Die Mutter aller Pandemien

Derzeit ist es unmöglich, den Schlagzeilen über das Corona-Virus SARS-CoV‑2 zu entgehen. Aktuell dreht sich alles um die Atemwegserkrankung COVID-19, die sich seit Januar 2020 innerhalb von Wochen aus China global ausgebreitet hat. Seit dem 11. März 2020 spricht die WHO von einer Pandemie, SARS-CoV‑2 war zu diesem Zeitpunkt in 114 Ländern nachgewiesen worden (WHO 2020). Es handelt sich um die erste Pandemie seit der Schweinegrippe 2009/2010. Zudem ist SARS-CoV‑2 eines der wenigen Viren, das überhaupt pandemisches Potential besitzt.

Die WHO definiert den Begriff „Pandemie“ als die interkontinentale Ausbreitung eines neuartigen Virus, welches mangels vorhandener Resistenzen ein hohes Risiko für die Weltbevölkerung darstellt (WHO 2005). Der Begriff der Pandemie ist nur wenige Jahrzehnte alt und wird seit den 1970er Jahren benutzt – zunächst ausschließlich für eine weltweite Ausbreitung der Influenza. Die Influenza wird häufig als eine harmlose Erkältungskrankheit abgetan. Allerdings kann das Influenza-Virus tödliche Symptome hervorrufen. Dies ist im 20. Jahrhundert drei Mal erfolgt: während der Spanischen Grippe 1918–1920, bei der Asien-Grippe 1957/1958 und durch die Hongkong-Grippe 1968–1970. Insbesondere die Spanische Grippe besitzt den Ruf der „Mutter aller Pandemien“ (Taubenberger & Morens 2006) und einer „pandemischen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, sind ihr doch nach neueren Schätzungen 50 bis 100 Millionen Menschen zum Opfer gefallen (Johnson & Müller 2002). Die Pandemien von 1957/1958 und 1968–1970 blieben mit jeweils 1–2 Millionen Todesopfern deutlich hinter der Spanischen Grippe zurück (Haas 2009: 14; Hannoun & Craddock 2010: 182) Durch die Wandlungsfähigkeit des Virus und die immer wieder neu erfolgte historische Bewertung wird die Influenza zu einem interessanten medizinhistorischen und risikosoziologischen Diskursgegenstand.

Vom geduldigen Ausharren …

Die westdeutschen Behörden ignorierten die Asien-Grippe und die Hongkong-Grippe. Trotz etwa 50.000 Todesfällen wurden auf Surveillance und Impfung weitgehend verzichtet. Anfragen von verunsicherten Bürger*innen und Ärzt*innen an das Bundesgesundheitsamt wurden brüsk abgewiesen. Der Tenor der Behörden lautete: Es gibt keine Pandemie.Footnote 1 Dafür können verschiedene Ursachen ausgemacht werden. Zum einen stellte der Föderalismus die Verantwortlichen vor Herausforderungen, da die Abwehr von Infektionen in der Hand der Bundesländer lag und das Bundesgesundheitsamt bei der Ermittlung von Infektionen die Länder angewiesen war (Rengeling 2017: 214). Zum anderen gab es einen bemerkenswerten Dissens zwischen Behördenmitarbeitern, welche nur positive Virusnachweise als Evidenz für die Pandemie gelten ließen, sowie Epidemiologen und Ärzten, die sich auf demographische Auffälligkeiten und eine daraus ableitbare Übersterblichkeit beriefen. Während der gesamten Hongkong-Grippe gab es nur 200 Todesfälle mit positivem Virusnachweis (Rengeling 2017: 417). Ein dritter Punkt ist, dass sich die Behörden im Falle einer manifesten Pandemie positiv zu Impfungen hätten äußern müssen. Bei Impfschäden wären die Länder unter Umständen entschädigungspflichtig gewesen.Footnote 2

In der Bundesrepublik Deutschland blieb es daher bei einem „geduldigen Ausharren“, das sich trotz zahlreicher Todesfälle auf Behörden, Parlamente und die Regierung erstreckte. In der DDR wurde in den 1970er Jahren das Ziel definiert, Impfstoffe für 30 Prozent der Bevölkerung bereitzustellen, um eine Herdenimmunität zu erzeugen, welche die Ausbreitung effektiv unterbrechen sollte. Der Ausbau der Impfstoffproduktion schaffte es sogar in den Fünfjahresplan 1976–1980.Footnote 3 Zudem erließ die DDR ein „Führungsdokument“ zur Influenza-Bekämpfung und definierte Jahrzehnte vor der WHO, was eine Epidemie bzw. Pandemie ausmacht: Das Virus muss international zirkulieren, und die Anzahl der Krankheitsfälle muss sprunghaft um den Faktor drei bis vier zunehmen.Footnote 4 Wohlgemerkt – es geht um eine statistische Feststellung und nicht um den Virusnachweis. Der Ausbau der Produktionskapazitäten in den Sächsischen Serumwerken Dresden (VEB SSW) konnte bis zum Ende der DDR nicht erreicht werden, wodurch man sich auch in der DDR mit einem „geduldigen Ausharren“ zufriedengeben musste (Rengeling 2017: 289). Als Ironie bleibt bestehen, dass die Firma GlaxoSmithKline 2009/2010 auf dem ehemaligen Gelände des VEB SSW Vakzine gegen die Schweingrippe herstellte.

