Einleitung

Die Bevölkerung in Deutschland unterliegt einem raschen Alterungsprozess. Forschungsinstitute prognostizieren, dass durch den demografischen Wandel der Bedarf an Pflegekräften in den kommenden Jahrzehnten deutlich ansteigen wird [2]. Bereits 2011 wurde ein Mangel an Pflegekräften festgestellt [8]. Der demografische Wandel wird als dessen Hauptursache angesehen. Des Weiteren werden folgende Faktoren verantwortlich dafür gemacht: Unvereinbarkeit von Beruf und Privatleben, mangelnde Aufstiegschancen, ungünstige Arbeitszeiten, geringe Vergütung, mangelnde Attraktivität des Pflegeberufs und Nachwuchskräftemangel [4, 5, 20, 23, 30]. Als eine weitere Ursache wird die geringe Verweildauer im Pflegeberuf angeführt, die mit den hohen physischen und psychosozialen Arbeitsbelastungen und den daraus resultierenden Beanspruchungsfolgen im Zusammenhang steht [5, 22, 28, 47].

Um dem Pflegekräftemangel entgegenzuwirken, wird zum einen versucht, im Ausland ausgebildete Pflegekräfte zu rekrutieren, zum anderen die hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund als Pfleger bzw. Pflegehelfer zu qualifizieren [41]. Den Angaben des Mikrozensus 2014 zufolge haben unter den Altenpflegern bereits 23,2 % einen Migrationshintergrund [43]. Laut dem Bericht des Robert Koch-Instituts [1] über Beschäftigte im Gesundheitswesen ist der Anteil an Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung bei Altenpflegern im Vergleich zu anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen mit am höchsten. Obwohl knapp ein Viertel der Beschäftigten in der Altenpflege bereits heute einen Migrationshintergrund hat, besteht in der deutschen Fachliteratur, was ihre Belastungen und Beanspruchungen anbelangt, ein deutlicher Mangel. In den wenigen internationalen Studien wird darauf hingewiesen, dass Pflegekräfte mit Migrationshintergrund höheren beruflichen Belastungen und psychologischen Anforderungen ausgesetzt sind als ihre einheimischen Kollegen [7]. Pflegekräfte mit Migrationshintergrund berichten über mangelnde soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen [42] sowie über geringe Aufstiegsmöglichkeiten [24]. In der Studie von Zulauf und Campling [48] zeigte sich, dass zugewanderte Pflegekräfte aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse zunächst in weniger qualifizierten Bereichen eingesetzt werden, was ein Gefühl der Unzufriedenheit bei ihnen auslöst. Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind allgemein häufig, aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse, geringer Qualifikation oder fehlender Anerkennung von ausländischen Abschlüssen, als An- und Ungelernte beschäftigt [6, 17]. In der Studie von Hurtado et al. [26] berichteten Pflegeassistenten mit Migrationshintergrund häufiger über arbeitsplatzbezogene Beanspruchung und geringere Einflussmöglichkeiten als die nichtmigrierten Beschäftigten. Giver et al. [19] hingegen stellten fest, dass Pflegekräfte mit Migrationshintergrund weniger über quantitative und kognitive Anforderungen und positivere Führungsqualitäten berichteten. Diese Hinweise bestätigen die Notwendigkeit einer differenzierten Analyse, der für die Studie „Neue Wege bis 67“ erhobenen Daten von Beschäftigten mit und ohne Migrationshintergrund.

Fragestellung

In dieser Studie wird die Frage beantwortet, welchen psychosozialen Belastungen und Beanspruchungen Pflegekräfte mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Pflegekräften ohne Migrationshintergrund mehr bzw. weniger ausgesetzt sind; bezogen auf die Skalen des Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSOQ): „Anforderungen“, „Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten“, „Soziale Beziehungen und Führung“ und „Beanspruchungsfolgen“. Zusätzlich werden die Ergebnisse mit denen anderer Gruppen verglichen, um eine Einordnung zu ermöglichen. Für den Vergleich wurden 2 Gruppen aus dieser Untersuchung und eine Referenzgruppe aus der COPSOQ-Datenbank gebildet: Pflegekräfte mit Migrationshintergrund (n= 112), Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund (n= 254) und Beschäftigte in der Altenpflege aus der COPSOQ-Datenbank (n= 1411). Die Referenzdaten wurden von der Freiburger Forschungsstelle für Arbeits- und Sozialmedizin (FFAS) bereitgestellt. Die FFAS hat im Rahmen zahlreicher wissenschaftlicher Studien und Projekte die Angaben von Beschäftigten in einer zentralen Datenbank gesammelt. Diese Angaben bilden die Referenzpunkte für eine allgemeine und berufsgruppenbezogene Bewertung betrieblicher Ergebnisse.

