Hintergrund

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) [56] sterben etwa 800.000 Menschen pro Jahr infolge von Suizid. Im Jahr 2016 stellte Suizid weltweit die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen dar. Bei Suizidalität handelt es sich um ein multikausales Phänomen, das durch ein komplexes Zusammenspiel zwischen biopsychosozialen Faktoren sowie Umwelteinflüssen gekennzeichnet ist [37]. Zusammenhänge zwischen Umwelteinflüssen und Suizidalität werden etwa in saisonalen Effekten deutlich: So zeigen sich sowohl in nördlicher als auch in südlicher Hemisphäre saisonale Muster für Suizide, die im Allgemeinen mit einem Anstieg während der Frühlingsmonate und im frühen Sommer festzustellen sind (vgl. [1, 9, 10] für eine Übersicht zur Thematik). Überdies wird bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts der Einfluss einzelner Wetterfaktoren auf Suizidalität empirisch untersucht (vgl. [14]). Meteorologische Variablen werden in der Wissenschaft seither als mögliche externe Stressoren diskutiert, die suizidales Verhalten bei vulnerablen Personen begünstigen könnten [21, 50, 52, 54]. Zu möglichen neurobiologischen Effekten von Wetter auf das psychische Wohlbefinden finden sich bislang lediglich vereinzelt Erklärungsansätze [8, 23, 29, 47, 48]. Einhergehend mit den weitreichenden Implikationen aktueller sowie künftig zu erwartender Auswirkungen des globalen Klimawandels auf die menschliche Gesundheit [4, 11, 30, 31] rückt der spezifische Einfluss einzelner Wettervariablen als potenzielle Risikofaktoren zunehmend in den Fokus der Suizidforschung.

Die vorliegende Übersichtsarbeit bietet einen fundierten Einblick in den aktuellen Forschungs- und Wissensstand zum Einfluss meteorologischer Variablen auf suizidales Verhalten.

Material und Methoden

Zur Erfassung relevanter Studien wurde eine kriterienbasierte, systematische Literaturrecherche nach den Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses (PRISMA)-Kriterien durchgeführt [32]. In der MEDLINE-Datenbank (PubMed, National Library of Medicine) wurde am 31.01.2019 folgender Suchalgorithmus unter Anwendung von Medical Subject Headings (MeSH) sowie weiterer relevanter Suchwörter eingesetzt: (″Suicide″[MeSH] OR ″Suicid*″) AND (″Weather″[MeSH] OR ″Climate″[MeSH] OR ″Atmospheric Pressure″[MeSH] OR ″Sunlight″ OR ″Heat″ OR ″Temperature″ OR ″Wind″ OR ″Rain″ OR ″Lightning″ OR ″Thunder*″ OR ″Humidity″ OR ″Cloud*″ OR ″Fog″ OR ″Snow″ OR ″Weather″ OR ″Meteorological*″ OR ″Season*″) AND (English[Language] OR German[Language]).

Die Suche wurde mithilfe gängiger Internetsuchmaschinen (z. B. Google Scholar) vervollständigt. Identifizierte Übersichtsarbeiten wurden durchgesehen und mit dem Rechercheergebnis verglichen. Eingeschlossen wurden englisch- und deutschsprachige Originalarbeiten mit Peer-Review ohne zeitliche Limitationen. Die Referenzen der ausgewählten Arbeiten wurden ebenso nach relevanten Studien durchsucht. Der Fokus lag auf Einschluss von Studien, die den Einfluss meteorologischer Faktoren auf suizidale Handlungen (Suizide und Suizidversuche) untersuchen. Reine Zeitreihenanalysen zum Einfluss von Saisonalität ohne Berücksichtigung von Wettervariablen sowie Untersuchungen zum Einfluss von Naturkatastrophen auf suizidale Handlungen wurden ausgeschlossen.

Ergebnisse

Insgesamt wurden 971 Abstracts identifiziert. Nach Entfernung von Duplikationen, Sichtung der Abstracts und Ausschluss nicht zur Fragestellung gehörender Arbeiten, wurden 103 Studien in die Vorauswahl aufgenommen (Abb. 1, PRISMA-Flussdiagramm). 799 Arbeiten wurden aufgrund von Mehrfachpublikation, nicht näher spezifizierter Studiendesigns und nicht verwertbarer Daten ausgeschlossen. Der Volltext von 103 Arbeiten wurde auf Eignung beurteilt. Von diesen Untersuchungen wurden weitere 4 Arbeiten ausgeschlossen, da es sich hierbei um eine Übersichtsarbeit, ein Kommentar und Zeitreihenanalysen ohne Wettervariablen gehandelt hat. Insgesamt konnten 99 relevante Studien identifiziert werden.