… zur allumfassenden Prävention

Ab den 1970er Jahren veränderte sich der Erinnerungsdiskurs zur Spanischen Grippe, was wiederum Folgen für die Risikoeinschätzung zur Influenza hatte. Dazu trugen nicht nur entsprechende Monographien bei (Collier 1974; Crosby 1989), sondern auch die erste nationale Impfkampagne gegen die Influenza in den USA. Dort wurde 1976 ein neues Virus entdeckt, dem man pandemisches Potential attestierte. Zudem war die Spanische Grippe in den USA mangels Zensur im Ersten Weltkrieg und aufgrund der ca. 675.000 Todesopfer deutlich im Kollektiven Gedächtnis verhaftet geblieben. Daher wurde von US-Präsident Gerald Ford im Konsens mit seinen wissenschaftlichen Beratern eine beispiellose Impfkampagne mit dem Ziel der vollständigen Vakzinierung der Bevölkerung veranlasst. Insgesamt wurden 150 Millionen Impfungen durchgeführt. Die Pandemie blieb aus, dafür traten Impfschäden auf, deren Genese bis heute nicht abschließend geklärt werden konnte.Footnote 5

Nach 1976 rückte die Influenza in den Hintergrund. 2005 gelang es einem Team um den renommierten Virologen Jeffrey K. Taubenberger, den Erreger der Spanischen Grippe zu rekonstruieren. Taubenberger nutzte dafür unter anderem Material von Opfern der Spanischen Grippe aus dem Permafrostboden Alaskas. Das rekonstruierte Virus wirkte tödlich auf alle Labortiere, welche ihm ausgesetzt wurden. Der eigentlich neue Befund lag jedoch darin, dass das Virus aviären Ursprungs war, also genetisches Material von Influenza-Viren aus Vögeln und Menschen besaß. Diese Befunde wurden prominent in den Zeitschriften Science und Nature platziert und diskutiert (Taubenberger et al. 2005). Im Jahre 1997 trat zudem ein neues Virus in Hongkong vom Typ H5N1 auf. Dieses Virus war aviären Ursprungs und erreichte bei Menschen eine Letalität von über 50 Prozent. Zum Glück verbreitete sich das Virus kaum, und auch der SARS-Ausbruch in China 2002/2003 blieb eine epidemische Episode. Die Aufmerksamkeit in der Wissenschaft nahm in Folge dieser Befunde stark zu. 2003 veröffentlichten die US-Forscher Richard Webby und Robert Webster einen Aufsehen erregenden Artikel mit dem Titel „Are we ready for pandemic influenza?“ Dieser erinnerte an frühere Pandemien und wies auf das große Risiko durch mutierte Viren hin (Webby & Webster 2003). Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen vervielfältigten sich. Blieb die Anzahl der bei „PubMed“ gemeldeten Publikationen zum Thema Influenza-Pandemien bis in das Jahr 2000 durchweg unter 40 pro Jahr, so erreichten sie 2011 einen Spitzenwert von 2.209 (Rengeling 2017: 42). Worst-Case-Szenarien gingen im Falle einer neuen Pandemie von bis zu einer Milliarde Todesopfer aus (Davis 2005: 108–110).

