Hintergrund

Die Bindungstheorie geht auf die Arbeiten von John Bowlby und Mary Ainsworth [3] zurück, wobei unter dem Bindungssystem ein biologisch und evolutionär verankertes Motivations- und Verhaltenssystem verstanden werden kann, welches

… über die Interaktion mit den Bindungsfiguren (meist den Eltern) vermittelt wird und sich seinerseits auf Affektregulation, Beziehungsgestaltung und deren neurobiologischer Korrelate auswirkt [23, S. 45].

Demnach wird das Bindungssystem durch das frühe familiäre Umfeld geprägt und im Laufe unseres Lebens immer wieder in unterschiedlichsten Situationen aktiviert [3, 15]. Eine sichere Bindung schafft eine „sichere Basis“ für die Erkundung der Außenwelt sowie einen „sicheren Hafen“, in den bei Angst oder Stress zurückgekehrt werden kann. Steht diese Sicherheit nur eingeschränkt zur Verfügung, kann dies die Entstehung psychischer Erkrankungen begünstigen [2, 25]. So kann Bindung als Einflussgröße im Rahmen eines multidimensionalen Modells der Suchtentwicklung beschrieben werden, in welchem neurobiologische, soziale sowie psychologische Faktoren berücksichtigt werden [23].

Bindung und Sucht

Neben den vorherrschenden lerntheoretischen und klassisch orientierten psychoanalytischen Konzepten, bietet die Bindungstheorie einen weiteren möglichen Zugang zur Erklärung und Behandlung von Suchterkrankungen [9]. So erschweren defizitäre bzw. negative Beziehungserfahrungen eines Kindes das Erlernen adäquater Regulationsmechanismen für negative Affekte, wie beispielsweise Angst oder Frustration. Des Weiteren führt die Internalisierung dieser Bindungserfahrungen zu negativen „inneren Arbeitsmodellen“ (Beziehungserwartungen) bezüglich des eigenen Selbst und/oder anderen Personen. Die Drogeneinnahme kann in diesem Sinne als ein dysfunktionaler Versuch verstanden werden, Defizite in der Bindungsorganisation zu kompensieren [24, 32]. Dem entsprechend kann man bei Sucht auch als Form des exzessiven Appetits sprechen oder als

… Bindung an eine appetitive (lustgesteuerte) Aktivität, welche so stark ausgeprägt ist, dass es für die Person schwierig ist, diese Aktivität zu zügeln, obwohl diese einen Schaden verursacht [16, S. 18; Übersetzung: HFU].

Messung des Bindungsverhaltens

Basierend auf teilweise unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Bindungskonstrukts, finden sich in der Literatur sehr heterogene Zugänge zur psychometrischen Erfassung von Bindungsmerkmalen. Dementsprechend weisen Kirchmann und Strauß [12] auf die besondere Problematik der mangelnden Konvergenz der verwendeten Methoden hin. Während es einige gut validierte (Selbstbeurteilungs‑)Fragebögen zu Bindungsmerkmalen gibt [4, 26], wird diese Art der Operationalisierung auch häufig hinterfragt [10]. Da Unterschiede zwischen bewussten bzw. unbewussten Repräsentationen bzw. Selbst- und Fremdbild der jeweiligen Versuchsperson zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könnten [5], ergibt sich die Notwendigkeit der Differenzierung von Ergebnissen, welche mithilfe von Fragebögen oder mittels halbstrukturierter Interviews zustande gekommen sind. Des Weiteren finden sich in der Literatur, ausgehend von dem Grundkonzept eines sicheren vs. unsicheren Bindungssytems, drei („sicher“, „ängstlich-ambivalent“, „ängstlich-vermeidend“) bzw. auch vier („sicher“, „anklammernd“, „abweisend“, „ängstlich-vermeidend“) verschiedene Kategorien von Bindungstypen (vgl. [14] für eine ausführliche Übersicht).

In dieser Arbeit soll, mittels eines systematischen Überblicks empirischer Studien, der Fragestellung nachgegangen werden, inwieweit Sucht als mögliche Form der Bindungsstörung gelten darf. Die vorliegende Zusammenschau bisheriger Studien legt den Fokus auf substanzgebundene Süchte, da nur diese durch die etablierten Diagnosesysteme (mit Ausnahme des pathologischen Glücksspiels) ausreichend gut charakterisiert werden können. Um allgemeine Grundlagen zu schaffen, beschränken wir uns in dieser Arbeit zum großen Teil auf die globale Differenzierung zwischen sicherer und unsicherer Bindung und deren Zusammenhang mit substanzbezogenen Süchten. Darauf aufbauend können Nachfolgearbeiten auf spezielle unsichere Bindungsmuster im Zusammenhang mit einer bestimmten Substanzwahl eingehen.