Abb. 1
figure 1

PRISMA-Flussdiagramm der unterschiedlichen Phasen einer systematischen Übersichtsarbeit

Studiendesign

Es zeigten sich erhebliche Unterschiede in den verwendeten Studiendesigns: Die Größe des Untersuchungsgebietes reichte von einzelnen regionalen, nationalen bis hin zu multinationalen Betrachtungen, die 62 Nationen [26] umfassten. Vornehmlich waren Industrienationen Gegenstand der Analysen. Es fanden sich Länder verschiedener Kontinente, lediglich Staaten des afrikanischen Kontinents waren nicht vertreten. Der Beobachtungszeitraum reichte von einem Jahr bis zu 258 Jahren [22]. Es wurden entweder Suizidversuche (n = 9), Suizide (n = 76) oder beide Parameter (n = 14) berücksichtigt. Hierbei umfasste die Anzahl der Ereignisse im jeweiligen Beobachtungszeitraum n = 73 [20] bis n = 501.950 [27]. 24 Studien waren hierzu keine Angaben zu entnehmen. Die untersuchten meteorologischen Parameter unterschieden sich sowohl in Anzahl als auch Art der Variablen erheblich voneinander. Am häufigsten fanden die Variablen Temperatur, Niederschlag, Luftfeuchtigkeit, Sonnenstunden und Luftdruck Berücksichtigung. Weiterhin zeigten sich deutliche Unterschiede in der statistischen Auswertung. Mögliche zusätzliche Einflussfaktoren, wie etwa saisonale Effekte, Soziodemographie und Suizidmethoden (harte vs. weiche Methoden), fanden lediglich vereinzelt Berücksichtigung. Insbesondere im Hinblick auf die Zeitspanne der untersuchten Variablen fielen erhebliche Unterschiede auf. Es fanden sich Analysen, in denen Wettervariablen und/oder Suizidraten auf Grundlage von Tages‑, Wochen‑, Monats- und Jahresdaten korreliert wurden. Cluster- und Lag-Effekte wurden lediglich vereinzelt berechnet.

Kernparameter und Hauptergebnisse der identifizierten Studien wurden dem jeweiligen Studiendesign entsprechend auf Basis von Tages- (Zusatzmaterial online: Tab. 1), Wochen- (Zusatzmaterial online: Tab. 2), Monats- (Zusatzmaterial online: Tab. 3) und Jahresdaten (Zusatzmaterial online: Tab. 4) zusammengefasst.

Hauptergebnisse

Die Mehrzahl der eingeschlossenen Studien zeigte signifikante Assoziationen zwischen mindestens einer Wettervariable und Suizidalität. Von den 99 eingeschlossenen Studien zeigten sich lediglich in 17 Untersuchungen keine signifikanten Assoziationen [7, 15, 16, 18, 20, 24, 35, 36, 38, 40, 41, 43, 44, 49, 51, 55, 57]. Im Allgemeinen waren inkonsistente und widersprüchliche Ergebnisse festzustellen. Am häufigsten fanden sich positive Korrelationen zwischen Temperatur und Suizidalität (n = 49), wobei sich auch hier vereinzelt negative Korrelationen (n = 10) oder nicht signifikante Ergebnisse zeigten (n = 25).

Diskussion

Die vorliegende Übersichtsarbeit fasst die aktuelle Evidenz zu Assoziationen zwischen meteorologischen Variablen und suizidalem Verhalten zusammen. Sie beruht auf einer systematischen Literaturrecherche, die eine umfassende Identifikation relevanter Studien ermöglichen soll. Zugleich wirkt der strenge kriterienbasierte Ansatz jedoch limitierend: Einerseits bleiben Publikationen außerhalb der MEDLINE-Datenbank weitgehend unberücksichtigt. Andererseits wurden lediglich englisch- und deutschsprachige Originalarbeiten eingeschlossen; weitere internationale Veröffentlichungen (so sind etwa auch französischsprachige Veröffentlichungen auszumachen – vgl. etwa [5, 25, 33]) und alternative Publikationsformen (Dissertationen, Monographien, Kongressbeiträge etc.) wurden nicht einbezogen.

