zurückblicken kann, ist die Gefäßchirurgie eine recht junge Disziplin. Gerade deshalb sollte es möglich sein, unser Fachgebiet historisch zu erfassen und komplex aufzuarbeiten. Es wäre wünschenswert, dass eines Tages auch für die Gefäßchirurgie ein die Historie darstellendes Gesamtwerk zusammengestellt werden kann, wie es bereits durch die Fachgesellschaften der Anästhesiologie, der Urologie und zum Teil der Unfallchirurgie für ihre Bereiche bereits geschehen ist.

Somit gibt es viele gute Gründe, sich mit der Medizingeschichte der Gefäßchirurgie zu befassen. Dies wollen wir auch weiterhin in unserer Zeitschrift so fortsetzen.

Der Masterplan

Die Rubrik Geschichte de r Gefäßchirurgie soll künftig um eine chronologische medizinhistorische Aufarbeitung unseres Fachgebietes erweitert werden.

Zur Realisierung dieses Vorhabens ist eine langfristig angelegte Artikelserie in der Gefässchirurgie geplant. In dieser sollen die medizinischen und vor allem gefäßchirurgischen Fortschritte aufgezeigt werden, die zur Etablierung unseres Fachgebiets führten. Die einzelnen Themen werden dabei sowohl in den allgemeinhistorischen als auch medizinhistorischen Kontext eingebettet.

Der historische Abriss wird sich an den geschichtlichen Epochen orientieren, beginnt in der Antike und beleuchtet alle weiteren Epochen bis in die Gegenwart hinein. So zum Beispiel die erste Erwähnung von pathologischen Veränderungen an den Gefäßen in der ägyptischen Antike; einzelne therapeutische Maßnahmen an Venen und Arterien in der griechisch/römischen Antike; Errungenschaften der arabischen Medizin im Mittelalter während in Mitteleuropa Stagnation vorherrschte; die Herausbildung der Anatomie der Blutgefäße insbesondere in der Renaissance; Entwicklung therapeutischer Konzepte bei Aneurysmen in der Neuzeit; experimentelle Forschungen zur Entwicklung von Nahttechniken an Venen und Arterien im 19. Jh.; Beginn der rekonstruktiven Gefäßchirurgie am Übergang vom 19. zum 20. Jh., nachdem die Arteriosklerose explizit als Krankheitsbild erkannt wurde, und letztendlich die Etablierung der gegenwärtig praktizierten Gefäßchirurgie in der Mitte des 20. Jh. und deren Weiterentwicklung durch die endovaskulären Techniken.

Antike, Mittelalter, Renaissance und der Beginn der Neuzeit halten dabei zunächst nur wenige Meilensteine für uns bereit. Schwerpunkte werden deshalb das 19. und 20. Jh. sein, also der Zeitraum, in dem sich die Gefäßchirurgie tatsächlich als Subdisziplin der Chirurgie entwickelte.

Begleitend dazu sollen die maßgeblich an den Entwicklungen beteiligten Ärztepersönlichkeiten und ihr Werk eine entsprechende Würdigung erfahren.

Hauptsächlich wird zunächst die arterielle und rekonstruktive Gefäßchirurgie abgehandelt. Die Venenheilkunde und Venenchirurgie bieten allein schon derart umfangreiche historische Quellen, dass dieser Bereich zu einem späteren Zeitpunkt erschlossen werden soll. Ausnahme werden die Kapitel Antike und das Mittelalter sein, da hier die Fundstellen so rar sind, dass sich eine separate Aufarbeitung nicht lohnt.

Weitere Nebenschauplätze könnten z. B. die Entwicklung der vaskulären Anatomie über alle Epochen, Eponyme in der Gefäßheilkunde, Entwicklung des Gefäßnahtmaterials und textiler Gefäßprothesen, sowie Prothetik nach Amputationen sein.

Das Ziel

Dieses Unterfangen hat das Ziel, in einer kompakten Historie einen nahezu vollständigen Abriss der Entwicklung der Gefäßchirurgie entstehen zulassen, die es für den deutschsprachigen Raum so noch nicht gibt.

Dabei besteht durchaus das Bewusstsein, dass dies ein ehrgeiziges Ziel ist und dass man es wohl nur asymptotisch erreichen kann. Die Rekrutierung von interessierten Kollegen wäre für dieses Projekt sehr wünschenswert.

Daher werbe ich ganz ausdrücklich um die Mitarbeit interessierter Kollegen.

Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin unterhält für Ihre historischen Forschungen seit Jahren einen wissenschaftlichen Arbeitskreis. Könnte dies nicht auch Vorbild für unsere DGG sein?

Es wäre mir eine Freude, mit Ihnen zusammen alte Schriften zu entstauben.

Erkennen, Bewahren, Weitergeben, Unterhalten, Begeistern.

Mit besten Grüßen

Ihr

Ralf Michallek