Methode

Im Allgemeinen wurde bei der Erstellung des Überblicks auf die Einhaltung einschlägiger Richtlinien geachtet [27]. Wir haben uns dabei auf Arbeiten beschränkt, welche nach 1990 erschienen sind, um einen aktuellen Überblick zu gewährleisten. Hinsichtlich der Auswahl der Suchtbegriffe wurde ein ähnliches Vorgehen wie in früheren Übersichtsarbeiten gewählt. Vergleichbare Arbeiten finden sich von Schindler et al. [21] bzw. von Mikulincer und Shaver [14].

Zur Erfassung der bisher durchgeführten Studien zum Zusammenhang von substanzgebundener Sucht und Bindung wurden gängige elektronische Datenbanken (PsychInfo, Web of Science, PubMed) systematisch durchsucht. Es wurde nach empirischen Studien, publiziert in Journal- und Buchbeiträgen, im Zeitraum von 1990 bis April 2017 in englischer und deutscher Sprache in den gängigen Datenbanken gesucht. Dabei wurden folgende Schlagwörter verwendet: „addiction“, „substance use disorder“, „attachment“, „attachment style“, „attachment disorder“, „insecure attachment“ bzw. „Sucht“, „Substanzgebrauchsstörung“, „Bindung“, „Bindungsstile“, „Bindungsstörung“, „unsichere Bindung“. Mit den angeführten Schlagwörtern konnten insgesamt 531 Einträge identifiziert werden.

Nach dem Ausschluss mehrfach gefundener bzw. nicht themenbezogener Arbeiten, wurden 22 Publikationen beibehalten. Bei 15 dieser Artikel handelte es sich um rein theoretische Diskussionen bzw. Übersichtsarbeiten. Diese wurden entfernt. Des Weiteren konnten 5 Arbeiten aufgrund einer erweiterten Recherche (Google Scholar) bzw. auch persönliche Empfehlungen miteinbezogen werden. Somit wurden letztlich 12 Artikel für die Analyse berücksichtigt (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Flowchart zum Ablauf der Literaturrecherche

Ergebnisse

Wie in Tab. 1 veranschaulicht, konnten insgesamt 12 Studien für eine genaue inhaltliche Analyse herangezogen werden. Diese werden differenziert nach der Erhebungsmethode des Bindungsstils, Stichprobe bzw. Substanzwahl („drug of choice“), dem Einsatz anderer psychometrischer Verfahren und der Darstellung der wichtigsten Ergebnisse hinsichtlich der Bindungsstile inhaltlich näher erläutert.

Aufgrund der drei Arbeiten von De Rick et al. [17,18,19] kann darauf geschlossen werden, dass eine verminderte Bindungssicherheit mit einem erhöhten Ausmaß an Psychopathologie einhergeht.

In Korrespondenz dazu zeigt sich in der Arbeit von Schindler et al. [21] ein ängstlicher Bindungsstil mit der Schwere der Drogenabhängigkeit und mit komorbid auftretenden psychiatrischen Erkrankungen als positiv korreliert. Im Allgemeinen zeigte sich ein ängstlicher Bindungsstil innerhalb der Suchtgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe als deutlich erhöht. In Ergänzung dazu präsentieren Schindler et al. [22] Ergebnisse, welche darauf hinweisen, dass ein bestimmtes unsicheres Bindungsmuster für eine bestimmte Substanzwahl („drug of choice“) prädisponieren könnte. Auch zeigten sich hier unsichere Bindungsstile in den Suchtgruppen als deutlich erhöht. Des Weiteren konnten Schindler et al. [20] einen ängstlich-vermeidenden Bindungsstil in einer Gruppe von Suchtpatienten mit bzw. ohne Borderline-Diagnose wiederfinden.

In den drei durchgesehenen Arbeiten von Hiebler-Ragger et al. [11] bzw. Unterrainer et al. [28, 29] konnte jeweils ein unsicherer Bindungsstil innerhalb der Suchtgruppen im Vergleich zu Kontrollgruppe beobachtet werden.