Zuletzt wurde im Jahre 2003 eine systematische Übersichtsarbeit zur Thematik publiziert [13]. Während vor über 15 Jahren noch 27 Studien von Deisenhammer eingeschlossen wurden, sind nunmehr 99 Arbeiten auszumachen. Hierbei ist bemerkenswert, dass trotz deutlicher Zunahme an Untersuchungen der afrikanische Kontinent bislang keine Beachtung findet. Deisenhammer konnte keine spezifische Wettervariable ausmachen, die mit einem grundsätzlich höheren Suizidrisiko einhergeht, und führt dies auf die hohe Varianz der methodologischen Ansätze der eingeschlossenen Studien zurück [13]. In der vorliegenden Übersichtsarbeit erlaubt die nach wie vor äußerst heterogene Methodologie der erfassten Studien ebenso lediglich eine narrative Synthese ohne Metaanalyse. Obgleich sich zu allen meteorologischen Parametern inkonsistente und mitunter widersprüchliche Ergebnisse finden, stechen nunmehr die positiven Assoziationen zwischen Temperatur und Suizidalität in der vorliegenden Übersichtsarbeit deutlich hervor. Dass sich lediglich in 17 der insgesamt 99 eingeschlossenen Untersuchungen keine signifikanten Assoziationen zeigten, könnte gleichsam ein Hinweis auf ein Publikationsbias sein. Überdies berücksichtigen die meisten Studien mehrere meteorologische Variablen. Informationen über eine Adjustierung des Signifikanzniveaus bei multiplem Testen sind jedoch nicht konsequent aufgeführt. Statistische Fehlschlüsse sind daher infolge von α‑Fehler-Kumulierung mitunter nicht auszuschließen.

Dennoch sind die vorliegenden Ergebnisse hinweisgebend darauf, dass eine erhöhte Suizidalität weniger – wie gemeinhin angenommen – mit dunklem Regenwetter, sondern eher mit warmer/heißer Witterung assoziiert zu sein scheint.

Erklärungsansätze

In der Literatur wird speziell der Einfluss von Temperatur auf das psychische Wohlbefinden diskutiert. Im Rahmen einer rezenten systematischen Übersichtsarbeit wurde der Einfluss von Temperatur und Hitze auf die mentale Gesundheit bestätigt – die deutlichsten Effekte zeigten sich auch hierbei in einem erhöhten Suizidrisiko [50]. An extrem heißen Tagen wurde überdies ein Anstieg psychiatrischer Patienten (u. a. bipolare Störung, Schizophrenie, Demenz) in Notaufnahmen festgestellt [21, 50, 52, 54]. Zugrunde liegende biologische Mechanismen zum Einfluss meteorologischer Faktoren auf psychische Erkrankungen sind bisher weitgehend unbekannt. Patienten mit psychotischen Störungen scheinen per se wärmeempfindlich zu sein. So zeigten Daten von Shiloh et al. [47] sowie Chong und Castle [8], dass Schizophreniepatienten eine veränderte Thermoregulation aufweisen. Darüber hinaus erhöht eine Reihe psychopharmakologischer Medikamente die psychische Empfindlichkeit bei psychiatrischen Patienten [23, 29, 48], wobei ein zusätzlicher Alkoholkonsum diesen Effekt verstärkt [12]. Im Blick auf die Ätiopathogenese von Suizid beruhen die meisten Erklärungsansätze auf dem Diathese-Stress-Modell. Demnach werden Vulnerabilitätsfaktoren (Diathese) angenommen, die durch externe Stressoren bei prädisponierten Personen aktiviert werden und zu suizidalen Verhaltensweisen führen können [28, 37, 46]. Neben biopsychosozialen Faktoren finden zunehmend weitere Umweltfaktoren Berücksichtigung. In diesem Zusammenhang könnten Wettervariablen auf vielfältige Weise Einfluss auf das multifaktorielle Phänomen Suizidalität haben. So geht etwa nächtliche Hitze mit einer reduzierten Schlafqualität einher [34, 39] – dies kann sich bekanntermaßen negativ auf die individuelle mentale Gesundheit auswirken [2, 45]. Nach einer Analyse von über 600 Mio. Nachrichten auf der Internetplattform Twitter, wiesen Tweets in überdurchschnittlich heißen Monaten signifikant häufiger depressiv konnotierte Signalwörter auf [6]. Zusätzlich zu einzelnen meteorologischen Stressoren wird davon ausgegangen, dass der Klimawandel sowohl kurz- als auch langfristig auf unterschiedlichen Ebenen die psychische Gesundheit negativ beeinflussen kann [2, 3, 17, 19, 42]. So wird etwa mit Erhöhung der mittleren Monatstemperatur um 1°C eine Zunahme der Suizidrate in den USA um 0,7 % und in Mexiko um 2,1 % prognostiziert [6]. Es wird mit 9000 bis 40.000 zusätzlichen Suiziden infolge des Klimawandels bis 2050 in den USA und Mexiko ausgegangen [6].