Methodik

In einer quantitativen Querschnittsuntersuchung wurde von August bis Dezember 2015, im Rahmen des Projekts „Neue Wege bis 67: In der Dienstleistung bis zur Rente“, an mehreren Standorten zweier großer Einrichtungen der Altenpflege (ambulant und stationär) in Hamburg eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt. In die Untersuchung einbezogen wurden sowohl Beschäftigte mit als auch ohne Migrationshintergrund. Der Migrationshintergrund wurde anhand folgender Merkmale erhoben: Die Muttersprache ist nicht Deutsch; mindestens ein Elternteil ist in einem anderen Land geboren; die befragte Person lebt nicht seit ihrer Geburt in Deutschland [38]. Von den 1889 ausgeteilten Fragebögen wurden 401 ausgefüllt zurückgeschickt (Responserate: 21 %). Es wurden jedoch nur Beschäftigte berücksichtigt, die direkt in der Pflege tätig waren. Beschäftigte, die im hauswirtschaftlichen Bereich oder in der Verwaltung arbeiteten, wurden aus der Analyse ausgeschlossen. 366 Fragebögen wurden in die Auswertung eingeschlossen und bideten somit die Datengrundlage. Die Teilnahme war freiwillig. Anonymität der Erhebung und Vertraulichkeit der Datenauswertung wurden gewährleistet.

Messinstrument

Zur Erfassung der psychosozialen Belastungen und Beanspruchungen wurde die deutsche Version des COPSOQ-Fragebogens [31, 32], der in der betrieblichen Praxis als Screeninginstrument eingesetzt wird, verwendet. Der COPSOQ ist ein wissenschaftlich validierter Fragebogen zur Erfassung psychosozialer Faktoren am Arbeitsplatz. Das inhaltliche Fundament des COPSOQ bildet das allgemeine Belastungs-Beanspruchungs-Modell der Arbeitswissenschaften. Demnach besteht eine Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen Arbeitsbedingungen (Belastungen) und den Reaktionen der Menschen (Beanspruchung). Dieses Modell kennt positive und negative Einflussfaktoren und Folgewirkungen und wird im COPSOQ, ohne Verpflichtung auf eine bestimmte theoretische Schule, zugrunde gelegt. Es ist vielmehr die Intention des COPSOQ, für verbreitete Theoriemodelle anschlussfähig zu sein, so z. B. für das „Effort-Reward-Imbalance-Model“ (ERI) [39], das „Demand-Control-Model“ (DCM) [27] und das „Demand-Control-Resources-Model“ (DCR) [36].

Es wurden folgende 13 der 26 COPSOQ-Skalen eingesetzt: „Quantitative Anforderungen“, „Emotionale Anforderungen“, „Work-Privacy-Conflict“, „Einfluss bei der Arbeit“, „Entwicklungsmöglichkeiten“, „Rollenklarheit“, „Rollenkonflikte“, „Feedback“, „Gemeinschaftsgefühl“, „Allgemeiner Gesundheitszustand“, „Burn-out-Symptome“, „Kognitive Stresssymptome“ und „Gedanke an Berufsaufgabe“. Alle Items wurden anhand einer 5‑stufigen Likert-Skala abgefragt und auf einen Wertebereich von 0 bis 100 Punkten umgerechnet. Die Skalenwerte sind so zu interpretieren, dass hohe Werte immer „viel“ bedeuten. Abhängig vom Inhalt der Skala ist „viel“ als positiv oder negativ zu bewerten. Beispielsweise sind hochgradige „Burn-out-Symptome“ oder häufige „Rollenkonflikte“ negative Befunde, aber ein hohes Maß an „Rollenklarheit“ oder häufiges „Feedback“ sind positiv zu werten. Es wurden nicht alle Items des COPSOQ-Fragebogens verwendet, da in der Studie auch weitere (berufsspezifische) Aspekte abgebildet werden sollten.

