Hintergrund

Die infantile Zerebralparese („infantile cerebral palsy“, ICP) ist neben dem Spitzfuß das zweithäufigste muskuloskelettale Problem und stellt häufig einen Grund für eine neuroorthopädische Behandlung sowie eine operative Therapie dar. Die durchschnittliche Häufigkeit einer Luxation wird von Soo et al. [24] und Carstens et al. [8] mit 35 % bei Kindern mit ICP angegeben. Es wurde nachgewiesen, dass das Risiko für eine Hüftluxation u. a. von den funktionellen Fähigkeiten der Patienten beeinflusst wird. Ein gehfähiger Patient hat ein geringes Risiko, eine neurogene Hüftdezentrierung zu entwickeln [19]. Der funktionelle Status und die Gehfähigkeit werden mit dem Gross Motor Function Classification System (GMFCS) klassifiziert, bei welchem 5 verschiedene Levels unterschieden werden. Leichte Koordinationsprobleme und uneingeschränkte Gehfähigkeit entsprechen dem Level 1; ist der Patient an den Rollstuhl gebunden und nicht gehfähig, liegt ein Level 5 vor [18]. Das Risiko für eine neurogene Hüftdezentrierung steigt, je höher der GMFCS-Level ist und wird bei einem Level 5 mit über 60 % angegeben [9, 13].

Pathomechanische Faktoren

Miller et al. [17] haben 2 wesentliche pathomechanische Faktoren beschrieben, welche die Ursache für die neurogene Hüftdezentrierung sind. Erstens ist durch den hohen Muskeltonus die Gesamtkraft der hüftumgreifenden Muskulatur erhöht. Auf das Hüftgelenk eines ICP-Patienten wirken bis zu 6-mal höhere Kräfte als auf das Hüftgelenk eines Menschen ohne spastische Bewegungsstörung. Dieser Mechanismus wird durch das Wachstum verstärkt, da die Muskulatur langsamer wächst als das Skelett. Dadurch nehmen die Kontrakturen zu und es erhöht sich die auf das Gelenk einwirkende Kraft.

Zweitens zeigt der Vektor der resultierenden Kraft bei einem gesunden Hüftgelenk in den Mittelpunkt der Pfanne, bei Patienten mit ICP aufgrund der pathologisch innervierten Muskulatur nach hinten, oben und außen. Die Adduktoren üben hierbei eine besonders dezentrierende Wirkung aus.

Die sekundären Deformitäten wie Coxa valga und antetorta haben Carriero et al. [7] mit einem Finite-Elemente-Modell in einer Simulation berechnet.

Im weiteren Verlauf der Dezentrierung flacht der Pfannenerker ab und es entsteht eine Luxationsrinne [9]. Die Lateralisation und die valgische Stellung des Hüftkopfs führen zu einem lokalen Druck durch das Caput reflexum des M. rectus femoris und den lateralen Anteilen der Hüftgelenkkapsel. Die Epiphyse des Femurs wird dadurch lateral abgeflacht und deformiert. Zusätzlich zu den Kontrakturen des Hüftgelenks bestehen in bis zu 65 % der Fälle Schmerzen, die zu weiteren Funktionsverlusten [14] und häufig zu Einschränkungen bei wichtigen basalen Funktionen wie Lagerung, Pflege, Sitzen, Stehen, Transfer führen [4].

Screeningprogramme

Um Hüfluxationen zu vermeiden und frühzeitig eine Therapie einleiten zu können, sind in den letzten Jahren Screeningprogramme entwickelt worden, die klar die Risiken einer Hüftdezentrierung bei ICP in Abhängigkeit von der Gehfähigkeit aufzeigen [12, 26]. Durch die Früherkennung soll die Dezentrierung mit wenig invasiven Maßnahmen, wie z. B. Injektion von Botulinumtoxin und einfachen Operationen, beeinflusst werden [12, 15]. Am Beispiel der Adduktorentenotomie konnte gezeigt werden, dass ein Rezidivrisiko besteht, das wieder mit der Gehfähigkeit, dem GMFCS korreliert [14, 23]. Eine Untersuchung des natürlichen Verlaufs ist nahezu unmöglich, da Patienten mit schmerzhafter neurogener Hüftdezentrierung in aller Regel einer operativen Therapie zugeführt werden.

In der vorliegenden Studie wurden Patienten mit einer hohen Hüftluxation, Tönnis-Grad IV eingeschlossen, also einem Befund entsprechend einer nicht erkannten oder nicht therapierten neurogenen Hüftluxation, wie sie bei Patienten mit ICP vorliegen kann, die nicht über ein Screeningprogramm überwacht worden sind (Abb. 1). Die Indikationen zur operativen Hüftrekonstruktion sowie die Langzeitergebnisse werden dargestellt und mit den vorliegenden Ergebnissen in der Literatur nach frühzeitiger Therapie, wie z. B. der Adduktorentenotomie, gesteuert nach dem Reimers-Index über ein Hüftscreeningprogramm, verglichen.

