Deutsche Intensivstationen zur Behandlung von Patienten mit schwersten Erkrankungen des Nervensystems, meist als „Neurointensivstationen“ zusammengefasst, können sehr unterschiedlich strukturiert sein. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des Krankenhaustyps, der leitenden Fachabteilung, der Arzt- und Bettenausstattung, des Grades ihrer Interdisziplinarität und des Spektrums der Aufnahmediagnosen, wobei wenig verlässliches Zahlenmaterial hierzu verfügbar ist. Hinzu kommt, dass die neurologische und neurochirurgische Intensivmedizin insgesamt wenig hochqualitative Evidenz als Handlungsgrundlage aufzuweisen hat. Dennoch ist sie seit etwa 30 Jahren eine eigene, hochspezialisierte, wissenschaftlich aktive und wachsende Disziplin.

In den letzten Jahren wurden Empfehlungen, Protokolle, Scores und Leitlinien national und international zu einigen neurointensivmedizinischen Krankheitsbildern und Prozeduren publiziert. Ob und wie homogen diese in Deutschland Anwendung finden, d. h. wie einheitlich und standardisiert die Neurointensivmedizin betrieben wird, ist aber unklar. Die Deutsche Gesellschaft für Neuro-Intensivmedizin (damals ANIM, heute DGNI) hat 1992/93 und 1996/97 offizielle Umfragen an deutschen Neurointensivstation durchgeführt, die aber eher strukturell-organisatorische Schwerpunkte hatten und weniger das medizinische Management betrafen [1]. Der aktuelle Status von Anzahl, Struktur und Ausstattung der bestehenden Neurointensivstationen Deutschlands ist nicht bekannt. Die Gruppe Initiative for German NeuroIntensive Trial Engagement (IGNITE, http://dgni.de/forschung/84-ignite-initiative-of-german-neurointensive-trial-engagement.html), ein freier Verbund von Intensivneurologen und -neurochirurgen mit dem Ziel vernetzter klinischer Multicenterforschung in diesem Bereich, hat sich 2011 entschlossen, eine orientierende Umfragestudie durchzuführen, um einen Eindruck von der aktuellen Neurointensivlandschaft zu bekommen. Diese Umfrage war keine offizielle Erhebung der DGNI, sondern ein Forschungsprojekt mit Unterstützung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und diente primär der Standortbestimmung zu Standards deutscher Neurointensivmedizin.

In diesem Artikel wird derjenige Teil der Umfrage dargestellt, bei dem Zentrenstruktur, Leitlinienadhärenz sowie Anwendung von Standards und Scores eruiert wurden.

Methoden

Nach zwei IGNITE-Planungssitzungen und einem Probelauf an einer Stichprobe von 5 Intensivstationen wurde ein elektronischer Fragebogen finalisiert. Dieser war auf anonyme Befragung jeweils eines Leiters einer Intensivstation ausgerichtet und umfasste Fragen zu den Bereichen Zentrumsstruktur, Diagnosenspektrum, Leitlinienadhärenz, Protokolle und klinische Scores (Teil 1) sowie Monitoringverfahren und Zielparameter (Teil 2, nicht Gegenstand dieses Artikels). (Den Fragebogen finden Sie als Supplemental zu diesem Beitrag online unter dx.doi.org/10.107/s00115-012-3541-6.) Die Autoren haben anschließend eine Liste von 326 deutschen Kliniken erstellt, die über Intensivstationen mit mindestens 5 Betten verfügten und diese explizit als neurologische, neurochirurgische oder interdisziplinär neurologisch-neurochirurgische Intensivstation bezeichneten. Quellen dieser Recherche waren öffentlich zugängliche Internetseiten aller deutschen Kliniken, Abteilungslisten der deutschen Ärztekammer, Kliniklisten der DIVI, der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der DGNI und der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC). Der Link zum elektronischen Fragebogen wurde an alle Klinikdirektoren versandt mit der Bitte um Weiterleitung an den zuständigen ärztlichen Leiter der Intensivstation. Die Erhebungsdauer betrug 12 Wochen, innerhalb dieser wurden die Teilnehmer zweimalig an die Umfrage erinnert.