Auswertung

Die statistische Analyse ist angelehnt an die Validierungsstudie von Nübling et al. [31]. Zum Vergleich metrischer Merkmale wurden Mittelwerte und Standardabweichungen berechnet. Zur besseren Bewertung der Messgenauigkeit wurde zu jedem Skalenwert das 95 %-Konfidenzintervall des Mittelwerts angegeben. Die Mittelwertunterschiede wurden mittels t‑Tests errechnet. Um die Ergebnisse nicht nur gegen Zufallseinflüsse abzusichern, sondern auch auf ihre praktische Bedeutsamkeit hin zu prüfen, wurde die Effektstärke d, nach den Angaben von Cohen [11], errechnet. Dafür wurde die Mittelwertdifferenz der beiden Gruppen durch die gepoolte Standardabweichung dividiert. Dies entspricht der klassischen Berechnungsform. Nach Cohen [11] bedeuten ein d zwischen 0,2 und 0,5 einen kleinen Effekt, ein d zwischen 0,5 und 0,8 einen mittleren und ein d größer als 0,8 einen starken Effekt. Nübling et al. [33] interpretieren Differenzen ab 3 Punkten in den Mittelwerten als inhaltlich bedeutungsvoll, da diese die untere Grenze für spürbare Effekte bilden (statistisch ist in der Regel eine „kleine Effektstärke“ von 0,2 nach der Definition von Cohen erreicht). Signifikanzprüfungen erfolgten im Rahmen zweifaktorieller Varianzanalysen. Die im Ergebnisteil dargestellten Unterschiede sind mindestens auf einem Niveau von p < 0,05 signifikant. Die interne Konsistenz aller COPSOQ-Skalen, dargestellt mit Cronbachs α, liegt, bis auf die Skala „Feedback“ (α = 0,47), bei über 0,70. Für die statistische Datenauswertung wurde das Softwarepaket SPSS® Version 23 genutzt. Grafiken wurden entweder anhand von „SPSS outputs“ oder mit Microsoft Excel 2010 erstellt.

Ergebnisse

Studienteilnehmer

Von den 366 Teilnehmern, die in die Analyse eingeschlossen wurden, wiesen knapp ein Drittel einen Migrationshintergrund auf (n= 112; 30,6 %). Die Gruppe der Beschäftigten mit Migrationshintergrund umfasste Pflegekräfte aus insgesamt 28 Ländern. Personen aus Polen (n= 23), der Türkei (n= 12) und aus Russland (n= 11) bildeten die 3 größten Gruppen. Sowohl bei den Pflegekräften mit als auch ohne Migrationshintergrund war die deutliche Mehrheit weiblich und in der stationären Pflege tätig. Das Durchschnittsalter unterschied sich zwischen den beiden Kollektiven unwesentlich (44,1 Jahre vs. 45,6 Jahre). Der Anteil an Pflegekräften mit Migrationshintergrund, die älter als 50 Jahre waren, war jedoch tendenziell höher als bei den deutschen Pflegekräften (40,2 % vs. 32,7 %). Pflegekräfte mit Migrationshintergrund waren durchschnittlich kürzer im Beruf (15 Jahre vs. 20 Jahre; p < 0,001) und gingen seltener einer Vollzeitbeschäftigung (35 h und mehr) nach als diejenigen ohne Migrationshintergrund (67,3 % vs. 74,4 %). Beschäftigte mit Migrationshintergrund waren im Vergleich zu denen ohne Migrationshintergrund seltener als examinierte Pflegefachkraft tätig und häufiger als Alten‑/Gesundheits- und Krankenpflegehelfer bzw. angelernte Pflegekraft; dieser Unterschied war signifikant (p < 0,05). Mit Pflegefachkraft sind examinierte Alten‑/Gesundheits- und Krankenpfleger gemeint, die eine 3‑jährige Ausbildung nach dem Kranken- oder Altenpflegegesetz absolviert haben. Bei den angelernten Pflegekräften handelt es sich um Beschäftigte, die über keine Ausbildung verfügen. Alten‑/Gesundheits- und Krankenpflegehelfer hingegen haben eine einjährige Ausbildung abgeschlossen. Mit dem Begriff „Pflegekräfte“ ist in dieser Untersuchung die Gesamtheit gemeint; alle Personen, die in der Pflege tätig sind. Ein Überblick zu den soziodemografischen Daten und zum Arbeitsplatz findet sich in Tab. 1.

