Zusammenfassung
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1.
Unter der Bezeichnung „konzentrische Sklerose“ werden 2 eigene Beobachtungen und 4 Fälle aus der Literatur, die wir meist mehr oder weniger genau nachuntersuchen konnten, zusammengefaßt. Die Krankheitsform ist identisch mit der Leukoencephalitis concentrica vonBaló. Sie bildet mit der multiplen und diffusen Sklerose eine große Gruppe innerhalb der mit Entmarkung einhergehenden Krankheitsprozesse.
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2.
Das klinische Bild der konzentrischen Sklerose unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der diffusen Sklerose.
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3.
Anatomisch ist die konzentrische Sklerose ausgezeichnet durch Herde im Großhirnmark, in denen konzentrisch angeordnete Entmarkungsstreifen mit erhaltenen Markzonen abwechseln. Durch serienmäßige Untersuchungen ließ sich als Zentrum ein Entmarkungsfleck um ein Gefäß herum feststellen. Histologisch haben die Entmarkungsstreifen dieselbe Struktur wie die Herde der multiplen und der diffusen Sklerose. Die innersten Streifen zeigen die Veränderungen in der ältesten Phase, die äußersten im frischesten Stadium.
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4.
Zur Erklärung des Phänomens der konzentrischen Anordnung der Herde wird angenommen, daß ein myelinschädigender Stoff („lecitholytisches Ferment“Marburgs) an einer Stelle eines Gefäßes die Blut-Hirnschranke durchbricht und von da aus langsam in die Hirnsubstanz ohne Rücksicht auf Gewebsstrukturen hineindiffundiert. Daß im Gehirn Diffusionsvorgänge ähnlich wie in strukturloser Gelatine vor sich gehen können, geht schon aus den vitalen Trypanblauexperimenten vonSpatz hervor.Beim Zustandekommen der konzentrischen Sklerose hat die Diffusion des myelinschädigenden Stoffes rhythmischen Charakter, wie beim Zustande-kommen der Liesegangschen Ringe. Der Vergleich mit den Liesegangschen Ringen kann bis in die Einzelheiten durchgeführt werden, wenn man annimmt, daß in den Markzonen zwischen den entmarkten Streifen eine Reaktion zwischen der Noxe und Antikörpern des Gewebes erfolgt, und wenn man diese der Niederschlagsbildung beim Zustandekommen der Liesegangschen Ringe analog setzt.
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5.
Wie an einzelnen Beispielen gezeigt wird, finden sich Andeutungen von geschichteter Entmarkung nicht so selten bei gewöhnlichen Fällen von multipler und diffuser Sklerose, ebenso wie umgekehrt bei der konzentrischen Sklerose Herde von Art der multiplen oder der diffusen Sklerose vorkommen. Es besteht engste Verwandtschaft zwischen diesen 3 Formen der „Sklerose“.
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6.
Wenn bei der konzentrischen Sklerose besondere Bedingungen zum Spezialfall der rhythmischen Diffusion führen, so muβ man bei der multiplen und diffusen Sklerose einfache Diffusionen eines myelinschädigenden Stoffes annehmen. Bei der multiplen Sklerose überwiegt eine Diffusion von den Blutgefäßen aus, bei der diffusen Sklerose steht eine Diffusion von den Ventrikeln (vom inneren Liquor) her im Vordergrund. Über die Ätiologie wird damit nichts ausgesagt: der myelinschädigende Stoff könnte sowohl das Toxin eines Erregers als auch ein Stoffwechselprodukt (Ferment) sein.
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7.
Bei anderen Erkrankungen, die mit Entmarkung einhergehen, wie systematische und sekundäre Degeneration, gefäßabhängige Nekroseherde usw., kommen Diffusionsvorgänge dieser Art nicht in Betracht.
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8.
An dem Beispiel der konzentrischen Sklerose kann man besonders eindrucksvoll zeigen, daß im Gehirn eineAusbreitung von Stoffen möglich sein muß, bei der die vorhandenen Gewebsstrukturen als Wege keine Rolle spielen, sondern bei der sich das Organ wie eine Masse von einheitlicher kolloider Struktur verhält, wobei es erst sekundär zu Reaktionen der Gewebsbestandteile kommt.
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Hallervorden, J., Spatz, H. Über die konzentrische Sklerose und die physikalischchemischen Faktoren bei der Ausbreitung von Entmarkungsprozessen. Archiv f. Psychiatrie 98, 641–701 (1933). https://doi.org/10.1007/BF01814664
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