Die Daten wurden in anonymisierter Form durch eine unabhängige Diplompsychologin mit SPSS.19 (SPSS Inc., Chicago, IL, USA) ausgewertet. Als deskriptive Daten wurden Häufigkeiten, Prozentwerte, arithmetische Mittelwerte, Standardabweichungen, Minima und Maxima berechnet. Unterschiedstestungen zwischen den Aufnahmediagnosen erfolgten über den parameterfreien Mann-Whitney-U-Test (Uniklinikum vs. Nicht-Uniklinikum) bzw. dem Kruskal-Wallis-Test (Neurologie vs. Neurochirurgie vs. Anästhesie). Bei letzterem wurden die Einzelvergleiche zwischen den Fachabteilungen durch eine einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA) unter Verwendung des Post-hoc-Test Tukey HSD analysiert. Unterschiede in der Adhärenz an Leitlinien und der Anwendung von Protokollen bzw. Scores wurden durch den χ2-Test geprüft. Als Kontinuitätskorrektur wurde der exakte Fisher-Test eingesetzt. Bei mehr als 2 × 2 Feldern wurde die asymptotische Signifikanz bestimmt und die Einzelvergleiche zwischen den Fachabteilungen durch Paarvergleiche mittels Z-Tests und Bonferroni-Korrektur analysiert.

Ergebnisse

Rücklauf, teilnehmende Zentren und Aufnahmediagnosen

Von 326 versandten Fragebogen-E-Mails wurden 78 beantwortet, was einem Rücklauf von 24% entspricht. Siebenunddreißig Fragebögen wurden vollständig ausgefüllt, 41 inkomplett (die zugrunde liegende Teilnehmerzahl wird bei Darstellung der Einzelergebnisse jeweils angegeben). Einundneunzig Prozent der ausfüllenden Kollegen waren Oberärzte, die restlichen Fach- und Stationsärzte. Die Charakteristika der Zentren ist in Abb. 1 dargestellt. Die prozentual anteilig geschätzten Aufnahmediagnosen der befragten Stationen werden von den zerebrovaskulären Erkrankungen angeführt, gefolgt von traumatischen Hirnschäden und Hirntumoren sowie infektiologischen und peripher-nervösen bzw. neuromuskulären Erkrankungen (Abb. 2). Dabei wird offenbar die myasthene Krise häufiger auf universitären Stationen als auf nichtuniversitären Stationen (2,8% vs. 0,9% der Aufnahmediagnosen, p = 0,02) behandelt, während es bei Epi- und Subduralblutung (6% vs. 11%, p = 0,004) sowie Schädel-Hirn-Trauma (7% vs. 12%, p = 0,024) umgekehrt ist. Für die übrigen Aufnahmediagnosen ergab sich kein Unterschied für den Vergleich unversitär vs. nichtuniversitär (Daten nicht gezeigt). Ein Vergleich der leitenden Fachabteilungen ergab außer für die intrazerebrale Blutung eine sehr unterschiedliche Verteilung (Tab. 1).

Abb. 1
figure 1

Charakteristika der teilnehmenden Zentren. a Art der Klinik, b Fachabteilung der Intensivstation, c Leitung der Intensivstation, d Bettenzahl der Intensivstation, e Zahl der betreuenden Ärzte

Abb. 2
figure 2

Einschätzung des prozentualen Anteils der Aufnahmediagnosen der vergangenen 12 Monate in den befragten Kliniken

Tab. 1 Aufnahmediagnosen nach leitenden Fachabteilungen

Leitlinien und Protokolle

Von den Befragten gaben 41% einen Adhärenzgrad an Leitlinien ihrer Fachgesellschaften von 75% an, über ein Drittel aller Befragten (34,6%) nannten eine Adhärenz an Leitlinien von 50% oder weniger (weitere Aufteilung Abb. 3). Es traten dabei keine signifikanten Unterschiede nach Klinikart oder zwischen den leitenden Fachabteilungen auf, lediglich ein Trend zugunsten der anästhesiologisch geleiteten Stationen (Adhärenz zu 75%: Anästhesie 64% vs. Neurochirurgie 50% vs. Neurologie 44%, Daten nicht gezeigt) war erkennbar.