Tab. 1 Soziodemografische Daten und Arbeitsplatzbeschreibung

Ergebnisse der COPSOQ-Skalen

Im Folgenden werden die Ergebnisse für die COPSOQ-Skalen „Anforderungen bei der Arbeit“, „Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten“, „Soziale Beziehungen und Führung“ und „Belastungsfolgen“ vorgestellt und grafisch veranschaulicht. In diesem Teil werden ausgewählte Ergebnisse dargestellt, vornehmlich die der Pflegekräfte mit und ohne Migrationshintergrund. Weitere Ergebnisse können der Tab. 2 entnommen werden.

Tab. 2 Mittelwerte und Standardabweichungen von Belastungen und Beanspruchungsfolgen bei Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund und der COPSOQ-Referenzgruppe (Altenpflege)

Anforderungen bei der Arbeit

Wie die Abb. 1 zu den 3 Skalen im Bereich „Anforderungen“ deutlich zeigt, fielen die Mittelwerte für die Pflegekräfte mit und ohne Migrationshintergrund z. T. deutlich ungünstiger aus als im Durchschnitt der COPSOQ-Referenzgruppe (Altenpflege). Ein signifikanter Unterschied fand sich zwischen den Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund bei der Skala „Emotionale Anforderungen“ (58 vs. 66; p < 0,001; d = 0,42). Diese nahmen die Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, mit 8 Punkten Differenz, geringer wahr als die Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund. Auf die Frage „Ist Ihre Arbeit emotional fordernd?“ antworteten 66,5 % der Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund mit „in sehr hohem Maße/in hohem Maße“ (Pflegekräfte mit Migrationshintergrund: 47,3 %) (p < 0,001). Bei der Skala „Work-Privacy-Conflict“ lag ebenfalls ein signifikanter Unterschied vor (53 vs. 61; p < 0,05; d = 0,29). Der Aussage, dass die Anforderungen der Arbeit das Privat- und Familienleben stören, stimmten 54,7 % der Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund zu; bei den Pflegekräften mit Migrationshintergrund waren es 43,8 % (p < 0,05).

Abb. 1
figure 1

Skalenmittelwerte und 95 %-Konfidenzintervalle für den Bereich „Anforderungen“. PKoMH Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund, PKmMH Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, COPSOQ-AP COPSOQ-Altenpflege, KI Konfidenzintervall

Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten

Den „Einfluss bei der Arbeit“ schätzten die Pflegekräfte mit Migrationshintergrund gleich ein wie die Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund und die COPSOQ-Referenzgruppe. Die „Entwicklungsmöglichkeiten“ bewerteten sie hingegen deutlich schlechter (Abb. 2). Zwischen den Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund war der Unterschied, mit 8 Punkten Differenz, signifikant (p < 0,001, d = 0,42). Eine mittlere Effektstärke lag zwischen den Pflegekräften mit Migrationshintergrund und der COPSOQ-Referenzgruppe vor (d = 0,65). Examinierte Alten‑/Gesundheits- und Krankenpfleger bewerteten ihre „Entwicklungsmöglichkeiten“ deutlich höher als angelernte Pflegekräfte (77 vs. 56). Ein auffälliger Unterschied zwischen den Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund fand sich bei dem Item: „Können Sie ihre Fertigkeiten oder ihr Fachwissen bei Ihrer Arbeit anwenden?“ Von den Pflegekräften mit Migrationshintergrund antworteten 57,1 % mit „in sehr hohem Maß/in hohem Maß“, bei den Pflegekräften ohne Migrationshintergrund waren es 68,1 % (p < 0,05).

