Marines Phytoplankton bildet das erste Glied in der marinen Nahrungskette und dient zahlreichen Organismen, darunter Muscheln, bestimmte Fische und Krebse, als Nahrung. Auf diese Weise reichern sich in diesen Organismen z. B. die Stoffwechselprodukte von Dinoflagellaten, Zyanobakterien und Kieselalgen an, die Teil des Phytoplanktons sind. Rund 100 Arten dieser Mikroorganismen produzieren natürliche Phycotoxine (aus dem Griechischen „phyco“ für Alge). Die Intoxikationen führen innerhalb kurzer Zeit (15 min bis 24 h) nach dem Verzehr zu gesundheitlichen Beschwerden.

Einige dieser Toxine können irreversible oder chronische Krankheiten hervorrufen. Gegen diese Toxine gibt es keine Gegengifte. Die ärztliche Behandlung beruht im Wesentlichen auf notfallmedizinischen Maßnahmen wie etwa der Magenspülung. Die Klassifizierung der Toxine erfolgt gemäß den von ihnen hervorgerufenen Symptomen [1]. Da die Toxine in schwachen Dosen für den Menschen nicht a priori gesundheitsschädlich sind, ist die Bewertung des Risikos für den Verbraucher erforderlich, um die Erarbeitung von Empfehlungen und die Festsetzung von zulässigen Grenzwerten für die jeweilige Toxinfamilie zu ermöglichen [2]. Die Aktualität der Thematik zeigt sich auch in der kürzlich erfolgten Überarbeitung der europäischen Überwachungssysteme für Toxine in Nahrungsmitteln sowie der einschlägigen Gesetzgebung [3]. Im Folgenden werden die häufigsten sowie neu auftretende Toxingruppen beschrieben.

Lähmungen hervorrufende Neurotoxine

Bei der Gruppe der Saxitoxine (Paralytic-shellfish-poisoning[PSP]-Toxine) handelt es sich um Alkaloide (Abb. 2a), die von Dinoflagellaten der Gattungen Alexandrium (Abb. 1a,b), Gymnodinium oder Pyrodinium oder von bestimmten Zyanobakterien produziert werden. Diese Toxine reichern sich in Muscheln, in Muscheln verzehrenden Krebsen oder in bestimmten Fischen an. PSP-Toxine sind Neurotoxine, die die Natriumkanäle des Nervensystems blockieren und somit äußerst rasch wirken (10–15 min nach dem Verzehr kontaminierter Meeresfrüchte). Erste Symptome sind Reizungen der Oralgewebe, Verdauungsstörungen, Muskelkrämpfe und schließlich eine Lähmung des Nervensystems. Starke Dosen führen durch Asphyxie (altgriechisch für Aufhören des Pulsschlags) infolge der Lähmung des Brustkorbs binnen einer Viertelstunde nach dem Verzehr zum Tod des Patienten. Falls der Patient überlebt, treten keine Folgewirkungen auf. Die Familie der PSP-Toxine ruft die schwerwiegendsten akuten Symptome hervor. Solche Intoxikationen ereignen sich weltweit, treten jedoch dank der eingerichteten Überwachungssysteme in Europa selten auf. Dinoflagellaten und deren Toxine kommen gelegentlich an allen europäischen Atlantik- und Mittelmeerküsten vor. Während die geschichtlich ältesten dokumentierten Vorkommen in Deutschland auf das Jahr 1885 zurückgeführt werden können [4], sind Vorfälle in anderen Ländern bereits im 18. Jahrhundert erwähnt worden [5]. Interessanterweise stammt die erste Erwähnung aus Vancouver an der Westküste Kanadas, aus einer Gegend, in der auch heutzutage sehr verstärkt und häufig Dinoflagellaten auftreten.