Tab. 1 Studien zum Zusammenhang von Sucht und Bindung

Diskussion

In der vorliegenden Arbeit sollte anhand der Zusammenstellung empirischer Arbeiten untersucht werden, ob sich eine Suchterkrankung als Form der Bindungsstörung charakterisieren lässt. Trotz der unsicheren Datenlage kann die Annahme eines gehäuften Auftretens unsicherer Bindung bei Suchtpatienten zumindest als tendenziell bestätigt gelten. Auch mag das Auftreten eines ängstlich-vermeidenden Bindungsstils als spezifisch für die Suchterkrankungen gelten [11, 17, 20, 21, 28, 29]. Dem entsprechend konnte z. B. auch das gehäufte Auftreten eines ängstlich-vermeidenden Bindungsstils bei Suchtpatienten im Vergleich zu Borderline-Patienten herausgearbeitet werden [20]. Halbstrukturierte Interviews fokussieren dabei eher auf eine kategoriale Einordnung nach verschiedenen Bindungsstilen, während Fragebögen meist auf eine dimensionale Abbildung der Bindungssicherheit ausgelegt sind. Hier bleibt somit die Frage offen, inwieweit verschiedene Erhebungsmethoden die Ergebnisse der Studien beeinflussen. Insgesamt wurden die durchgesehenen Arbeiten meist an kleinen Stichproben durchgeführt bzw. gab es teilweise keine Kontrollgruppe – das vermindert die Aussagekraft der Ergebnisse.

Die gesunden Vergleichsgruppen wiesen in allen Studien einen überwiegend sicheren Bindungsstil auf. Des Weiteren konnte in einzelnen Arbeiten ein Zusammenhang zwischen einem unsicheren Bindungsmuster und dem erhöhten Auftreten weiterer psychiatrischer Symptome (u. a. Depressionen und Persönlichkeitsstörungen) festgestellt werden [17, 18, 23]. Schindler et al. [20] weisen anhand unterschiedlicher Bindungsmuster bei Suchtpatienten darauf hin, dass hier möglicherweise der Versuch unternommen wird, durch unterschiedliche Substanzen spezifische Bindungsdefizite zu kompensieren. Demgegenüber konnten allerdings in einer anderen Studie keine Unterschiede zwischen Alkoholpatienten und polytoxikomanen Patienten hinsichtlich der Bindungsstile gefunden werden [11]. Trotzdem erscheint es für zukünftige Arbeiten sinnvoll, unterschiedliche Muster unsicheren Bindungsverhaltens im Zusammenhang mit Suchterkrankungen genauer zu betrachten.

Wir haben uns in der hier vorliegenden Arbeit auf die Darstellung der substanzgebundenen Süchte beschränkt, da nur für diese (mit Ausnahme des Glücksspiels) bereits eine allgemein akzeptierte Beschreibung in den gängigen Klassifikationssystemen (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems [ICD] 10, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM] 5) vorliegt. Zukünftig erscheint die Berücksichtigung von Bindungsstilen für den Umgang mit substanzungebundenen Süchten, wie z. B. der Internetsucht, als durchaus vielversprechend zur verbesserten Charakterisierung substanzungebundener Suchterkrankungen bzw. auch zur besseren Abgrenzung von substanzgebundenen Süchten [7]. Im Allgemeinen unterstreichen die Ergebnisse die Bedeutsamkeit bindungsbasierter therapeutischer Interventionstechniken in der Suchttherapie [8]. Dementsprechend konnte in einer Überblicksarbeit auch die Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung am Beginn einer Suchtherapie für den weiteren Verlauf einer Behandlung herausgearbeitet werden [13], wobei einschränkend darauf verwiesen werden muss, dass dies nicht notwendigerweise die Bedeutung bindungsbasierter Interventionen unterstreicht [1].

Fazit für die Praxis

  • Der postulierte positive Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und Suchterkrankung konnte anhand der Zusammenschau empirischer Arbeiten tendenziell bestätigt werden.

  • Unterschiedliche Messmethoden (Fragenbögen vs. halbstrukturierte Interviews) beeinträchtigen die Vergleichbarkeit der Studien.

  • Teilweise ergeben sich Hinweise auf Zusammenhänge zwischen spezifischen Bindungsmustern und Substanzwahl.

  • Als nächstes wichtiges Ziel ist die Erforschung der Veränderung von Bindungsmustern im Verlauf einer Suchttherapie zu nennen.