Abb. 2
figure 2

Skalenmittelwerte und 95 %-Konfidenzintervalle für den Bereich „Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten“. PKoMH Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund, PKmMH Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, COPSOQ-AP COPSOQ-Altenpflege, KI Konfidenzintervall

Soziale Beziehungen und Führung

Im Bereich „Soziale Beziehungen und Führung“ wurden insgesamt 4 Aspekte gemessen. Die Ergebnisse der Pflegekräfte mit und ohne Migrationshintergrund fielen im Vergleich zu der COPSOQ-Referenzgruppe meist ungünstiger aus (Abb. 3). Ein bedeutsamer Unterschied ergab sich bei der Skala „Rollenkonflikte“, die mit 8 Punkten Differenz für die Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund signifikant schlechter ausfiel als für die Pflegekräfte mit Migrationshintergrund (47 vs. 55; p = 0,05; d = 0,36). Tendenziell kamen „Rollenkonflikte“ bei den Pflegekräften mit Leitungsfunktion häufiger vor als bei denjenigen ohne (56 vs. 49). Mit 12 Punkten Differenz bestand zwischen den Pflegekräften ohne Migrationshintergrund und der COPSOQ-Referenzgruppe eine mittlere Effektstärke (d = 0,55).

Abb. 3
figure 3

Skalenmittelwerte und 95 %-Konfidenzintervalle für den Bereich „Soziale Beziehungen und Führung“. PKoMH Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund, PKmMH Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, COPSOQ-AP COPSOQ-Altenpflege, KI Konfidenzintervall

Beanspruchungsfolgen

Im Vergleich zur COPSOQ-Referenzgruppe waren bei den Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund bei den Skalen zu den „Beanspruchungsfolgen“ durchgehend negativere Werte zu verzeichnen (Abb. 4). Zwischen den Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund fanden sich, bis auf den leicht ungünstigeren Wert in der Skala „Kognitive Stresssymptome“, keine relevanten Mittelwertunterschiede (32 vs. 36; d = 0,18). Mit 25 bzw. 26 Punkten und damit 9 bzw. 10 Punkten über dem der COPSOQ-Referenzgruppe ist der „Gedanke an Berufsaufgabe“ bei den Pflegekräften mit und ohne Migrationshintergrund (d = 0,45 bzw. d = 0,40) deutlich stärker ausgeprägt gewesen als bei den in der Altenpflege Beschäftigten aus der COPSOQ-Datenbank.

Abb. 4
figure 4

Skalenmittelwerte und 95 %-Konfidenzintervalle für den Bereich „Beanspruchungsfolgen“. PKoMH Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund, PKmMH Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, COPSOQ-AP COPSOQ-Altenpflege, KI Konfidenzintervall

Diskussion

Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass Pflegekräfte mit Migrationshintergrund keinen höheren psychosozialen Belastungen und Beanspruchungen ausgesetzt sind als Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund. Der in der verfügbaren Literatur nahegelegte Schluss, dass Beschäftigte mit Migrationshintergrund gegenüber ihren einheimischen Kollegen hinsichtlich ihrer Arbeitssituation schlechter gestellt sind, kann hier nicht bestätigt werden. Gegenüber denen ohne Migrationshintergrund zeigten sich in dieser Untersuchung, beim Vergleich der Skalenmittelwerte, sogar einige wesentliche Vorteile. Die Skalen „Emotionale Anforderungen“, „Work-Privacy-Conflict“ und „Rollenkonflikte“ bewerteten sie, mit einer Differenz von 8 Punkten, signifikant günstiger als die Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund. Ein signifikant negativer Wert lag lediglich bei der Skala „Entwicklungsmöglichkeiten“ vor.

Eine mögliche Erklärung für die höheren Belastungen der Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund in den 3 genannten Bereichen könnte der Berufsstatus sein. Studien belegen, dass „Emotionale Anforderungen“, „Work-Privacy-Conflict“ und „Rollenkonflikte“ mit dem Berufsstatus bzw. der Stellung im Beruf zusammenhängen [10, 25]. Pflegekräfte ohne Migrationshintergrund waren im Vergleich zu den Pflegekräften mit Migrationshintergrund häufiger als examinierte Pflegefachkraft mit Leitungsfunktion (24,4 % vs. 14,3 %) und deutlich seltener als angelernte Pflegekraft tätig (8,3 % vs. 17,0 %). Oft ergeben sich bei Führungskräften (insbesondere in der unteren und mittleren Ebene) aufgrund unterschiedlicher Erwartungen, die sie selbst an sich und die andere an sie stellen, Diskrepanzen. Laut Cooper et al. [12] gehören Rollenkonflikte und Rollenambiguität mit zu den Faktoren, die für die psychische Belastung von Führungskräften ausschlaggebend sind. Einen Einfluss auf die hohen „Emotionalen Anforderungen“ kann des Weiteren die Erwerbstätigkeitsdauer haben, die bei den Pflegekräften ohne Migrationshintergrund länger ist als bei denen mit (20 Jahre vs. 15 Jahre). Mit der Dauer der Erwerbstätigkeit steigen die „Emotionalen Anforderungen“ [9].