Abb. 1
figure 1

Röntgenbefunde eines Patienten mit infantiler Zerebralparese vor und nach operativer Hüftrekonstruktion. (Mit freundl. Genehmigung des Thieme-Verlags)

Material und Methoden

Eingeschlossen in die retrospektive Studie wurden Patienten mit der Grunderkrankung einer ICP, bei denen in den Jahren 1990 bis einschließlich 2000 eine komplexe operative Hüftgelenkrekonstruktion im Rahmen einer Single Event Multi Level Surgery (SEMLS) vorgenommen worden war. Bei den Patienten, die eingeschlossen worden waren, lag präoperativ eine hohe Hüftluxation vor. In Übereinstimmung mit der Einteilung nach Tönnis wurde eine Hüftluxation dann als „hoch“ eingestuft, wenn der Kopfkern bzw. das Hüftkopfzentrum oberhalb des Pfannenerkers lag, was einem Tönnis-Grad IV entspricht [27].

Sechsundneunzig Patienten wurden eingeschlossen, von diesen konnten 68, 21 weibliche und 47 männliche, in der Spezialambulanz für ICP nachuntersucht werden. Im Rahmen der Nachuntersuchung beantworteten die Patienten bzw. bei fortgeschrittener neurologischer Beeinträchtigung die Eltern oder Betreuer einen eigens entwickelten Fragebogen zur Anamnese, Schmerzentwicklung sowie Entwicklung der funktionellen Möglichkeiten und zur subjektiven Zufriedenheit mit der Operation. Zusätzlich erfolgte eine standardisierte klinische und, falls keine aktuelle Bildgebung vorhanden war, eine radiologische Nachuntersuchung mit Durchführung einer a.-p.-Beckenübersichtsaufnahme.

Bei 60 Patienten fand sich das klinische Bild einer spastischen Tetraparese, bei 8 lagen eine spastische Diparese und bei 3 eine Athetose vor. Präoperativ betrug der GMFCS-Level bei 5 Patienten IV und bei 62 Patienten V. Der Grad der Spastik wurde anhand der modifizierten Ashworth-Skala [1] eingeteilt. Wie aus Tab. 1 ersichtlich, lag bei fast allen Patienten ein deutlich erhöhter Muskeltonus vor.

Tab. 1 Einteilung des Spastikgrads anhand der modifizierten Ashworth-Skala

Bei 23 der 68 nachuntersuchten Studienteilnehmer lagen beidseitige hohe Hüftgelenkluxationen vor. Aus diesem Grund sind insgesamt 91 komplexe Hüftgelenkrekonstruktionen im Rahmen einer SEMLS erfolgt. Die einzelnen knöchernen Operationen und Weichteileingriffe können Tab. 2, Tab. 3, Tab. 4 entnommen werden.

Tab. 2 Durchgeführte Beckenosteotomien
Tab. 3 Derotationsverkürzungsosteotomien (DVO) und offene Repositionen
Tab. 4 Begleitende Weichteiloperationen

Das Alter zum Zeitpunkt der Operation lag zwischen 4 und 19 Jahren und betrug im Mittel 10,9 Jahre. Zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung waren die Patienten durchschnittlich 18,6 Jahre alt (11,8 bis 28,5 Jahre). Der Nachuntersuchungszeitraum lag im Mittel bei 7,7 (2,5 bis 13,4 Jahre).

Ergebnisse

Operationsgründe

Schmerzen waren der häufigste Grund für eine komplexe Hüftgelenkrekonstruktion im eingeschlossenen Patientenkollektiv. Bei 49 Patienten war die Hüftluxation mit derartigen Schmerzen verbunden, dass durch die Einschränkung der Mobilität direkt das tägliche Leben und die Teilhabe beeinträchtigt wurden. Eine Verschlechterung der Hüftgelenkfunktionen mit fehlerhafter Statik, Bewegungseinschränkungen und Überkreuzen der Beine führte bei 9 Patienten (13 %) zu einer Operation. Ein Fortschreiten der Luxation war bei 8 Patienten (12 %) eine Operationsindikation (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Subjektive Operationsgründe

Schmerz- und funktionelle Situation

Postoperativ betrug der GMFCS-Level IV bei 23 und V bei 44 Patienten. Präoperativ lagen bei 44 Patienten (65 %) starke Schmerzen vor, 15 Patienten (22 %) waren schmerzfrei. Bei der Nachuntersuchung ließen sich nur noch bei insgesamt 10 Patienten (15 %) Schmerzen nachweisen, 57 Patienten (84 %) waren schmerzfrei (Tab. 5). Lediglich bei 2 Patienten wurden die Schmerzen postoperativ als ausgeprägt eingeschätzt. Ursächlich hierfür kann bei einem Patienten eine Hüftluxation auf der Gegenseite angesehen werden und bei dem anderen arthrotische Veränderungen am Hüftgelenk. Anhand des Symmetrietests errechnet sich eine statistisch signifikante postoperative Verbesserung der Schmerzsituation (p < 0,001).