Abb. 1
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ab Alexandrium minutum, a lebende Zelle, b fixierte Zelle im Rasterelektronenmikroskop; cd Dinophysis acuminata, c lebende Zelle, d fixierte Zelle im Rasterelektronenmikroskop; ef Pseudo-nitzschia australis, e lebende Zellen einer Kette, f Detail einer Zelle im Rasterelektronenmikroskop; Maßstab: ab 10 µm, cf 20 µm; ace Lichtmikroskopaufnahmen, bdf Rasterelektronenmikroskopaufnahmen (Mit freundl. Genehmigung © Ifremer/E. Nézan, N. Chomérat)

Abb. 2
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Chemische Strukturen von marinen Biotoxinen. a Saxitoxin (paralytisch), b Tetrodotoxin (paralytisch) und c Domoinsäure (amnesisch) sind relative kleine, wasserlösliche Moleküle; d Okadasäure, e Azaspirosäure sind Durchfall hervorrufende Toxine von intermediärer Polarität; f Ciguatoxin und g Brevetoxin B sind Neurotoxine und sehr fettliebend

Eine weitere Toxinfamilie, die Tetrodotoxine (Abb. 2b), ist bakteriellen Ursprungs (z. B. Vibrionen, Pseudomonas spp. u. a.), folgt jedoch demselben Wirkmechanismus wie PSP-Toxine. Tetrodotoxine reichern sich vornehmlich in Kugelfischen (japanisch „fugu“) an.

Weitere Neurotoxine

Bei Ciguatera handelt es sich um eine Erkrankung, die durch Vergiftung mit Fischfleisch entsteht, das mit den Stoffwechselprodukten von Dinoflagellaten der Gattung Gambierdiscus kontaminiert ist. Die Dinoflagellaten werden von den in Korallenriffen heimischen Fischen aufgenommen, die ihrerseits die Beute von Raubfischen bilden. Ciguatera kommt vornehmlich in tropischen Gebieten vor. Die am meisten betroffenen Regionen sind das französische Polynesien (Südpazifik), Zentralasien (Thailand, Philippinen, Malaysia) bis nach Hawaii (tropische Pazifik) und in geringerem Umfang die Karibik und der Indische Ozean. Importierte Fische aus diesen Gebieten führen inzwischen auch vermehrt zu Vergiftungen in Europa, auch deutsche Verbraucher waren bereits davon betroffen [6]. Über das letzte Jahrzehnt hinweg sind solche Vergiftungen jedoch auch von den Kanarischen Inseln gemeldet worden [7]. Die beteiligten Toxine gehören zur Familie der Ciguatoxine (Abb. 2) und der Maitotoxine. Als Symptome treten vornehmlich Verdauungsbeschwerden auf, die rasch von neurologischen Störungen der Gliedmaßen begleitet werden (Schmerzen, Reizungen, Umkehr der Warm-Kalt-Empfindung). Im Gegensatz zum Wirkmechanismus der PSP-Toxine, der auf der Blockade der Natriumkanäle beruht, wirken Ciguatoxine durch Öffnung der Natriumkanäle. Außerdem können die Symptome der Ciguatera nach der ersten Aufnahme über Jahre hinweg andauern und sich infolge von erneuten Intoxikationen verschlimmern, während dies bei den PSP-Toxinen nicht der Fall ist. Mit mehreren tausend Fällen jährlich ist Ciguatera die häufigste nichtbakterielle Intoxikation. Ciguatoxine gehören zu den giftigsten Substanzen: Konzentrationen im Fischgewebe im Bereich von 0,1 µg/kg können bereits zur Intoxikation führen.

Eine weitere, chemisch mit den Ciguatoxinen verwandte Familie von Neurotoxinen sind die Brevetoxine (Abb. 2), die von dem Dinoflagellaten Karenia brevis produziert werden. Sie stellen ein Problem in den USA, insbesondere im Golf von Mexiko, dar. Diese Toxine gehören zu der seltenen Toxingruppe, die den Menschen auf 2 verschiedenen Expositionswegen erreichen kann: durch Verzehr und über die Exposition mit Meeresluft.