Bei den Pflegekräften mit Migrationshintergrund stellen hingegen die signifikant schlechteren „Entwicklungsmöglichkeiten“ im Vergleich zu den Pflegekräften ohne Migrationshintergrund (p < 0,001; d = 0,42) ein Problem dar. Dieses deckt sich mit den Ergebnissen aus anderen Studien, in denen Pflegekräfte mit Migrationshintergrund im Vergleich zu ihren einheimischen Kollegen geringe Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten angeben [24, 35]. Hier könnte der berufliche Status eine mögliche Erklärung dafür sein. Wie auch in der Studie von Afentakis und Maier [3] ist in dieser Studie der Anteil an angelernten Pflegekräften bei den Beschäftigten mit Migrationshintergrund deutlich höher als bei denjenigen ohne Migrationshintergrund (17,0 % vs. 8,3 %). Allerdings liegen in dieser Studie keine Informationen dazu vor, ob sie keinen Abschluss hatten oder dieser in Deutschland nicht anerkannt wurde. Die Aussage von 68,1 % der Beschäftigten mit Migrationshintergrund, dass sie ihre Fertigkeiten und ihr Fachwissen nicht bei der Arbeit anwenden können, lässt vermuten, dass in der Gruppe der Alten‑/Gesundheits- und Krankenpflegehelfer und den angelernten Pflegekräften als hochqualifiziert einzustufende Personen beschäftigt sind, die sich unterfordert fühlen. Migranten arbeiten häufig, da ihre Abschlüsse in Deutschland oft nicht anerkannt werden, als un- und angelernte Pflegekräfte [34] oder in Berufen unterhalb ihres Bildungs‑/Qualifikationsniveaus [15, 48]. Nur wenige der (Spät‑)Aussiedler konnten ihre beruflichen Erfahrungen aus ihrem Herkunftsland in Deutschland einbringen [18]; meist mussten sie berufliche Abstiege und Hilfsarbeitertätigkeiten in Kauf nehmen [46]. Dies kann auf die in dieser Untersuchung beteiligten Pflegekräfte mit Migrationshintergrund, da viele aus Russland und Polen stammen, durchaus zutreffen. Die Tatsache, höher qualifiziert zu sein, und die Einschätzung, wenige Entwicklungsmöglichkeiten zu haben, können mit dem Gedanken an eine Berufsaufgabe einhergehen. Im Rahmen der NEXT-Studie („Nurses’ Early Exit Study“) zeigte sich, dass mangelnde „Entwicklungsmöglichkeiten“ neben dem „Work-Family-Conflict“ zu den Aspekten gehören, die stark mit dem Wunsch nach einem Berufsausstieg verbunden sind [40]. Laut Scheibner und Hapkemeyer [37] zählen fehlende berufliche „Entwicklungsmöglichkeiten“ zu den zentralen Einflussfaktoren der inneren Kündigung. Die innere Kündigung kann für Unternehmen negative Folgen wie mehr Fehltage, niedrige Produktivität und hohe Fluktuation der Beschäftigten haben [45].

Zum Schluss ist noch zu erwähnen, dass der Vergleich dieser Stichprobe mit denen in der Altenpflege Beschäftigten aus der COPSOQ-Datenbank darauf hindeutet, dass die in dieser Untersuchung befragten Pflegekräfte stärker belastet sind. Die psychosozialen Belastungen und Beanspruchungen schätzen die Beschäftigten ohne Migrationshintergrund jedoch meist höher ein als diejenigen mit Migrationshintergrund. Allerdings wird die COPSOQ-Referenzgruppe „Altenpflege“ nicht näher charakterisiert, sodass keine soziodemografischen (Alter, Migrationshintergrund etc.) oder berufsbezogenen Merkmale (Qualifikation, Berufsstatus, Berufsjahre etc.) vorliegen, die diesen Unterschied evtl. aufheben würden. Allgemein kann aber vermutet werden, dass die Ergebnisunterschiede damit zusammenhängen, dass die verwendeten Referenzwerte für die Altenpflege nicht den jüngsten Wandel in der Arbeitswelt abbilden, da sie über einen breiten Erfassungszeitraum von mehreren Jahren (2005–2011) erhoben wurden. Die zunehmend marktwirtschaftliche Ausrichtung der Pflegebranche hat sich in den vergangenen Jahren negativ auf die Beschäftigungsbedingungen, Arbeitsinhalte und -belastungen der Beschäftigten ausgewirkt [13, 14]. Die Ergebnisse könnten somit darauf hinweisen, dass sich mit den Jahren in der Pflege neue Handlungsfelder und -bedarfe entwickelt haben.