Abb. 3
figure 3

Adhärenzgrad an Leitlinien der Fachgesellschaften in den befragten Kliniken

Die Anwendung stationsinterner, schriftlich vorgehaltener Protokolle zu zahlreichen alltagsrelevanten Bereichen des ICU-Managements zeigt Abb. 4 a. Sie wird von mehr als 50% der Stationen angegeben, für die Bereiche Hygiene, Infektionsbekämpfung und Ernährung sogar von über 80%. Bezogen auf spezifische neurointensivmedizinische Krankheitsbilder werden solche Protokollanwendungen auf 70–80% der Stationen angegeben (Abb. 4 b), allerdings war die Antwortbeteiligung in dieser Fragerubrik eher gering. Im Vergleich Uniklinikum vs. Nicht-Uniklinikum zeigte sich, dass universitäre Stationen Protokolle zu den Bereichen Sepsistherapie (67,9% vs. 95,8%, p = 0,01) und Status epilepticus (41,4% vs. 78,3%, p=0,008) signifikant seltener anwenden als nichtuniversitäre, während sich ansonsten keine signifikanten Unterschiede ergaben (Tab. 2). Im Vergleich der Fachabteilungen ergab sich bei einem generellen Trend der Anästhesiologie zur häufigeren Protokollanwendung lediglich ein signifikanter Unterschied für die häufigere Anwendung eines ICP-Protokolls durch die Anästhesiologie im Vergleich zur Neurologie (100% vs. 52,2%, p = 0,008), aber nicht zur Neurochirurgie (85,7%; Tab. 2).

Abb. 4
figure 4

Anwendung standardisierter Protokolle a in Bereichen des ICU-Managements und b bei spezifischen neurointensivmedizinischen Krankheitsbildern. ICU „intensive care unit“

Tab. 2 Unterschiede zwischen universitären und nichtuniversitären Stationen in der Anwendung von Protokollen und Scores

Scores

Die am häufigsten gebräuchlichen Scores (s. Infobox 1) sind Hunt/Hess und Glasgow Coma Scale (GCS) mit einem von über 80% der Stationen als routinemäßig genanntem Einsatz, gefolgt von den Schlaganfallscores National Institute of Health Stroke Scale (NIHSS) und modified Rankin Scale (mRS) sowie der radiologischen SAB-Skala nach Fisher mit über 60%. Die meisten von 19 abgefragten international publizierten Intensiv-Scores werden von deutlich unter 40% der Stationen regelmäßig eingesetzt, wie (Abb. 5). Stationen universitärer Kliniken setzen häufiger die Schlaganfallscores NIHSS (79,3% vs. 42,9%, p = 0,033) und mRS (75,9% vs. 40,0%, p = 0,017) ein, während von nichtuniversitären Klinken häufiger die GCS (100% vs. 72,4%, p = 0,007) als routinemäßig angewendeter Score angegeben wurde. Andere Unterschiede zwischen den Klinikarten ergaben sich nicht (Tab. 3). Im Vergleich der leitenden Fachabteilungen zeigte sich u. a., dass von der Neurologie im Gegensatz zu Neurochirurgie und Anästhesiologie häufiger NIHSS (100% vs. 38,5% vs. 37,5%, p < 0,000) und mRS (85,7% vs. 50,0% [nur Trend] vs. 12,5%, p = 0,001), aber seltener die Glasgow Outcome Scale (GOS; 5% vs. 76,9% vs. 50%, p < 0,000) eingesetzt werden. Auf neurochirurgisch geleiteten Stationen kommen verglichen mit Neurologie und Anästhesiologie häufiger die SAB-Scores World Federation of Neurosurgeons Scale (WFNS; 66,7% vs. 15,0% vs. 28,6% [nur Trend], p = 0,011) und die Fisher-Scale (90% vs. 42,9% vs. 62,5% [nur Trend], p = 0,043) zum Einsatz (Tab. 3). Die von den Befragten als „häufig“ bezeichneten Verwendungszwecke der wichtigsten Scores zeigt (Abb. 6).

Abb. 5
figure 5

Routinemäßige Anwendung von Scores. (Scores s. Infobox 1)

Abb. 6
figure 6

Verwendungszweck der häufiger angewandten Scores. (Scores s. Infobox 1)

Tab. 3 Unterschiede zwischen leitenden Fachabteilungen in der Anwendung von Protokollen und Scores

Diskussion

Wie sind deutsche Neurointensivstationen organisiert? Wie viele gibt es? Welche Größe und Personalausstattung haben sie? Wer leitet Sie? Sind Anwendungen von Managementprotokollen, wie auf den allgemeinen Intensivstationen, auch auf Neurointensivstationen gebräuchlich und sinnvoll? Gibt es gängige Standards zur Behandlung intensivneurologischer Erkrankungen in Deutschland? Kommen international publizierte klinische Scores hier zur Anwendung?