Amnesie hervorrufende Toxine

Die Domoinsäure (Abb. 2) zählt zu den zyklischen Aminosäuren und ist die Wirksubstanz der Makroalge Chondria armata (japanisch „domoï“). Domoinsäure wird aber auch von Kieselalgen (einzellige Mikroalgen) der Gattung Pseudo-nitzschia produziert (Abb. 1e,f). Im Jahr 1987 erlitten in Kanada mehr als 100 Menschen eine Vergiftung nach dem Verzehr von Muscheln, die durch Kieselalgen stark kontaminiert waren. Seitdem wurden Pseudo-nitzschia und Domoinsäure in sämtlichen gemäßigten Zonen der 3 großen Ozeane gefunden. Die Zahl der Intoxikationen blieb jedoch gering, da die zum Auslösen von akuten Beschwerden erforderliche, in mg/kg Muschelfleisch gemessene Konzentration hier viel höher ist, als bei zahlreichen anderen Toxinen. Domoinsäure verursacht in hohen Dosen irreversible Wirkungen durch dauerhaften Verlust des Kurzzeitgedächtnisses (daher die Bezeichnung amnesiogenes Toxin).

Durchfall hervorrufende Toxine

Azaspirosäuren (AZA) und Okadasäuren (OA) rufen einige Stunden nach dem Verzehr von kontaminierten Muscheln Gastroenteritis hervor (Magen-Darm-Entzündungen; Abb. 2). Im Zusammenhang mit diesen Toxinen wurde bisher weder von Mortalität noch von Langzeitwirkungen berichtet.

AZA sind Produkte von Dinoflagellaten der Gattungen Azadinium und Amphidoma. Sie wurden im Jahr 1995 nach Intoxikationen durch in Irland produzierte Muscheln entdeckt. Intoxikationen durch Durchfall hervorrufende Toxine sind weltweit einschließlich in Europa verbreitet.

OA werden von Dinoflagellaten der Gattungen Dinophysis und Prorocentrum produziert, z. B. Dinophysis acuminata (Abb. 1c,d). Anfang der 1980er-Jahre erkrankten z. B. in Frankreich Tausende von Menschen nach dem Verzehr von kontaminierten Muscheln. Im Jahr 1984 wurde ein Überwachungssystem eingeführt, dass die jährliche Zahl derartiger Vergiftungsfälle auf etwa 50 Haushalte senkte.

Neu auftretende Toxine

Neben den oben aufgeführten Toxinen gibt es zahlreiche weitere Toxine und toxinproduzierende marine Organismen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurden weltweit 174 Spezies gesundheitsschädlicher Organismen aufgeführt, von denen 100 Spezies für den Menschen gefährlich sind [8]. Des Weiteren wurden die ökologischen Ursachen und die anthropogenen Belastungen untersucht, welche die in den vergangenen 30 Jahren beobachteten Veränderungen im Auftreten der Planktonblüten, d. h. sowohl Ausmaß als auch Häufigkeit, hervorrufen können. Dabei wurde eine starke Wachstumsrate für bestimmte Organismen in bestimmten Regionen festgestellt. So ermöglichen über mehrere Jahrzehnte erhobene Datenreihen die Bewertung der Zunahme des Ausmaßes und der Häufigkeit von Planktonblüten der Dinoflagellaten-Art Karenia brevis (Produzentin von Neurotoxinen vom Typ Brevetoxine) in Florida sowie eine geographische Ausdehnung des Auftretens dieser Organismen an den Atlantikküsten der USA. Der starke, auf dem Seeweg abgewickelte Güterverkehr auf globaler Ebene führt ebenfalls zum Eintrag von Mikroorganismen in europäische Gewässer und erhöht auf diese Weise im Zusammenwirken mit klimatischen Veränderungen die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens neuartiger Toxine in unserer Nahrung.

Schließlich treten außerdem auch Intoxikationen auf, deren ursächliche Toxine noch zu erforschen sind. Dies trifft insbesondere auf mehrfach in Madagaskar beobachtete Intoxikationen durch Haifischfleisch zu. Eine unlängst durchgeführte Risikobewertung stellt die Kenntnisse über derartige, zwar seltene, jedoch tödliche Intoxikationen zusammen [9]. Ein teilweise von European Food Safety Authority (EFSA) finanziertes europäisches Projekt namens EuroCigua soll die neuerdings auf den Kanarischen Inseln und den Azoren auftretenden Vergiftungen in Verbindung mit Toxinen vom Typ Ciguatera erforschen.