Limitationen

Bei der Interpretation der Ergebnisse sind einige Limitationen zu berücksichtigen. Es handelt sich bei dieser Untersuchung um eine Querschnittsstudie. Ergebnisse von Querschnittsstudien bilden eine Momentaufnahme ab und ermöglichen daher keine Schlüsse über kausale Zusammenhänge. Weiter stand für die Analyse lediglich eine relativ kleine Stichprobe zur Verfügung. Zudem ist anzufügen, dass in der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund Beschäftigte aus 28 Nationen vertreten waren. Vergleiche zwischen Beschäftigten aus verschiedenen Herkunftsländern waren aufgrund der zahlreichen Länder und der begrenzten Stichprobengröße nicht möglich. Mögliche Belastungsunterschiede zwischen kulturellen Subgruppen konnten deshalb nicht berücksichtigt werden. Sprachdefizite könnten eine andere Quelle der Unschärfe sein. Vornehmlich Personen mit Migrationshintergrund aus der ersten Generation verfügen oftmals über unzureichende Deutschkenntnisse, sodass Fragen missverstanden worden sein und zu entsprechend falschen Antworten geführt haben können. Ferner kann angenommen werden, dass einige Beschäftigte mit Migrationshintergrund mit dem Fragebogen in deutscher Sprache nicht erreicht worden sind. Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind aufgrund bestehender oder befürchteter Sprachprobleme häufig bei Befragungsstudien unterrepräsentiert [21]. Für zukünftige Untersuchungen wäre es deshalb sinnvoll, die Teilnahme in der jeweiligen Muttersprache zu ermöglichen. Aufgrund der genannten Limitation und ihres Umfangs erhebt die Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität. Ihr Wert liegt in der Exploration eines für die Zukunft der Pflege in Deutschland höchst bedeutsamen Feldes und den damit verbundenen Ausblicken für die weitere Forschung und Praxis.

Fazit

Die in dieser Untersuchung vorgestellten Ergebnisse weisen darauf hin, dass bei Pflegekräften mit Migrationshintergrund im Bereich „Entwicklungsmöglichkeiten“ ein Handlungsbedarf besteht. Es ist außerordentlich wichtig, diesem Belastungsfaktor mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da es sich positiv auf die Gesundheit, das Wohlbefinden [29, 43] und die Fluktuation [45] auswirkt. Unternehmen sind gefordert, der mangelnden Entwicklungsmöglichkeit entgegenzuwirken und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Eine mögliche Maßnahme ist beispielsweise das Mitarbeitergespräch. Im Rahmen eines Mitarbeitergespräches, das zu den wichtigsten Führungsinstrumenten zählt [44], könnten die Potenziale der Beschäftigten ermittelt und Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, z. B. in Form von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen.

Fest steht, dass künftig nicht genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen werden und man noch stärker auf Beschäftigte mit Migrationshintergrund angewiesen sein wird als bisher. Zudem stellen diese Personen, u. a. angesichts der perspektivisch wachsenden Zahl von Kunden mit Migrationshintergrund in der Pflege, ein großes Potenzial dar. Sie sind mehrsprachig, kennen Gefühle der Fremdheit, verfügen über Wissen über andere Kulturen, gesellschaftliche Verhältnisse, Wertvorstellungen und Religionen [16]. Diese Fähigkeiten können u. a. bei Verstehensproblemen und dem unterschiedlichen Pflege- und Krankheitsverständnis nützlich sein und Pflegeprobleme vermeiden bzw. reduzieren [16].

Diese Fragebogenstudie untersuchte Pflegekräfte mit unterschiedlichstem Migrationshintergrund. Um die Ergebnisse zu bestätigen, sind weitere Erhebungen mit einer größeren Probandenzahl und mit Migrantengruppen, die aus demselben Land stammen, empfehlenswert.