Mit dem Memorieren der Spanischen Grippe setzte sich Schritt für Schritt eine „allumfassende Prävention“ durch, so zum Beispiel im Nationalen Pandemieplan von 2007. Eine Pandemie wurde von den Behörden als Großschadensereignis klassifiziert (RKI 2007: 2). Als sich im Frühjahr 2009 das sogenannte Schweinegrippe-Influenzavirus global ausbreitete, schien der Ernstfall gekommen. Nun sollte der gesamten deutschen Bevölkerung die Möglichkeit der Vakzinierung gegeben werden. Ursprünglich waren sogar 160 Millionen Impfdosen für eine Zweifachimpfung eingeplant (Rengeling 2017: 507). Zudem wurden weltweit etwa acht Milliarden US-Dollar für das antivirale Medikament Tamiflu ausgegeben (Zylka-Menhorn 2014: A665). Indes blieb das Großschadensereignis aus: In der Bundesrepublik Deutschland verstarben etwa 250 Personen, allerdings waren viele zusätzliche Arztbesuche zu verzeichnen. Die Debatte verlagerte sich im Herbst 2009 in Richtung Impfrisiko; insbesondere der Einsatz von Impfstoffverstärkern war umstritten (Rengeling 2017: 388). Die „allumfassende Prävention“ erschöpfte sich während der Schweinegrippe 2009/2010 jedoch in einer Bereitstellung von Vakzinen und antiviralen Medikamenten für einen Großteil der Bevölkerung. Quarantänen gab es in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik nur in Einzelfällen, beispielsweise während eines Pockenausbruchs in Meschede 1970 (Anonym 1970: 84). Die Schließung von Schulen und Betrieben kam vor, war jedoch reaktiv geprägt – das heißt, durch hohen Krankenstand und nicht als vorbeugende Maßnahme. Mit der Bereitstellung von Vakzinen und Medikamenten schien das Ende der Skala einer „allumfassenden Prävention“ erreicht.

Über die allumfassende Prävention hinaus

So wie die Influenza, wird auch das seit den 1960er Jahren bekannte Corona-Virus vielfach mit Erkältungserkrankungen assoziiert. Allerdings gab es in den Jahren 2002/2003 mit SARS und im Jahre 2012 mit MERS bereits Epidemien von mutierten Corona-Viren, die in der Lage sind, tödliche Lungenentzündungen hervorzurufen. Die globale Ausbreitung des Virus SARS-CoV‑2 ist beunruhigend. Innerhalb von nur vier Monaten gab es weltweit über eine Million bestätigte Infektionen und 58.620 Todesfälle (Stand 5. April 2020). Die Dunkelziffer ist womöglich noch höher. Gerade die exponentielle Zunahme der Erkrankungen und Todesfälle durch SARS-CoV‑2 gibt Anlass zur Sorge. Die Ausbreitung der Pandemie ist für alle Menschen mit Internetanschluss in Echtzeit beobachtbar, auch Verschwörungstheorien fassen wieder Fuß. Umso wichtiger ist eine angemessene Risikokommunikation, die verständlich informiert ohne Panik zu schüren. Im Zeitalter der sozialen Medien ist dies alles andere als einfach.

Die Maßnahmen der Regierungen erreichen ein bisher unbekanntes Ausmaß und gehen deutlich weiter, als das während der letzten Pandemie von 2009/2010 auch nur vorstellbar gewesen wäre: Quarantänen ganzer Regionen, Grenzschließungen, Versammlungs‑, Bewegungs- und Berufsverbote sowie das Herunterfahren des gesamten öffentlichen Lebens sind in dieser globalen Dimension und Gleichzeitigkeit ein Novum. Die Maßnahmen greifen tief in die verbrieften Rechte vieler Bürgerinnen und Bürger ein. Die „allumfassende Prävention“ wird durch eine maximale Einschränkung der Bewegungsfreiheit neu definiert – es handelt sich im Prinzip um eine hochskalierte Quarantäne. Wir befinden uns in einem gigantischen Realexperiment mit unklaren ökonomischen, sozialen, politischen und gesundheitlichen Konsequenzen. Für die Entscheidung zu einem solchen Schritt können vier Ursachen ausgemacht werden. Es gibt gegen das Virus SARS-CoV‑2 keine Vakzine, es gibt keine Virostatika, es gibt keine historischen Erfahrungen und auch keine zuverlässigen epidemiologischen Daten zur Persistenz des Virus in der Globalbevölkerung. Somit ist die SARS-CoV-2-Pandemie von erheblichen Unsicherheiten geprägt, die zum schnellen und umfangreichen Handeln nötigen. Auch 2009 blieb die Pandemie trotz frühzeitiger Entschlüsselung des verantwortlichen Virus eine black box, der weitere Verlauf war unklar (Rengeling 2017: 412). Ärzte in den USA greifen aktuell sogar wieder auf das Erfahrungswissen von 1918 zurück (Landler & Castle 2020).

Letzten Endes sind es die globale Beschleunigung, die Zerstörung ökologischer Nischen und das exzessive Wirtschaften wie die Massentierhaltung, welche die Mutation des Corona-Virus befördert hat. Es bleibt zu hoffen, dass aus einer temporären Entschleunigung zum Wohl von Natur und Mensch Lehren gezogen werden.