All diese Fragen erscheinen aus organisatorischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Hinsicht berechtigt, und sie werden auf der Arbeitstagung für Neurologische Intensiv- und Notfallmedizin (ANIM) und zahlreichen anderen deutschen und europäischen Kongressen rege diskutiert. Eine Datengrundlage für diese Diskussionen gibt es bisher allerdings so gut wie nicht, was auch dadurch begründet ist, dass einheitliche Kriterien für die Definition einer Neurointensivstation fehlen.

Die Abbildung der deutschen Intensivneurologie wurde unseres Wissens in der Vergangenheit nur zweimal systematisch vorgenommen, nämlich in zwei Erhebungen durch Garner und Harms et al., die 1992/93 und 1996/1997 im Auftrag der ANIM durchgeführt wurden [1, 2]. Diese Umfragen waren besonders auf Organisation und Ausstattung ausgerichtet, weniger auf das medizinische Management und auch begrenzt auf Intensivstationen der neurologischen Kliniken unter fachneurologischer Betreuung. So wurden in der zweiten Erhebung 62 Intensivstationen mit insgesamt 420 Betten dokumentiert, die sich in 30 beatmungsfähige Intensivstationen, 16 Überwachungsstationen und 16 interdisziplinäre Stationen aufteilen ließen. Diese wiesen eine Patienten-Arzt-Ratio von 2,3, ein Schichtdienstsystem in 53% und eine Beatmungsquote von 48% auf; insgesamt reflektiert dies eine Weiterentwicklung seit 1992. Zu dieser Bestandsaufnahme kommen Berichte aus einzelnen deutschen Zentren mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Hervorzuheben sind insbesondere zwei retrospektive Studien zum Outcome beatmeter Neurointensivpatienten aus Regensburg [3] und Erlangen [4].

Insofern hat unsere Umfragestudie einige Alleinstellungsmerkmale, da sie mit 78 beteiligten Stationen bisher die größte Umfrage zu diesem Themengebiet darstellt, sich der aktuellen Versorgungssituation von Neurointensivpatienten entsprechend an neurologische/neurochirugische/neurologisch-neurochirugisch interdisziplinäre Intensivstationen gleichermaßen richtete, anonymen Charakter hatte und inhaltlich auf Standards zahlreicher Aspekte des Intensivmanagements fokussiert war. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Ergebnisse dieser Standortbestimmung kaum in den Kontext vergleichbarer Untersuchungen eingeordnet werden können, und wir uns hier eher auf eine deskriptive Darstellung als eine Interpretation der Daten beschränken müssen.

Zentrencharakteristika

Bei den Zentrencharakteristika zeigte sich hinsichtlich der Stationsstruktur eine durchschnittliche Bettenzahl von 11,2 und Ärztezahl von 7,7, also eine Patient-Arzt-Ratio von 1,4, was bedeuten könnte, dass eine weitere Verbesserung in der Personalintensivierung seit der Erhebung von Harms et al. von 1996/7 [1] vollzogen wurde. Allerdings kann dies nur eine grobe Abschätzung sein, da Erhebungsdesign und die befragten Zentren nicht zwangsläufig vergleichbar sind.

Die Verteilung der Aufnahmediagnosen mit den führenden zerebrovaskulären Erkrankungen erscheint insgesamt wenig überraschend, besonders, wenn diese nach leitenden Fachabteilungen differenziert werden. Interessant ist aber doch, dass der ischämische Schlaganfall mit fast 20% den Hauptanteil aller Diagnosen ausmacht, was bedeuten könnte, dass für viele deutsche Zentren inzwischen die Intensivneurologie zur ganzheitlichen Schlaganfallversorgung über die Stroke-Unit hinaus zu gehören scheint. Möglicherweise reflektiert dies die zunehmende Invasivität der akuten und subakuten Schlaganfalltherapie inklusive Lysetherapie, periinterventionellem ICU-Management bei endovaskulärer Rekanalisation und Dekompressionsoperation bei raumfordernden Hemisphären- oder Kleinhirninfarkten. Ebenfalls interessant ist die Tatsache, dass die meisten Neurointensiverkrankungen durchaus nicht nur vorrangig an universitären Zentren behandelt werden. Die Ausnahme der myasthenen Krise erklärt sich vermutlich durch deren relative Seltenheit und die häufige Anbindung von Myastheniepatienten an universitäre Spezialsprechstunden.