Tab. 5 Schmerzsituation im prä- und postoperativen Vergleich

Reluxationen und Folgeeingriffe

Im postoperativen Verlauf reluxierten 6 von insgesamt 91 rekonstruierten Hüftgelenken. Zwei Reluxationen traten innerhalb der ersten 6 Wochen auf, beide konnten operativ wieder zentriert werden. Bei 2 weiteren Patienten zeigte sich innerhalb von 3 Jahren eine Reluxation, die durch eine erneute operative Rekonstruktion erfolgreich behandelt werden konnte. Bei der aktuellen Nachuntersuchung konnten bei 2 Patienten radiologisch Reluxationen festgestellt werden, bei einer Patientin lag zudem eine starke Streckspastik der Beine vor.

Bei einer Patientin erfolgte eine proximale Femurresektion aufgrund einer sehr schmerzhaften Chondrolyse.

Radiologische Ergebnisse

Präoperativ lag der Migrationsindex nach Reimers in allen Röntgenaufnahmen bei 100 %. An den direkt postoperativ gemessenen Röntgenbildern betrug er durchschnittlich 5,6 % (0–40 %) und an den zuletzt angefertigten Aufnahmen 14,0 % (0–100 %). Somit ist eine durchschnittliche Zunahme der Hüftkopfmigration im postoperativen Verlauf von 8,4 % zu vermerken. Dennoch liegen die Werte unter der definierten Grenze für eine Subluxationsstellung von 33 % (Abb. 3). Auf den direkt postoperativ aufgenommenen Röntgenbildern lag bei 45 Hüftgelenken eine Inkongruenz vor. Im postoperativen Verlauf verbesserte sich die Hüftkopf-Pfannen-Relation zugunsten der kongruenten Gelenkformen. Auf den aktuellen Röntgenbildern zeigte sich bei 59 Hüftgelenken eine kongruente Situation.

Abb. 3
figure 3

Postoperativer Verlauf des Migrationsindex nach Reimers (N Anzahl Hüftgelenke)

Diskussion

Die neurogene Hüftdezentrierung oder Hüftluxation ist bei Patienten mit ICP häufig. Je ausgeprägter die primäre Schädigung durch den frühkindlichen Hirnschaden ist, desto höher ist die Prävalenz hierfür. Bei einem GMFCS-Level von V wird sie mit 64–90 % angegeben [13, 24]. Bei einem hohen Prozentsatz der Patienten ist die Hüftluxation schmerzhaft. Hodgkinson et al. [14] geben die Häufigkeit bei nicht gehfähigen erwachsenen Patienten mit ICP mit 47,2 % an, Knapp u. Cortes [16] den Anteil der schmerzhaften Luxationen mit 29 %. Schmerzhafte Hüftluxationen führen mitunter zu starken Einschränkungen der basalen Funktionen, unter welche die Lagerungsfähigkeit, Pflegbarkeit, Sitzfähigkeit und Steh- oder Transferfähigkeit [4] subsumiert werden. Hierdurch werden viele Aktivitäten des täglichen Lebens erschwert oder unmöglich, wodurch die Mobilität und dadurch die Lebensqualität der Patienten nachhaltig beeinträchtigt werden kann.

Ohne programmierte radiologische Verlaufskontrollen, wie sie im Rahmen der Hüftscreeningprogramme erfolgen, treten häufig Schmerzen und ein Funktionsverlust auf, welche den Grund für eine operative Hüftrekonstruktion darstellen.

Durch eine operative Hüftrekonstruktion kann beides verbessert werden [2, 21]. Bei den Patienten der vorliegenden Studie war die Schmerzsituation der Hauptgrund für die operative Hüftrekonstruktion. Postoperativ zeigte sich eine eindrückliche Verbesserung der Schmerzen. Während präoperativ bei 65 % der Patienten schmerzhafte Hüftgelenkluxationen vorlagen, traten zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung nur noch bei 15 % der Patienten Schmerzen meist von geringerer Intensität auf.