Limitationen und künftiger Forschungsbedarf

Die prognostischen Daten unterstreichen die hohe gesellschaftspolitische Relevanz der Thematik und vergegenwärtigen den Forschungsbedarf in diesem Zusammenhang. Obgleich sich eine Ausweitung der Suizidforschung in diesem Bereich feststellen lässt, ist die Aussagekraft der Studienergebnisse aufgrund methodologischer Mängel nach wie vor limitiert. Grundsätzlich finden sich auf dem Gebiet ausschließlich ökologische Studien, in denen lediglich Assoziationen gemessen werden und sich keine kausalen Zusammenhänge nachweisen lassen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass die Korrelationsanalysen auf Aggregatdaten basieren und keine Schlussfolgerung auf Individualebene erlauben: Assoziationen auf aggregierter Ebene sind nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Assoziationen auf individueller Ebene, es besteht somit das Risiko, falsche Rückschlusse von der Aggregatebene auf die Individualebene zu ziehen („ökologischer Fehlschluss“, „cross-level bias“).

Künftige Forschungsbemühungen sollten auf konsistenter Erfassung der relevanten Variablen mit einer möglichst geringen zeitlichen und räumlichen Auflösung beruhen. Auswertungen auf Basis von Tagesdaten erscheinen hierbei aussagekräftiger als etwa Auswertungen, die auf mittleren Jahresdaten beruhen. Einerseits ermöglichen Untersuchungen auf Tagesbasis spezifischere Betrachtungen zur Bewertung meteorologischer Variablen im Sinne akuter Stressoren im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten. Andererseits erlauben sie bei zusätzlicher Berechnung von Cluster- und Lag-Effekten unter Umständen eine Betrachtung chronisch-additiver Effekte. In diesem Zusammenhang setzt eine aussagekräftige statistische Auswertung eine multidisziplinäre Expertise voraus, die unter anderem Epidemiologie, Statistik und Klimawissenschaften vereint: Vicedo-Cabrera et al. [53] geben hierzu etwa ein detailliertes „hands-on tutorial“ zu komplexen statistischen Verfahren, die dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen.

Darüber hinaus sollten – neben der Untersuchung von Risikoindikatoren – mögliche Resilienzfaktoren und Adaptationsstrategien in der Forschung Berücksichtigung finden.

Innovative interdisziplinäre Forschungsansätze zum komplexen Einfluss geopolitischer, sozioökonomischer, ökologischer Faktoren sowie Umweltfaktoren auf die mentale Gesundheit im Zusammenhang mit Wetter und Klimawandel werden etwa durch Berry et al. beschrieben [4].

Fazit für die Praxis

Zusammenfassend zeigen sich Hinweise, dass meteorologische Faktoren mit suizidalem Verhalten assoziiert sein können. Insbesondere erhöhte Temperatur und Hitze scheinen mit einem höheren Suizidrisiko einherzugehen. Die bisweilen widersprüchlichen Ergebnisse zeugen von einem weiterhin bestehenden Forschungs- und Klärungsbedarf. Angesichts einer zu erwartenden Zunahme von Wetterextremen (z. B. Hitzewellen) infolge des globalen Klimawandels geht die Thematik mit weitreichenden Implikationen einher. Ausgehend davon könnte sich bereits jetzt eine Integration einfacher Maßnahmen in die Suizidprävention als sinnvoll erweisen. Entsprechende Präventions- und Adaptationsmaßnahmen sollten sowohl auf Individual- (u. a. Psychoedukation vulnerabler Gruppen, behaviorale Interventionen) als auch Kollektivebene (u. a. Schulungen im Gesundheitswesen, Sensibilisierung von Gesundheitspersonal, Warnsysteme bei drohender Hitze) Berücksichtigung finden.