Leitlinienadhärenz

Die Befragung zum Ausmaß der Leitlinienadhärenz, das mehr als ein Drittel mit 75% angaben, zeigt, welchen hohen Stellenwert Fachgesellschaftsleitlinien für diese Zentren zu haben scheinen, und zwar ungeachtet eines universitären Status oder der leitenden Fachabteilung, und dies trotz eines niedrigen Evidenzgrades für die meisten intensivneurologischen Belange. Leider spielen Aspekte der Intensivmedizin in den meisten Leitlinien nur eine untergeordnete Rolle. Andererseits gaben mehr als ein Drittel aller Befragten eine Adhärenz an Leitlinien von 50% und weniger an, und dabei ist zu berücksichtigen, dass durch die Selbsteinschätzung der Befragten die Adhärenzwerte erfahrungsgemäß tendenziell eher zu hoch angegeben werden. Wir gehen davon aus, dass eine Verbesserung der Situation durch einheitliche Standards und Leitlinien mit möglichst guter Evidenz für viele der Befragten eine erhebliche Relevanz hätte.

Stationsinterne Protokolle haben in der allgemeinen Intensivmedizin über die letzten Jahre eine erfolgreiche Etablierung erfahren, da sie in einigen Bereichen wie Ernährung [5], Sepsis [6], Sedierung [7] oder Weaning [8] nachweislich zu Vorteilen oder sogar Outcome-Verbesserungen geführt haben. Unsere Ergebnisse zeigen, dass auch auf Neurointensivstationen solche Protokolle zur Anwendung kommen, für manche Bereiche und ausgewählte Krankheitsbilder sogar auf 80–100% der Stationen. Umgekehrt könnte man aber bemängeln, dass besonders in manchen wissenschaftlich gut abgesicherten alltagsrelevanten Bereichen wie Sedierung und Weaning (s. oben) von 30–40% der Stationen offenbar kein standardisiertes Vorgehen vollzogen wird. Unterschiede zwischen Subgruppen hinsichtlich einzelner Protokollthemen lassen sich ohne weitere Informationen nur schwer interpretieren. Insgesamt scheinen aber nichtuniversitäre Zentren und anästhesiologisch geleitete Abteilungen häufiger Protokolle anzuwenden. Dies könnte daran liegen, dass man in universitären Zentren bzw. in fachspezifisch geleiteten Stationen durch mehr wissenschaftliche Aktivität, differenzierteres Verständnis für die behandelten Krankheitsbilder oder auch kritischere Bewertung der (meist schwachen) Evidenzlage eher bereit ist, von Protokollen abzuweichen und eine individuellere Behandlung vorzuziehen. Hier mag der Status epilepticus als Beispiel gelten, dessen Behandlung gerade in universitären Einrichtungen wegen der Verfügbarkeit neuer Antikonvulsiva erfahrungsgemäß häufig von den verfügbaren Leitlinien abweicht. Alternativ (oder zusätzlich) könnte eine Rolle spielen, dass das Bewusstsein für eine evidenzbasierte, protokollgesteuerte Therapie der allgemein-intensivmedizinischen Aspekte (z. B. Sedierung und Beatmung) auf den fachspezifischen, universitären Stationen möglicherweise etwas geringer ausgeprägt ist.

ICU-Scores

ICU-Scores (Übersicht s. [9]), auch neurointensivmedizinische [10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21], werden fortwährend publiziert und sind in Studien insbesondere zu Zwecken der Objektivierung der Krankheitsschwere und der Prädiktion von Verlauf und Prognose validiert worden. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass sich die in Deutschland eingesetzten Scores auf wenige traditionelle beschränken. So liegt z. B. der SAB-Score WFNS, in mehreren Publikationen und auf Kongressen als der wesentlich älteren Hunt/Hess-Graduierung überlegen propagiert, in der Anwendung immer noch deutlich hinter derselben zurück. Die traditionellen Scores dienen offenbar nicht nur zur Durchführung von Studien oder Prognosebildung, sondern werden immerhin auch zu 20–30% „häufig“ im Rahmen von Therapieentscheidungen verwendet. Wenig überraschend ist, dass bestimmte Scores häufiger von denjenigen Fachabteilungen angewandt werden, die auch primär Erkrankungen betreuen, für die diese Scores entwickelt wurden, wie die Schlaganfallscores mRS oder NIHSS durch die Neurologie oder die SAB-Scores Hunt/Hess und WFNS durch die Neurochirurgie. Deutlich wird aber v. a., dass viele Scores, die in den letzten 10 Jahren international veröffentlicht wurden, auf deutschen Stationen scheinbar kaum Anwendung finden bzw. gar nicht bekannt sind. Scheinbar ist das Interesse an diesen moderneren Scores nicht besonders ausgeprägt oder die Verbreitung derselben bei vielerorts langzeitlich etablierten Stationsleitungen, aber hoher Fluktuationen von Schichtärzten suboptimal.