Im Rahmen der Screeningprogramme beschreiben Dobson et al. [10] ein stufenweises Vorgehen zur operativen Therapie der neurogenen Hüftdezentrierung: präventiv, rekonstruktiv oder Rückzugsverfahren. Die erste Stufe umfasst Weichteileingriffe, die zweite eine knöcherne Rekonstruktion, die dritte Rückzugsverfahren, wie proximale Femurresektion oder die Angulationsosteotomie. Die prophylaktischen Eingriffe, durchgeführt ohne entsprechende klinische Symptomatik bei stiller Hüftdezentrierung steigen unter Screeningprogrammen an.

Weichteileingriffe haben ein hohes Rezidivrisiko, sie können den Verlauf der Hüftdezentrierung positiv beeinflussen, aber in vielen Fällen nicht stoppen, wie auch andere konservative Maßnahmen, z. B. Botulinumtoxin [15, 25].

Bei rekonstruktiven Verfahren ist die Rezidivrate deutlich niedriger. In der vorliegenden Arbeit war die Reluxationsrate trotz der präoperativ vorliegenden hohen Hüftluxation mit 6/91 vergleichbar mit den in der Literatur vorliegenden Zahlen [20, 21]. Die postoperativen Röntgenbilder zeigten jedoch in einem hohen Anteil Inkongruenzen. Diese besserten sich im Langzeitverlauf deutlich.

Daraus schlussfolgern wir, dass Weichteileingriffe und konservative Maßnahmen zur Steuerung des Operationszeitpunkts geeignete Verfahren sind und entsprechend genutzt werden sollten. Veraltete Verfahren, wie das von Sharrard [21, 22] beschriebene, sollten vermieden werden. Das radiologische Screening ist zur Überwachung des Therapierfolgs und des Verlaufs sehr gut geeignet.

Aber auch bei spät diagnostizierten hohen Hüftluxationen mit entrundetem Hüftköpfen sollte zunächst eine operative Rekonstruktion erfolgen. Im radiologischen Langzeitverlauf verbesserte sich in der vorliegenden Arbeit die Kongruenz der rekonstruierten Hüftgelenke. Es scheint also v. a. vor dem Verschluss der Wachstumsfugen eine Plastizität auch nach einer Rekonstruktion zu bestehen. Die Funktion besserte sich ebenfalls deutlich. Die Sitz-, Steh- und Gehfähigkeit konnten ebenfalls nachhaltig gebessert werden. Somit konnte der für die Inklusion und Teilhabe entscheidende Faktor, die Mobilität, signifikant gebessert werden. Dieser Effekt war auch durchschnittlich 7,5 Jahre nach der Operation anhaltend. Dies ist umso eindrücklicher, da der Untersuchungszeitraum die wichtige Phase des pubertären Wachstumsschubes umfasst. Das Alter betrug zur Nachuntersuchung im Mittel 18,6 Jahre, das Wachstum war also abgeschlossen.

Rückzugsverfahren, wie die proximale Femurresektion [11] oder die Angulationsosteotomie führen funktionell zu wesentlich schlechteren Ergebnissen [3].

Eine Hüftgelenkrekonstruktion ist in den meisten Fällen dann nicht mehr erfolgreich, wenn der Hüftkopf deformiert ist und postoperativ eine ausgeprägte Inkongruenz des rekonstruierten Gelenks besteht. In dieser Situation müssen Rückzugsverfahren wie die proximale Femurresektion oder die Angulationsosteotomie angewendet werden [3, 11]. Eine prophylaktische Angulation wurde bei schweren Tetraparesen empfohlen [21], die Indikation sollte jedoch zurückhaltend gestellt werden und Fällen mit deformiertem Hüftkopf bei hoher Luxation vorbehalten bleiben. Eine frühe Operation vor einer Deformation des Hüftkopfs sollte angestrebt werden. Die Rekonstruktion sollte vor einer Deformation des Hüftkopfs stattfinden, damit postoperativ eine kongruente Situation der rekonstruierten Gelenke in einem möglichst hohen Anteil erreicht werden kann. Hier sind Präventionsprogramme, wie von Hägglund et al. [12] beschrieben, anzustreben, damit die neuroorthopädische Behandlung zur Operationsplanung nicht erst bei Auftreten von Schmerzen eingeleitet wird, und Rückzugsverfahren wie die Angulationsosteotomie oder die proximale Femurresektion nicht mehr notwendig sind. Eine Rekonstruktion sollte auch bei geringer Deformierung des Hüftkopfs angestrebt werden. Um dies umsetzen zu können sollte in Zukunft die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neuro-, Sozialpädiatern und Neuroorthopäden noch vertieft werden.

Fazit für die Praxis

  • Eine operative Rekonstruktion einer hohen Hüftluxation bei ICP sollte angestrebt werden, auch wenn der Hüftkopf leicht entrundet ist.

  • Mit Hüftscreeningprogrammen können Rückzugsverfahren wie die proximale Femurresektion oder die Angulationsosteotomie vermieden und der Zeitpunkt zur Operation besser geplant werden.