Zusammenfassung
Pflegende und Ärzte haben in der beruflichen Alltagspraxis unterschiedliche Perspektiven. Dies zeigt sich insbesondere in ethisch relevanten Entscheidungssituationen, in denen sie oft zu grundlegend unterschiedlichen Urteilen kommen. Aus dieser „Unterschiedlichkeit der Perspektiven“ können in der beruflichen Alltagspraxis mitunter erhebliche Dissonanzen entstehen, die einer konstruktiven Zusammenarbeit im Wege stehen. Die vorliegende Arbeit will zum einen den in der Praxis der klinischen Ethik gewonnenen Eindruck und die daraus formulierte These einer „perspektivischen Differenz“ empirisch nachweisen. Um dies zu leisten, wurde am Universitätsklinikum Frankfurt eine quantitative Erhebung durchgeführt. Zum anderen sollen die empirischen Ergebnisse zur Erklärung in einem weiteren theoretischen Kontext verortet werden. Hierfür wird im Anschluss an Bourdieu das Habituskonzept rekonstruiert, um zu erklären, warum die perspektivische Differenz weder unmittelbar wahrgenommen wird noch ohne weiteres überwunden werden kann. Die These der perspektivischen Differenz wird durch die empirische Studie gestützt. Dieser Sachverhalt ist insbesondere vor dem Hintergrund der habitustheoretischen Rekonstruktion von erheblicher Relevanz für die klinische Ethik, die einerseits Verfahren zur diskursiven Bearbeitung ethischer Konflikte in der klinischen Praxis und andererseits Konzepte für die medizinethische Fortbildung anbietet.
Abstract
Definition of the problem Nurses and physicians approach their daily professional lives from different perspectives. This becomes especially apparent in ethically charged decision-making situations, where nurses and doctors often arrive at different conclusions. Significant dissonance can sometimes arise in daily professional practise as a result of these differences in perspective, which can stand in the way of constructive collaboration. Arguments One aim of the present study is to attempt to empirically confirm the impression derived from the practice of clinical ethics and the theoretical hypothesis of different perspectives. To accomplish this, a quantitative survey has been conducted at the Frankfurt University Hospital. In addition, the study will try to situate the empirical findings within a broader theoretical context. For this purpose, Bourdieu’s concept of habitus will be reformulated in order to explain why this difference in perspectives is neither directly perceived nor readily overcome. Conclusion The hypothesis of differences in perspective will be supported through the empirical study. Particularly in the context of its reformulation through habitus theory, this issue takes on major relevance for clinical ethics, as it attempts to provide discursive procedures for the resolution of ethical conflicts in clinical practice and develop models for advanced training in medical ethics.
Notes
Ähnliches zeigte sich auch bei einer Bedarfserhebung für klinische Ethikberatung in Hannover [18]. Eine im Anschluss an die Studie durchgeführte Literaturrecherche (Zeitraum 2011 bis 2013) ergab keine direkten „Treffer“ für die Fragestellung dieser Arbeit. Hinweise, die Teilaspekte der Arbeit betrafen, ergaben keine wesentlichen neuen Perspektiven.
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Diese Arbeit ist eine gekürzte Version der Dissertationsschrift des Autors aus dem Jahr 2011 [23].
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Sauer, T. Zur Perspektivität der Wahrnehmung von Pflegenden und Ärzten bei ethischen Fragestellungen. Ethik Med 27, 123–140 (2015). https://doi.org/10.1007/s00481-014-0291-y
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