Limitationen der Studie

Unsere Studie hat einige Limitationen. Zunächst war die Auswahl der angeschriebenen Zentren an sehr wenige Kriterien geknüpft und darauf ausgerichtet, möglichst viele potenzielle Adressaten zu erreichen. Es kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass die zahlreichen angeschriebenen Kliniken tatsächlich alle über spezialisierte Neurointensivstationen verfügen, wie es z. B. die Klinikhomepages oft suggerierten. Insofern ist der „Rücklauf“ von 78/326 sicherlich als falsch-niedrig aufzufassen und somit die Repräsentanz unserer Ergebnisse schwer einzuschätzen. Achtundsiebzig Intensivstationen, die sich durch ihre Angaben sämtlich als Zielgruppe gekennzeichnet haben, stellen aber unseres Wissens die bisher größte untersuchte deutsche Stichprobe dar.

Des Weiteren basieren alle Daten auf subjektiven Angaben der Stationsleiter, deren Zuverlässigkeit nur durch die gesicherte Anonymität und den Verzicht auf eine finanzielle Kompensation unterstützt wird. Die klinisch/akademische Position und die Erfahrung dieser Stationsleiter (in > 90% Oberarzt) sind weitere unbekannte Einflussfaktoren. Außerdem kann ein Selektionsbias in dem Sinne bestanden haben, dass diejenigen Stationsleiter, die motiviert waren, an einer solchen Umfragestudie teilzunehmen, auch diejenigen sind, die ein besonders motiviertes und eher standardisiertes Intensivmanagement betreiben. Schließlich sind nicht alle Fragebögen vollständig beantwortet worden, sodass die Aussagekraft und statistische Auswertbarkeit bei einigen Themenfeldern begrenzt sind.

Ausblick

Ideal wäre eine offizielle Erhebung an sämtlichen durch einheitliche Kriterien definierten Zentren, die auch Kontrollinstrumente wie z. B. Mehrpersonenbefragung oder Krankenhausregisterabgleiche beinhalten sollte.

Die von uns hier vorgelegte Abbildung der Arbeitsweise auf deutschen Neurointensivstationen könnte als Grundlage für solch eine Erhebung dienen sowie für weitere auf einzelne Themenfelder fokussierte Umfragen, die die Planung von Multicenterstudien, die Entwicklung neuer Leitlinien oder die Schaffung fachübergreifender Netzwerke ermöglichen sollten.

Fazit

Deutsche Neurointensivstationen…

  • haben keine einheitlichen Definitionskriterien,

  • sind hinsichtlich ihrer Größe, Leitung, ärztlichen Betreuung und ihres diagnostischen Spektrums sehr unterschiedlich,

  • scheinen sich in ihrer Anzahl und Differenzierung weiterzuentwickeln und zwar über die universitären Zentren hinaus.

  • geben eine heterogene, mittel- bis höhergradige Leitlinienadhärenz an,

  • weisen in manchen Bereichen eine sehr hohe Anwendung von Behandlungsprotokollen auf, in anderen eine maximal mittelgradige,

  • zeigen bezüglich der Anwendung von Scores eine sehr konservative Haltung,

  • scheinen insgesamt bestrebt zu sein, eine standardisierte Intensivmedizin zu betreiben, wenn dies auch bisher nur bedingt umgesetzt zu sein scheint,

  • könnten vermutlich von Netzwerkbildung und mehr hochqualitativer Multicenterforschung zur Generierung robusterer Empfehlungen profitieren,

  • könnten vermutlich von einer Leitlinienkommission für Neurointensivstationen profitieren.